Ludolf von Sachsen - auch Ludolf der Kartäuser - (um 1300 — 1378)
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Deutscher Dominikanermönch und Autor von religiösen Schriften ,
der von 1343-1348 Prior der Koblenzer Kartause war und anschließend einfacher Mönch in Mainz und Straßburg war, wo er dann auch verstarb. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
1 Es ist für uns gleichsam ein
Spiegel
In allem, in den Tugenden und im vollkommenen Lebenswandel, steile dir immer
jenen klarsten aller Spiegel und jenes Vorbild aller Heiligkeit, nämlich
das Leben und den Lebenswandel des Sohnes Gottes, unseres Herrn Jesu Christi,
vor Augen. Er ist aus dem Grund vom Himmel herab zu uns gesandt worden, daß
er uns vorangeht auf dem Weg der Tugenden und uns sein Beispiel gibt, nämlich
das Gesetz des Lebens und der Lehre, der Zucht und Disziplin, und daß
er uns dazu erzieht, zu werden wie er selbst. Da wir ja von Natur aus ihm zum
Bilde und nach seinem Bild geschaffen sind, sollen wir auch — je nach
unseren Fähigkeiten und nach unseren Möglichkeiten — zur Nachvollziehung,
zum Nach-Leben seiner Tugenden geführt werden, wir, die wir sein Abbild
in uns durch Sünde verdunkelt und verdorben haben.
Aber in dem Maß, wie ein jeder sich anstrengt, ihm im Nachleben der Tugenden
gleich zu kommen, um so viel wird er im ewigen Vaterland in der Klarheit des
Ruhmes ihm näher sein, um so mehr wird dieser erstrahlen.
Durchlaufe also alle einzelnen Abschnitte des Lebens Christi; gehe in Gedanken
jede einzelne seiner Tugenden durch, damit du dich dann abmühst, beides
wie ein treuer und zuverlässiger Schiller nachzuvollziehen, so gut du es
kannst. Darum: in äußeren und inneren Nöten, Drangsalen und
Mühen gedenke der Feindseligkeiten und Widerwärtigkeiten, die Christus
ertragen hat; und wann auch immer du durch irgend etwas bedrückt wirst,
dann eile sofort zu ihm, dem treuen, milden Vater aller Armen und Angefochtenen,
so wie ein kleines Kind auf den Schoß seiner Mutter flieht. Eröffne
dich ihm ganz, vertraue dich ihm völlig an, wirf dich vor ihm nieder, ganz
so wie du bist, und er selbst wird jeden Sturm stillen und dich wieder aufrichten.
Du sollst nicht nur im Wachen nach dem Herrn Jesus dich hinwenden, nach ihm
dich ausstrecken, sondern auch dann, wenn du den Leib auf das Lager niederlegst
und den Kopf auf das Kissen zurücklehnst, dann soll das so geschehen wie
damals der heilige Johannes sich an die Brust Jesu zurück lehnte. Und so
gelehnt an die Brust Jesu sauge von seinem Überfluss, und du wirst
in seinem Frieden schlafen und dich ausruhen. Und überhaupt, in allen deinen
Worten und Taten, blicke stets auf das Vorbild Jesu, ob du fällst oder stehst, ob du sitzest oder liegst, ob du issest oder trinkst, ob du sprichst
oder schweigst, ob du allein bist oder in Gesellschaft anderer: je mehr du ihn
liebst und seine vertraute Freundschaft und sein Wohlgefallen und sein größeres
Vertrauen erstrebst, desto vollkommener wirst du in jeder Tugend sein. Und das
soll deine Weisheit und dein Studium, deine Bemühung sein: immer in irgendeiner
Weise über Jesus nachzudenken; von da her wirst du zum Nachleben seiner
aufgerufen, und daher wird dir erwirkt werden, daß
du ihn selbst liebst.
Darüber muss der Mensch nachdenken, nachsinnen. Und du wirst die Zeit
nutzbringend verbringen, wenn du mit guten und förderlichen, nämlich
mit göttlichen Studien beschäftigt bist, die um den Herrn Jesus kreisen.
So wirst du deine Gewohnheiten bessern und vervollkommnen und die Art deines
Lebens selbst: in allem, das du vollbringst und vollbringen mußt, blicke
immer auf ihn, den Spiegel und das Beispiel der Vollkommenheit. Je häufiger
und tiefer du dieser Betrachtung dich hingibst, desto inniger und fester wirst
du dir sein Beispiel freundschaftlich vertraut machen, desto leichter und schneller
wird er dir entgegeneilen und desto angenehmer und freudebringender werden diese
Betrachtungen dich kräftigen und stärken.
