Konrad Lorenz (1903 - 1989)
Österreichischer Verhaltensforscher. Lorenz studierte in seiner Geburtsstadt Wien Medizin und Biologie. 1940 wurde er Professor für Humanpsychologie in Königsberg, 1949 gründete er in Altenberg (Österreich) das Institut für vergleichende Verhaltensforschung, 1951 wurde er an das Max–Planck-Institut berufen. Von 1961 – 1973 leitete er das Max-Planck-Institut für Verhaltenspsychologie in Seewiesen bei Starnberg. Konrad Lorenz begründete - ausgehend von seinen Studien an frei fliegenden Dohlen und Kolkraben - die Verhaltensforschung (Ethologie) als Bindeglied zwischen Human- und Tierpsychologie. 1973 erhielt er zusammen mit Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. »Das sogenannte Böse« ist in ethischer und philosophischer Hinsicht wohl sein reifstes Werk: ein epochaler Schlüsseltext der gegenwärtigen menschlichen Selbsterkenntnis. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Das sogenannte Böse
Ecce Homo
Bekenntnis zur Hoffnung
Krankheiten der Kultur
Das
sogenannte Böse
Ecce Homo
[...] Nach Kantischer Morallehre liefert die innere Gesetzmäßigkeit
der menschlichen Vernunft allein und auf sich gestellt den kategorischen
Imperativ als Antwort auf die verantwortliche Selbstbefragung. Kants Begriff
der Vernunft und des Verstandes sind keineswegs identisch. Für ihn ist
es selbstverständlich, daß ein Vernunftwesen unmöglich einem
anderen, gleichgearteten, Schaden zufügen wollen kann. Schon im Worte Vernunft
steckt etymologisch die Fähigkeit, sich »ins Benehmen« zu setzen,
mit anderen Worten, die Existenz gefühlsmäßig hochbewerteter
sozialer Beziehungen zwischen allen Vernunftwesen. Für Kant ist somit etwas
selbstverständlich und evident, was für den Verhaltensforscher einer
Erklärung bedarf, nämlich die Tatsache, daß ein Mensch einen
anderen nicht schädigen will. Dass der große Philosoph hier
etwas der Erklärung Bedürftiges als selbstverständlich hinnimmt,
ist zwar eine kleine Inkonsequenz in der großartigen Folge seiner Gedanken,
aber sie macht seine Lehre dem biologisch Denkenden annehmbarer. Sie stellt
die kleine Lücke dar, durch die sich das Gefühl, mit anderen Worten
die instinktive Motivation, in die sonst rein rationalen Schlußfolgerungen
seines bewunderungswürdigen Gedankenbaues einschleicht. Auch Kant glaubt
nicht, daß ein Mensch von irgendeiner Tat, zu der natürliche Neigung
ihn drängt, durch die rein verstandesmäßige Erkenntnis eines
logischen Widerspruchs in der Maxime seiner Handlung zurückgehalten werde.
Selbstverständlich ist ein gefühlsmäßiger Faktor notwendig,
um eine rein verstandesmäßige Erkenntnis in einen Imperativ oder
in ein Verbot zu verwandeln. Wenn wir aus unserem Erleben die gefühlsmäßigen
Wertempfindungen, wie etwa die für verschiedene Evolutionsstufen, wegdenken,
wenn für uns ein Mensch, ein Menschenleben und Menschlichkeit keine Werte
bedeuten, so bliebe der in sich restlos stimmige Apparat unseres Verstandes
ein leerlaufendes Räderwerk ohne Motor. Auf sich selbst gestellt, ist er
nur imstande, uns Mittel zur Erreichung sonstwie bestimmter Ziele an die Hand
zu geben, nicht aber, solche Ziele zu setzen oder uns Befehle zu erteilen. Wenn
wir Nihilisten vom Typus des Mephistopheles wären
und der Ansicht, »drum besser wär‘s,
dass nichts entstünde«, so wäre in der Maxime unseres
Handelns keinerlei verstandesmäßiger Widerspruch enthalten, wenn
wir auf den Auslöseknopf der Wasserstoffbombe drückten.
Erst die Wertempfindung, erst das Gefühl ist es, was
der Antwort, die wir auf die kategorische Selbstbefragung erhalten, das Vorzeichen
von plus und minus erteilt und sie zu einem Imperativ oder Verbot werden lässt.
Beides aber entspringt nicht der Vernunft, sondern dem Drang der Dunkelheit,
in die unser Bewußtsein nicht hinabreicht. In diesen, der menschlichen
Vernunft nur mittelbar zugänglichen Schichten bilden das Instinktive und
das Erlernte eine hochkomplizierte Organisation, die derjenigen höherer
Tiere nicht nur brüderlich verwandt, sondern ihr zu erheblichem Teil einfach
gleich ist. Nur dort ist sie von jener wesensverschieden, wo beim Menschen die
kulturmäßige Tradition in das Erlernte mit eingeht. Aus dem Gefüge
dieser fast ausschließlich im Unterbewußtsein sich abspielenden
Wechselwirkungen entspringt der Antrieb zu allen unseren Handlungen, auch zu
denjenigen, die am allerstärksten der Steuerung durch unsere selbstbefragende
Vernunft unterworfen sind. Ihm entspringen Liebe und Freundschaft, alle Wärme
des Gefühls, der Sinn für Schönheit, der Drang zu künstlerischem
Schaffen und zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Der alles sogenannten Tierischen
entkleidete, des Drangs der Dunkelheit beraubte Mensch, der Mensch als reines
Vernunftwesen wäre keineswegs ein Engel: er wäre weit eher das Gegenteil!
Es ist indessen nicht schwer, einzusehen, weshalb sich die Meinung durchsetzen
konnte, daß alles Gute, und nur das Gute, der menschlichen Gemeinschaft
Dienliche, der Moral zu danken sei und alle »egoistischen«, mit
den Anforderungen der Sozietät unvereinbaren Handlungsmotive des Menschen
den »tierischen« Instinkten entsprängen. Wenn man sich nämlich
Kants kategorische Frage stellt: »Kann ich die Maxime
meines Handelns zum Naturgesetz erheben, oder ergäbe sich bei diesem Versuch
etwas der Vernunft Widersprechendes?«, so erweisen sich alle Verhaltensweisen,
auch rein instinktive, als durchaus vernünftig, vorausgesetzt, daß
sie die arterhaltende Leistung vollbringen, zu der sie von den großen
Konstrukteuren des Artenwandels geschaffen wurden. Vernunftwidriges ergibt sich
nur bei der Fehlfunktion eines Instinktes. Sie aufzuspüren ist die Aufgabe
der kategorischen Frage, sie zu kompensieren, die des kategorischen Imperativs.
Instinkte, die richtig »im Sinne der Konstrukteure« funktionieren, vermag die Selbstbefragung nicht von Vernunftmäßigem
zu unterscheiden. Fragt man in einem solchen Falle: »Kann ich die Maxime
meines Handelns zum Naturgesetz erheben?«, so erhält man deshalb
eine deutlich bejahende Antwort, weil sie sowieso schon ein solches ist!
Ein Kind fällt ins Wasser, ein Mann springt ihm nach, zieht es heraus,
prüft die Maxime seines Handelns und findet, daß sie, zum Naturgesetz
erhoben, etwa folgendermaßen lauten würde: Wenn ein erwachsener Mann
von Homo sapiens L. ein Kind seiner Art in Lebensgefahr sieht, aus der er es
zu erretten imstande ist, so tut er dies. Enthält diese Abstraktion vernunftmäßige
Widersprüche? Ganz sicher nicht! So klopft sich der Retter innerlich auf
die Schulter und ist stolz darauf, so vernunftmäßig und moralisch
gehandelt zu haben. Hätte er das wirklich getan, so wäre das Kindchen
längst tief versunken gewesen, bevor er ins Wasser gesprungen wäre.
Dennoch hört der Mensch, woferne er unserem westlichen Kulturkreis angehört,
nur recht ungern, daß er rein instinktmäßig
gehandelt hat und daß jeder Pavian in analoger Lage zuverlässig dasselbe
getan hätte.
Die alte chinesische Weisheit, daß zwar alles Tier im Menschen, nicht
aber aller Mensch im Tiere steckt, besagt durchaus nicht, daß dieses »Tier
im Menschen« etwas von vornherein Böses, Verächtliches und nach
Möglichkeit Auszurottendes sei. Es gibt eine Reaktion des Menschen, die
besser als jede andere geeignet ist, zu demonstrieren, wie völlig unentbehrlich
eine eindeutig »tierische«, von den anthropoiden Ahnen ererbte Verhaltensweise
sein kann, und zwar für Handlungen, die nicht nur für spezifisch menschlich
und hochmoralisch gelten, sondern es tatsächlich sind. Diese Reaktion ist
die sogenannte Begeisterung. Schon das Wort, das die deutsche Sprache für
sie geschaffen hat, drückt aus, daß etwas sehr Hohes, spezifisch
Menschliches, nämlich der Geist, den Menschen beherrsche. Das
griechische Wort Enthusiasmus besagt gar, daß ein Gott von ihm Besitz
ergriffen habe. In Wirklichkeit aber ist es unser alter Freund und neuerer Feind,
die intraspezifische Aggression, die den Begeisterten beherrscht, und zwar in
Form einer uralten und keineswegs etwa sublimierten Reaktion der sozialen Verteidigung.
Sie wird dementsprechend mit geradezu reflexhafter Voraussagbarkeit durch solche
Außensituationen ausgelöst, die kämpferischen Einsatz für
soziale Belange erheischen, besonders für solche, die durch kulturelle
Tradition geheiligt sind. Sie können konkret durch die Familie, die Nation,
die Alma Mater oder den Sportverein repräsentiert sein oder durch abstrakte
Begriffe wie die alte Burschenherrlichkeit, die Unbestechlichkeit künstlerischen
Schaffens oder das Arbeitsethos induktiver Forschung. Ich nenne in einem Atem
Dinge, die mir selbst als Werte erscheinen, und solche, die unbegreiflicherweise
von anderen als solche empfunden werden, und zwar in der Absicht, den Mangel
an Selektivität zu illustrieren, der die Begeisterung gelegentlich so gefährlich
werden läßt.
Zu der Reiz-Situation, die Begeisterung optimal auslöst und die von Demagogen
zielbewußt hergestellt wird, gehört erstens Bedrohung der oben erwähnten
Werte. Der Feind oder die Feind-Attrappe kann fast beliebig gewählt werden
und, ähnlich wie die bedrohten Werte, konkret oder abstrakt sein. »Die«
Juden, Boches, Huns, Exploitatoren, Tyrannen usw. wirken genauso gut wie der
Weltkapitalismus, Bolschewismus, Faschismus, Imperialismus und viele andere
-ismen. Zweitens gehört zu der in Rede stehenden Reizsituation eine möglichst
mitreißende Führer-Figur, deren bekanntlich auch die am schärfsten
antifaschistischen Demagogen nicht entraten können, wie denn überhaupt
die Gleichheit der Methoden, die von den verschiedensten politischen Richtungen
angewandt werden, für die instinktive Natur der demagogisch ausnützbaren
menschlichen Begeisterungsreaktion spricht. Drittens, und als beinahe wichtigstes
Moment, gehört zu stärkster Auslösung der Begeisterung noch eine
möglichst große Zahl von Mit-Hingerissenen. Die Gesetzlichkeiten
der Begeisterung gleichen in diesem Punkt ganz denjenigen der im 8. Kapitel
geschilderten anonymen Scharbildung, bei der ja gleichfalls die mitreißende
Wirkung mit steigender Individuenzahl in wahrscheinlich geometrischer Progression
zunimmt.
Jeder einigermaßen gefühlsstarke Mann kennt das subjektive Erleben,
das mit der in Rede stehenden Reaktion einhergeht. Es besteht in erster Linie
in der als Begeisterung bekannten Gefühlsqualität; dabei läuft
einem ein »heiliger« Schauer über den
Rücken und, wie man bei genauer Beobachtung feststellt, auch über
die Außenseite der Arme. Man fühlt sich aus allen Bindungen der alltäglichen
Welt heraus- und emporgehoben, man ist bereit, alles liegen und stehen zu lassen,
um dem Rufe der heiligen Pflicht zu gehorchen. Alle Hindernisse, die
ihrer Erfüllung im Wege stehen, verlieren an Bedeutung und Wichtigkeit,
die instinktiven Hemmungen, Artgenossen zu schädigen und zu töten,
verlieren leider viel von ihrer Macht. Vernunftmäßige Erwägungen,
alle Kritik sowie die Gegengründe, die gegen das von der mitreißenden
Begeisterung diktierte Verhalten sprechen, werden dadurch zum Schweigen gebracht,
daß eine merkwürdige Umwertung aller Werte sie nicht nur haltlos,
sondern geradezu niedrig und entehrend erscheinen läßt. Kurz, wie
ein ukrainisches Sprichwort so wunderschön sagt: »Wenn
die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete!«
Diesem Erleben ist folgendes, objektiv beobachtbare Verhalten korreliert: der
Tonus der gesamten quergestreiften Muskulatur erhöht sich, die Körperhaltung
strafft sich, die Arme werden etwas seitlich angehoben und ein wenig nach innen
rotiert, so daß die Ellbogen etwas nach außen zeigen. Der Kopf wird
stolz angehoben, das Kinn vorgestreckt, und die Gesichtsmuskulatur bewirkt eine
ganz bestimmte Mimik, die wir alle aus dem Film als das »Heldengesicht«
kennen. Auf dem Rücken und entlang der Außenseite der Arme sträuben
sich die Körperhaare; eben dies ist die objektive Seite des sprichwörtlich
gewordenen »heiligen Schauers«.
An der Heiligkeit dieses Schauers sowie an der Geistigkeit der Begeisterung
wird derjenige zweifeln, der je die entsprechende Verhaltensweise eines Schimpansenmannes
gesehen hat, der mit beispiellosem Mute zur Verteidigung seiner Horde oder Familie
sich einsetzt. Auch er schiebt das Kinn vor, strafft seinen Körper und
hebt die Ellbogen ab, auch ihm sträuben sich die Haare, was eine gewaltige
und sicher einschüchternd wirkende Vergrößerung der Körperkonturen
bei Ansicht von vorne bewirkt. Die Innenrotation der Arme zielt ganz offensichtlich
darauf ab, ihre am längsten behaarte Seite nach außen zu kehren,
um so zu diesem Effekt beizutragen. Die ganze Kombination von Körperstellung
und Haaresträuben dient also genau wie bei der buckel-machenden Katze einem
»Bluff«, nämlich der Aufgabe, das Tier größer und
gefährlicher erscheinen zu lassen, als es tatsächlich ist. Unser »heiliger
Schauer« aber ist nichts anderes als das Sträuben unseres nur mehr
in Spuren vorhandenen Pelzes.
Was der Affe bei seiner sozialen Verteidigungsreaktion erlebt, wissen wir nicht,
wohl aber, daß er ebenso selbstlos und heldenhaft sein Leben aufs Spiel
setzt wie der begeisterte Mensch. An der echten stammesgeschichtlichen Homologie
der schimpanslichen Hordenverteidigungsreaktion und der menschlichen Begeisterung
ist nicht zu zweifeln, ja man kann sich recht gut vorstellen, wie eins aus dem
anderen hervorgegangen ist. Auch bei uns sind ja die Werte, für deren Verteidigung
wir uns begeistert einsetzen, primär sozialer Natur. Wenn wir uns an das
im Kapitel »Gewohnheit, Zeremonie und Zauber« Gesagte erinnern,
scheint es beinahe unausbleiblich, daß eine Reaktion, die ursprünglich
der Verteidigung der individuell bekannten, konkreten Sozietäts-Mitglieder
diente, mehr und mehr die über-individuellen, durch Tradition überlieferten
Kulturwerte unter ihren Schutz nahm, die dauerhafter sind als Gruppen von Einzelmenschen.
Ich empfinde es nicht als ernüchternd, sondern als eine tiefernste Mahnung
zur Selbstbesinnung, daß unser mutiges Eintreten für das, was uns
das Höchste scheint, auf homologen Nervenbahnen verläuft wie die sozialen
Verteidigungsreaktionen unserer anthropoiden Ahnen. Ein Mensch, der ihrer entbehrt,
ist ein Instinktkrüppel, den ich nicht zum Freunde haben möchte. Ein
solcher aber, der sich von ihrer blinden Reflexhaftigkeit hinreißen läßt,
ist eine Gefahr für die Menschheit, denn er ist ein leichtes Opfer für
jene Demagogen, die den Menschen kampfauslösende Reizsituationen ebensogut
vorzugaukeln verstehen wie wir Verhaltensphysiologen unserer Versuchstieren.
Wenn mich beim Hören alter Lieder, oder gar von Marschmusik, ein heiliger
Schauer überlaufen will, wehre ich der Verlockung, indem ich mir sage,
daß auch die Schimpansen schon, wenn sie sich zum sozialen Angriff aufstacheln
wollten, rhythmische Geräusche hervorbringen. Mitsingen heißt dem
Teufel den kleinen Finger reichen.
Die Begeisterung ist ein echter, autonomer Instinkt des Menschen, wie etwa das
Triumphgeschrei einer der Graugänse ist. Sie hat ihr eigenes Appetenzverhalten,
ihre eigenen Auslösemechanismen und stellt, wie jedermann aus eigener Erfahrung
weiß, ein so außerordentlich befriedigendes Erlebnis dar, daß
seine verlockende Wirkung schier unwiderstehlich ist. Wie das Triumphgeschrei
die soziale Struktur der Graugänse wesentlich beeinflußt, ja beherrscht,
so bestimmt auch der Trieb zum begeisterten kämpferischen Einsatz weitgehend
den gesellschaftlichen und politischen Aufbau der Menschheit. Diese ist nicht
kampfbereit und aggressiv, weil sie in Parteien zerfällt, die sich feindlich
gegenüberstehen, sondern sie ist in eben dieser Weise strukturiert, weil
dies die Reizsituation darstellt, die für das Abreagieren sozialer Aggression
erforderlich ist. »Sollte also eine Heilslehre«,
schreibt Erich von Holst, »wirklich einmal die ganze
Erde überziehen, so würde sie sogleich in mindestens zwei heftig befeindete
Auslegungen zerfallen (die eigene wahre und die andere ketzerische), und Feindschaft
und Kampf blühten weitet wie zuvor — weil die Menschheit leider so
ist, wie sie ist.«
Das ist der Januskopf des Menschen: Das Wesen, das allein imstande ist, sich
begeistert dem Dienste des Höchsten zu weihen, bedarf dazu einer verhaltensphysiologischen
Organisation, deren tierische Eigenschaften die Gefahr mit sich bringen, daß
es seine Brüder totschlägt, und zwar in der Überzeugung, dies
im Dienste eben dieses Höchsten tun zu müssen. Ecce homol
Bekenntnis
zur Hoffnung
[...] Die Funktion der Begeisterung gleicht in mehreren Hinsichten derjenigen
des Triumphgeschreis der Graugänse und analog entstandener Reaktionsweisen,
die aus der Wirkung eines starken sozialen Bandes zum Bundesgenossen und aus
Aggression gegen den Feind zusammengesetzt sind. Ich habe im 11. Kapitel dargestellt,
wie bei geringerer Differenziertheit jener Instinkthandlungen, etwa bei Buntbarschen
und Brandenten, die Feindfigur noch unentbehrlich ist, während sie auf
höherer Entwicklungsstufe, wie bei den Graugänsen, nicht mehr nötig
ist, um die Zusammengehörigkeit und das Zusammenwirken der Freunde aufrechtzuerhalten.
Ich möchte glauben und hoffen, daß die Begeisterungsreaktion des
Menschen gleiche Unabhängigkeit von der urtümlichen Aggression erlangt
hat oder doch zu erlangen im Begriffe ist.
Immerhin ist die Feind-Attrappe heute noch ein sehr wirksames Mittel des Demagogen,
um Einigung und begeistertes Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erzeugen,
immerhin sind militante Religionen stets die politisch erfolgreichsten gewesen.
Es ist also keine ganz leichte Aufgabe, die Begeisterung vieler Menschen für
die friedlichen Ideale ohne Benützung einer Feindattrappe ebenso stark
zu aktivieren, wie die Brandstifter es mit ihrer Hilfe zu tun vermögen.
Der naheliegende Gedanke, gewissermaßen den Teufel als Feindattrappe zu
benutzen und die Menschen auf »das Böse« schlechthin zu hetzen,
wäre selbst bei geistig hochstehenden Menschen bedenklich. Das Böse
ist ja per definitionem dasjenige, was das Gute, also das, was man als Wert
empfindet, in Gefahr bringt. Da nun für den Wissenschaftler Erkenntnisse
die höchsten aller Werte darstellen, sieht er die tiefsten aller Unwerte
in allem, was sich ihrer Verbreitung hindernd in den Weg stellt. Mir selbst
würden die bösen Einflüsterungen meines Aggressionstriebes daher
nahelegen, in den geisteswissenschaftlichen Verächtern der Naturforschung,
besonders in den Gegnern der Abstammungslehre, die Verkörperung des zu
bekämpfenden Prinzips zu sehen. Wenn ich nicht um die Physiologie der Begeisterungs-Reaktion
und die reflexähnliche Zwangsläufigkeit ihres Ansprechens wüßte,
wäre ich vielleicht in Gefahr, mich in einen Religionskrieg gegen jene
Meinungsgegner hineinhetzen zu lassen. Man wird also besser auf jede Personifizierung
des Bösen verzichten. Aber auch ohne sie kann die gruppenvereinigende Wirkung
der Begeisterung zur Feindschaft zwischen zwei Gruppen führen, dann nämlich,
wenn sich jede von ihnen für ein bestimmtes, scharf umschriebenes Ideal
einsetzt und sich nur mit ihm »identifiziert«, wobei ich dieses
Wort hier im herkömmlichen und nicht im psychoanalytischen Sinne gebrauche.
J. Hollo hat mit Recht darauf hingewiesen, daß in unserer Zeit nationale
Identifizierungen deshalb so gefährlich sind, weil sie so schaffe Grenzen
haben. Man kann sich »dem Russen« gegenüber »ganz als
Amerikaner« fühlen und vice versa. Wenn einer viele Werte kennt und
sich kraft seiner Begeisterung für sie mit allen Menschen eins fühlt,
die gleich ihm für Musik, Poesie, Naturschönheit, Wissenschaft und
vieles andere begeistert sind, kann er mit ungehemmten Kampfreaktionen nur auf
Menschen ansprechen, die an keiner dieser Gruppen teilhaben. Es gilt also, die
Zahl solcher Identifizierungen zu vermehren, und das kann nur durch eine Hebung
der allgemeinen Bildung der Jugend bewirkt werden. Liebevolle Beziehung zu Menschheitswerten
hat Lernen und Erziehung in Schule und Elternhaus zur Voraussetzung. Sie allein
machen den Menschen zum Menschen, und nicht ohne Grund nennt sich eine bestimmte
Art von Bildung humanistisch: Werte, die von Lebenskampf und Politik himmelweit
entfernt scheinen, können Rettung bringen. Dazu ist es nicht notwendig,
ja vielleicht nicht einmal wünschenswert, daß die Menschen verschiedener
Sozietäten, Nationen und Parteien dazu erzogen werden, den gleichen Idealen
nachzustreben. Schon ein bescheidenes Überlappen der Ansichten darüber,
was begeisternde und zu verteidigende Werte seien, kann Völkerhaß
vermindern und Segen stiften.
Diese Werte können im Einzelfall sehr spezieller Art sein. Ich bin z. B.
überzeugt, daß jene Männer, die beiderseits des großen
Vorhangs ihr Leben für das große Abenteuer der Weltraumeroberung
einsetzen, einander nur Hochachtung entgegenbringen. Ganz sicher billigt hier
jede Seite der anderen zu, daß sie für wirkliche Werte kämpft.
Ganz sicher stiftet der Raumflug in dieser Hinsicht großen Segen.
Es gibt aber noch zwei größere und im wahrsten Sinn des Wortes kollektive
Unternehmen der Menschheit, denen in einem um sehr viel weiter gespannten Rahmen
die Aufgabe zufällt, bisher beziehungslose oder feindliche Parteien oder
Nationen in gemeinsamer Begeisterung für die gleichen Werte zu vereinen.
Das sind die Kunst und die Wissenschaft. Beider Wert ist unbestritten, und selbst
den tollkühnsten Demagogen ist es bisher noch nie eingefallen, die gesamte
Kunst der Parteien oder Kulturen, gegen die sie hetzten, als wertlos oder »entartet«
zu bezeichnen. Die Musik und die bildenden Künste wirken außerdem
noch unbehindert durch sprachliche Schranken und sind schon deshalb dazu berufen,
den Menschen auf einer Seite eines Vorhanges zu sagen, daß auch auf der
anderen solche wohnen, die dem Guten und Schönen dienen. Eben um dieser
Aufgabe willen muß Kunst unpolitisch bleiben. Das maßlose Grauen,
das uns bei politisch tendenziös gesteuerter Kunst befällt, ist voll
berechtigt.
Wissenschaft hat mit Kunst das eine gemeinsam, daß sie wie diese einen
unbestrittenen, in sich gegründeten Wert darstellt, der unabhängig
von der Parteizugehörigkeit des sie betreibenden Menschen ist. Im Gegensatz
zur Kunst ist sie nicht unmittelbar allgemeinverständlich und vermag daher
eine Brücke gemeinsamer Begeisterung zunächst nur zwischen einigen
wenigen Individuen zu schlagen, zwischen diesen aber um so besser.
Über den relativen Wert von Kunstwerken kann man verschiedener Meinung
sein, obwohl auch hier Wahres und Falsches unterscheidbar ist. In der Naturwissenschaft
aber haben diese Worte eine engere Bedeutung. Nicht die Meinungsäußerung
von Individuen, sondern die Ergebnisse weiterer Forschung entscheiden, ob eine
Aussage wahr oder falsch ist.
Auf den ersten Blick scheint es aussichtslos, große Zahlen moderner Menschen
für den abstrakten Wert der wissenschaftlichen Wahrheit zu begeistern.
Sie scheint ein allzu weltfremder und blutleerer Begriff, um mit jenen Attrappen
in erfolgreichen Wettbewerb zu treten, die, wie die Fiktion einer Bedrohung
der eigenen Sozietät und eines sie bedrohenden Feindes, in den Händen
sachkundiger Demagogen bisher stets erfolgreiche Schlüssel zur Entfesselung
von Massenbegeisterung waren. Bei näherem Zusehen wird man an dieser pessimistischen
Meinung zweifeln. Die Wahrheit ist, im Gegensatz zu den genannten Attrappen,
keine Fiktion. Naturwissenschaft ist durchaus nichts anderes als der Gebrauch
des gesunden Menschenverstandes und alles andere als weltfremd. Es ist viel
leichter, die Wahrheit zu erzählen als ein Gewebe von Lügen zu spinnen,
das sich nicht durch innere Widersprüche als solches verrät. »Es
trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.«
Mehr als jedes andere Kulturgut ist die wissenschaftliche Wahrheit das kollektive
Eigentum der ganzen Menschheit. Sie ist es deshalb, weil sie nicht von Menschenhirnen
gemacht ist, wie die Kunst und die Philosophie ... Die wissenschaftliche Wahrheit
ist etwas, was Menschenhirne nicht erschaffen, sondern der umgebenden, außer-subjektiven
Wirklichkeit abgerungen haben. Weil diese Wirklichkeit für alle Menschen
dieselbe ist, kommt auch bei der Naturforschung auf allen Seiten aller politischen
Vorhänge in verläßlicher Übereinstimmung immer wieder dasselbe
heraus. Wenn ein Forscher — was unbewußt und völlig bona fide
geschehen kann — seine Ergebnisse auch nur im geringsten im Sinne seiner
politischen Überzeugung verfälscht, sagt die Wirklichkeit schlicht
nein dazu: Die betreffenden Resultate versagen beim Versuch der praktischen
Anwendung. Im Osten hat sich z. B. vorübergehend eine Schule der Erbforschung
entwickelt, die aus offensichtlich politischen und hoffentlich unbewußten
Motiven die Vererbung erworbener Eigenschaften behauptete. Für denjenigen,
der an die Einheit der wissenschaftlichen Wahrheit glaubt, war dies zutiefst
beunruhigend. Es ist still um diese Behauptung geworden, die Genetiker aller
Welt meinen wieder dasselbe. Es ist dies sicherlich nur ein kleiner Teilsieg,
aber ein Sieg der Wahrheit und damit Grund zu hoher Begeisterung.
Viele beklagen die Nüchternheit unserer Zeit und die tiefe Skepsis unserer
Jugend. Beides entspringt indessen, wie ich fest glaube und hoffe, einer an
sich gesunden Abwehr gegen gemachte Ideale, gegen begeisterung-auslösende
Attrappen, denen die Menschen, insbesondere die jungen, in letzter Zeit so gründlich
auf den Leim gegangen sind. Ich glaube, daß man gerade diese Nüchternheit
benutzen sollte, jene Wahrheiten zu predigen, die sich, wenn sie auf harten
Unglauben stoßen, durch Zahlen beweisen lassen, vor denen jede Skepsis
kapitulieren muß. Wissenschaft ist kein Mysterium und keine schwarze Magie,
sondern in einfacher Methodik lehrbar. Ich glaube, daß man gerade die
Nüchternen und Skeptischen für die nachweisbare Wahrheit und für
alles, was sie mit sich bringt, begeistern könnte.
Ganz gewiß kann man sich für die abstrakte Wahrheit begeistern, doch
ist sie immerhin ein etwas trockenes Ideal, und es ist gut, daß man zu
ihrer Verteidigung eine andere Verhaltensweise des Menschen heranziehen kann,
die alles andere als trocken ist — das Lachen. Es ist der Begeisterung
in mehrfacher Hinsicht ähnlich, sowohl in seiner Eigenschaft als Instinktverhalten
als in seiner stammesgeschichtlichen Herkunft aus der Aggression, vor allem
aber in seiner sozialen Funktion. Wie die Begeisterung für denselben Wert,
so schafft das Lachen über dieselbe Sache ein Gefühl brüderlicher
Zusammengehörigkeit. Zusammen lachen können ist nicht nur eine Voraussetzung
für wahre Freundschaft, sondern beinahe schon ein erster Schritt zu ihrer
Entstehung. Wie wir aus dem Kapitel >Gewohnheit, Zeremonie und Zauber<
wissen, ist das Lachen wahrscheinlich durch Ritualisierung aus einer neuorientierten
Drohbewegung entstanden, ganz wie das Triumphgeschrei der Gänse. Wie dieses
und wie auch die Begeisterung erzeugt das Lachen neben der Verbundenheit der
Teilnehmenden eine aggressive Spitze gegen Außenstehende. Wenn man nicht
mitlachen kann, fühlt man sich ausgeschlossen, selbst wenn das Gelächter
sich ganz und gar nicht gegen einen selbst oder überhaupt gegen irgend
etwas richtet. Wo das der Fall ist, wie beim Auslachen, wird der Gehalt an Aggression
und gleichzeitig die Analogie zu gewissen Formen des Triumphgeschreis noch deutlicher.
Und doch ist das Lachen in einem höheren Sinne als die Begeisterung spezifisch
menschlich. Es hat sich formal und funktionell höher über die Drohgebärde
hinausentwickelt, die in beiden Verhaltensweisen noch enthalten ist. Im Gegensatz
zur Begeisterung besteht auch bei den höchsten Intensitätsgraden des
Lachens nicht die Gefahr, daß die ursprüngliche Aggression durchbricht
und zum tätlichen Angriff führt. Hunde, welche bellen, beißen
immerhin manchmal, aber Menschen, welche lachen, schießen nie! Und wenn
auch die Motorik des Lachens spontaner und instinkthafter ist als die der Begeisterung,
so sind auf der anderen Seite die Mechanismen seiner Auslösung selektiver
und besser von der menschlichen Vernunft kontrollierbar. Lachen macht nie unkritisch.
Trotz aller dieser Eigenschaften ist das Lachen eine grausame Waffe, die bösen
Schaden stiften kann, wenn sie unverdientermaßen einen Wehrlosen trifft;
ein Kind auszulachen ist ein Verbrechen. Immerhin aber erlaubt die verlässliche
Herrschaft der Vernunft über das Gelächter, mit ihm etwas zu tun,
was mit der Begeisterung wegen ihrer Kritiklosigkeit und ihres tierischen Ernstes
höchst gefährlich wäre: man darf es bewußt und gezielt
auf einen Feind hetzen. Dieser Feind ist eine ganz bestimmte Form der Lüge.
Es gibt wenig auf dieser Welt, was so uneingeschränkt als böse und
vernichtenswert gelten darf, wie die Fiktion einer Sache, die künstlich
gemacht ist, um Verehrung und Begeisterung auszulösen, und es gibt wenig,
was so zwerchfellerschütternd komisch wirkt, wie ihre plötzliche Entlarvung.
Wenn gemachtes Pathos von seinen angemaßten Kothurnen jählings herabstürzt,
wenn der Ballon der Aufgeblasenheit unter dem Stich des Humors mit lautem Knall
platzt, so dürfen wir uns dem befreienden Gelächter ungehemmt hingeben,
was von dieser besonderen Art plötzlicher Entspannung so wundervoll ausgelöst
wird. Es ist eine der wenigen Instinkthandlungen des Menschen, die von der kategorischen
Selbstbefragung uneingeschränkt bejaht werden.
Der katholische Philosoph und Schriftsteller G. K. Chesterton hat die überraschende
Meinung ausgesprochen, die Religion der Zukunft werde sich zu erheblichem Teile
auf eine höher entwickelte, subtile Form des Humors gründen. Das mag
etwas überspitzt sein, aber ich glaube — um meinerseits ein Paradoxon
von mir zu geben —, daß wir heute den Humor noch nicht ernst genug
nehmen. Ich glaube, daß er eine Segensmacht ist, die der in der heutigen
Zeit schwer überforderten verantwortlichen Moral als starker Bundesgenosse
zur Seite steht. Ich glaube, daß diese Macht nicht nur in kultureller
Entwicklung, sondern auch stammesgeschichtlich im Wachsen ist.
Von der Darstellung dessen, was ich weiß, bin ich in stufenweisem Übergang
zur Schilderung dessen übergegangen, was ich für sehr stark wahrscheinlich
halte, und schließlich, auf den letzten Seiten, zum Bekenntnis dessen,
was ich glaube. Das ist auch dem Naturforscher erlaubt.
Ich glaube, kurz gesagt, an den Sieg der Wahrheit. Ich glaube, daß das
Wissen um die Natur und ihre Gesetze mehr und mehr zum Allgemeingut der Menschen
werden wird, ja ich bin überzeugt, daß es heute schon auf dem besten
Wege dazu ist. Ich glaube, daß zunehmendes Wissen den Menschen echte Ideale
geben und die ebenfalls zunehmende Macht des Humors ihnen helfen wird, unechte
zu verlachen. Ich glaube, daß beides zusammen schon hinreicht, um in wünschenswerter
Richtung Selektion zu treiben. Manche Eigenschaften des Mannes, die vom Paläolithikum
bis in die jüngste Vergangenheit als höchste Tugenden galten, manche
Wahlsprüche, wie »right or wrong, my country«, die eben noch
in hohem Maße begeisterungsauslösend wirkten, scheinen heute schon
jedem Denkenden gefährlich und jedem Humorbegabten komisch. Dies muß
günstig wirken! Wenn bei den Utes, diesem unglücklichsten aller Völker,
die Zuchtwahl binnen weniger Jahrhunderte eine verderbliche Hypertrophie des
Aggressionstriebes herbeigeführt hat, darf man ohne übertriebenem
Optimismus hoffen, daß er bei den Kulturmenschen unter der Wirkung dieser
neuen Art von Selektion auf ein erträgliches Maß zurückgehen
wird.
Ich glaube keineswegs, daß die großen Konstrukteure
des Artenwandels das Problem der Menschheit dadurch lösen werden, daß
sie deren intraspezifische Aggression ganz abbauen. Dies entspräche gar
nicht ihren bewährten Methoden. Wenn ein Trieb beginnt, in einer bestimmten,
neu auftretenden Lebenslage Schaden zu stiften, so wird er nie als Ganzes beseitigt,
dies hieße auf alle seine unentbehrlichen Leistungen verzichten. Es wird
vielmehr stets ein besonderer Hemmungsmechanismus geschaffen, der, an jene neue
Situation angepaßt, die schädliche Auswirkung des Triebes verhindert.