3 Maria wird dreifach angeklagt und
von Christus verteidigt
Es findet sich, daß Maria dreifach angeklagt worden ist: von den Pharisäern
wegen Anmaßung und Verwegenheit, weil nämlich die Sünderin den
zu Tisch liegenden Christus berührt hat; von den Juden wegen Verschwendung,
weil sie kostbare Salbe ausgegossen und Haupt und Füße des Herrn
gesalbt hat; von ihrer Schwester wegen Müßigganges, wie es hier dargelegt
ist.
Und überall hat Maria gleichsam duldend geschwiegen, und jedesmal hat Christus für sie geantwortet, und er hat sie entschuldigt. Er hat den Pharisäern
gesagt, daß die Tat Mariens nicht Anmaßung war, sondern Ehrerbietung
und Ergebenheit; und er bat auch den Juden und den anderen Jüngern gezeigt,
daß jenes Ausgießen der Salbe keine Verschwendung war, sondern fromme
Verehrung, und er hat auch der Schwester gezeigt, dass das Dasitzen Mariens
nicht Müßiggang war, sondern dass sie von besseren Beweggründen
erfüllt war.
Maria aber, die ganz in den Worten des Herrn ruhte und von wunderbarer Süßigkeit
gefangen war — bei dem Geschrei der Schwester wie aus einem Schlaf erwachend
—, fürchtete um ihre Ruhe, und das Gesicht zur Erde geneigt, war
sie ganz still, und die Anklage gegen sich, sie sei müßig, hat sie dem Richter übergeben; sie hat keine Entgegnungsrede vorgebracht,
sie hat die Anschuldigung wegen des Zuhörens weder zurückgewiesen
noch unterbrochen.
Und Jesus antwortete mit einer Entschuldigung Mariens; er sagte zu Martha: »Martha,
Martha«, — die Wiederholung des Namens ist entweder Zeichen
der Zuneigung oder ist ermahnender Absicht, damit sie aufmerksam zuhören
soll, »du bist erregt und um viele Dinge besorgt«,: du bist von
vielem ganz in Beschlag genommen. Die Arbeiten und Mühen des aktiven Lebens
führen zu Kummer und Sorgen und zu Zersplitterung des Geistes, und häufig
stürzen sie den Geist in völlige Verwirrung. Wenn du also mit Freude
leben willst, dann betreibe nicht zuviel! Weil du selbst nämlich in den
vielen Beschäftigungen weniger, geringer wirst.
»Denn eines ist notwendig«: nämlich Gott immerwährend
fest anhängen, so wie der Psalmist es sagt: »Eines erbitte ich vom
Herrn, dieses erflehe ich« [Ps. 27,4]. Nun, »Eines«, das meint
Gott selbst, der Einer ist und vor allen Dingen gesucht werden muß. Weiter:
»Eines«, das meint die Einheit des Geistes zu Gott hin. Der Geist
nämlich, der in betrachtendem, beschauenden Leben Gott fest anhängt,
der ist einfach, eben einer, ganz eines. Genauso wie im Gegensatz durch das
aktive Leben, durch die Hinwendung zu den Kreaturen, deren viele sind, die Seele
aufgeteilt und durch das Viele zerstört, aufgelöst wird.
Deshalb ist es notwendig, dass das Viele zu dem Einen hingelenkt, hingerichtet
werden muss, zu dem Einen, das allem vorgezogen werden muss.
4 Wodurch erkannt
werden muß: hat Maria das beste Teil erwählt?
Er hat aber hinzugefügt: «Maria
hat das beste Teil erwählt.« Er wollte gleichsam sagen:
Du hast keinen schlechten Part, jene aber hat den besseren! Man soll also sich
nicht beklagen über den Müßiggang der Schwester und darüber,
daß die besser ist, die ruhte, als die, die diente. — Aber, wenn
gesagt wird: »das beste Teil«, ob ihr solches zuteil werden wird
im ewigen Vaterland? — Aber, sie hat jene übergroße Fülle
der Süßigkeit und Lieblichkeit des ewigen Vaterlandes schon im voraus
gekostet, freilich noch nicht so, wie sie dies im Zukünftigen erfahren
wird.
Dennoch soll der Teil Marthas nicht getadelt werden, denn dieser ist ja an und
für sich gut; aber trotzdem wird der Teil Mariens gelobt, denn dieser ist
der beste, und es ist dem noch hinzugefügt: »er soll nicht von ihr
genommen werden«, nämlich das, was Maria erwählt hat, wird ihr
für immer bleiben. In diesem Leben fängt es an und wird gemehrt, im
anderen Leben aber wird es mehr als reichlich, es wird vollendet werden. Denn
jetzt sucht man wie durch einen Spiegel, im Rätsel, dann aber wird man
sehen von Angesicht zu Angesicht [1. Kor. 13,12]. Und das Feuer der Liebe, das
hier anfängt zu brennen — wenn der selbst es gesehen hat, der liebt
—, wird in Liebe mehr erglühen und brennen. Die Liebe nämlich
vergeht niemals, hört niemals auf [1. Kor, 13,8]; denn es ist eine und
dieselbe Liebe, hier und im ewigen Vaterland, die dauernd, ewig bleibt,
Das Feuer ist in Sion und der Schmelzofen in Jerusalem; ebenso ist die Beschauung
dieselbe hier und im ewigen Vaterland; aber hier ist die Freude des Geistes
nur halb, dort aber wird sie vollkommen sein.