Als in der Stammesgeschichte mancher Wesen die Aggression gehemmt werden
mußte, um das friedliche Zusammenwirken zweier oder mehrerer Individuen
zu ermöglichen, entstand das Band der persönlichen Liebe und Freundschaft,
auf dem auch unsere menschliche Gesellschaftsordnung aufgebaut ist. Die heute
neu auftretende Lebenslage der Menschheit macht unbestreitbar einen Hemmungsmechanismus
nötig, der tätliche Aggression nicht nur gegen unsere persönlichen
Freunde, sondern gegen alle Menschen verhindert. Daraus leitet sich die selbstverständliche,
ja geradezu der Natur abgelauschte Forderung ab, alle unsere Menschenbrüder,
ohne Ansehen der Person, zu lieben. Die Forderung ist nicht neu, unsere Vernunft
vermag ihre Notwendigkeit, unser Gefühl ihre hehre Schönheit voll
zu erfassen, aber dennoch vermögen wir sie, so wie wir beschaffen sind,
nicht zu erfüllen. Das volle und warme Gefühl
von Liebe und Freundschaft können wir nur für Einzelmenschen empfinden,
daran kann der beste und stärkste Wille nichts ändern! Doch die großen
Konstrukteure können es. Ich glaube, daß sie es tun werden, denn
ich glaube an die Macht der menschlichen Vernunft, ich glaube an die Macht der
Selektion und ich glaube, daß die Vernunft vernünftige Selektion
treibt. Ich glaube, daß dies unseren Nachkommen in einer nicht allzu fernen
Zukunft die Fähigkeit verleihen wird, jene größte und schönste
Forderung wahren Menschentums zu erfüllen.
Aus: Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse, Zur
Naturgeschichte der Aggression, dtv Band 1000 (S.239-245, 252-259)
© 1983 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, München Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis von Frau Dr. Beatrice LorenzKrankheiten
der Kultur
Auch wenn die Menschheit nicht an den Krankheiten ihrer Kultur zugrunde gehen
sollte, wenn sie der drohenden Vernichtung durch ihre eigene Technologie entgeht,
droht ihr immer noch die Gefahr des Verkommens, des Absinkens der Evolution.
Diese Gefahr ist mit der Entstehung des menschlichen Geistes untrennbar verbunden.
Es war unvermeidlich, daß der menschliche Geist aller ihm feindlichen
Einflüsse der umgebenden Welt Herr wurde. Damit hat er aber auch jene Macht
ausgeschaltet, die ihn erschaffen hatte, die kreative Selektion. Die technologischen
Früchte vom Baum der wissenschaftlichen Erkenntnis haben eine Welt geschaffen,
in der äußere feindliche Einflüsse nahezu fehlen, und eben dadurch
haben sie das schöpferische Werden des Antriebs beraubt, der bis dahin
wirksam gewesen war. Der Genuß der Früchte vom Baum der Erkenntnis
hat aber, wie die Biblische Geschichte erzählt, die Austreibung des Menschen
aus einem Paradies der Verantwortungslosigkeit zur Folge gehabt. Die Erkenntnis
des Guten und des Bösen ist für das vormenschliche Lebewesen entbehrlich,
denn es darf alles, was es kann. Nur der Mensch kann mehr, als er darf. Er hat
sich der grausam bewahrenden Selektion entzogen, die ihn davon abhalten könnte,
mehr zu zerstören, als er schafft. Er scheint dem Entropiesatz ausgeliefert
zu sein, dessen ethische Wirkung Wilhelm Busch
in den herrlichen Versen wiedergibt: Aufsteigend
mußt du dich bemühen, doch ohne Mühe sinkest du. Der liebe Gott
muß immer ziehen, dem Teufel fällt‘s von selber zu.
»Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum« (»Ihr werdet
sein wie Gott, das Gute und das Böse wissend«) hat der Satan gesagt
und es dabei nicht gut mit den Menschen gemeint. Dennoch ist die Erkenntnis
des Guten und des Bösen nicht nur ein Fluch, wenn auch die Verantwortlichkeit,
die sie dem Menschen aufbürdet, eine schwer zu tragende Last ist. In dieser
Last birgt sich das Wesen menschlicher Freiheit. Der menschliche Geist hat sich
von den äußeren Mächten befreit, die zwangsläufig, aus
Zufall und Notwendigkeit, die Welt des Lebendigen erschufen und die für
uns Biologen ein wesentlicher Teil der »ewig
regen, der heilsam schaffenden Gewalt« sind, von der Goethe
spricht. Mit dieser Befreiung aber hat der Mensch die Verantwortlichkeit
für sein weiteres Werden übernommen. Es steht ihm gleicherweise frei,
zu verkommen oder zu ungeahnten Höhen emporzusteigen.
Aus: Konrad Lorenz: Das Wirkungsgefüge der Natur
und das Schicksal des Menschen, Gesammelte Arbeiten. Herausgegeben und eingeleitet
von Irenäus Eibl-Eibesfeldt
Serie Piper Band 309 (S.354-355) © Piper Verlag GmbH, Müchen 1978,
1983 Veröffentlichung auf Philos-Website
mit freundlicher Erlaubnis von Frau Dr. Beatrice Lorenz