Also die Beschauung wird nicht hinweggenommen, sie wird, wenn der Kampf dieses
gegenwärtigen Zeitalters fortgefegt, beendet ist, vollendet werden. Das
Aktive aber, das Tätigsein, genau wie der Glaube, werden irgendwann einmal
zur Neige gehen und hinweggenommen; denn im ewigen Vaterland werden Werke der
Liebe, in denen die Liebe selbst geübt wird, nicht mehr notwendig sein.
— Maria also, durch die Entschuldigung des Herrn entlastet, hat deshalb
sicherer gesessen und angenehmer geruht. Augustinus sagt hierzu: Der Herr hat
an Mariens Statt der Martha geantwortet und hat sich selbst zu ihrem Anwalt
gemacht, er, der als Richter angerufen worden war. Er hat auf den Vorwurf der
ihn Anrufenden geantwortet und die Beschuldigte verteidigt. Martha war darauf
bedacht, wie sie den Herrn speisen könnte; Maria aber war darauf bedacht,
wie sie vom Herrn gespeist würde. Von Martha wurde für den Herrn ein
Gastmahl bereitet, Maria aber wurde durch seine Gesellschaft, durch sein Da-Sein,
erfreut. Sie war nämlich von einer wunderbaren Süße und Freude
wie gefangen, die in der Tat mehr eine Freude des Geistes als des Bauches ist:
sie ist entschuldigt, sie sitzt sicherer. Der Herr hat also die Arbeit, das
Werk, nicht getadelt, sondern er hat vielmehr den Dienst unterschieden und genau
bezeichnet: das eine ist das Spekulative, das ist die Betrachtung, die Beschauung
Gottes, dem verdientermaßen alle Studien und Bemühungen der Tugenden
nach- und untergeordnet werden. Deshalb sagt Ambrosius: »Genau wie Maria,
so soll dich das Verlangen nach Weisheit treiben, das nämlich ist das größere
Werk, die vollkommenere Arbeit. Die Sorge um das Dienen soll dich nicht vom
Kennenlernen und Erkennen des himmlischen Wortes abhalten, abwenden, und du
sollst diejenigen nicht anklagen und als Müßiggänger verurteilen,
von denen du siehst, daß sie sich um die Weisheit bemühen. Denn Martha
wird ja nicht in ihrem guten Tun getadelt, sondern Maria wird vorgezogen, weil
sie den besseren Teil für sich erwählt hat. Jesus nämlich
hatte an vielem Überfluß und teilte freigebig viel aus, und deshalb
hat er sich sehr weise dem zugewandt, was das Vornehmste, Wesentliche ist und
hat es ausgewählt. Schließlich haben auch die Apostel es nicht für
das Beste erachtet, das Wort Gottes zu verlassen und bei Tisch zu dienen,«
— Soweit Ambrosius.
Deshalb ist der Teil Mariens,
die Muße der Betrachtung, dem Dienen Marthas vorgezogen worden: es
war würdiger; das meint, dem Umgang mit den Engeln näher, ähnlicher,
und daher sicherer und daher ruhiger und daher freudiger und daher ausdauernder,
weil es nicht von ihr genommen wird.
Sie war in der Tat gefährdeter wegen des Schmutzes und des Staubes, der
an den Füßen der aktiv Tätigen klebt und hängt; und sie
war mehr belastet wegen der Besorgnis und Inanspruchnahme; trotz allem war sie
dem Nächsten nützlicher, hilfreicher wegen der unterstützenden
Hilfe und Erbauung. Das aktive Leben aber, das ist die geistliche Würde
und die Predigt, also Dienen und Gemeindeleben. Wenn irgendwo vorgelesen wird,
dass das aktive Leben dem der Beschauung und Betrachtung vorzuziehen sei,
dann muss erkannt werden: das aktive Leben der Geistlichen und der Prediger,
sonst verläßt nämlich das aktive Leben die Betrachtung, und
es wird seinerseits von ihr verlassen.
Aus: Mystische Texte des Mittelalters
Ausgewählt und herausgegeben von Johanna Lanczkowski
Reclams Universalbibliothek Nr. 8456 (S. 294-295, 297-301)
© 1988 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlags