Theodor Lipps (1851 – 1914)
Deutscher Philosoph, der ein Bruder von Gottlob Lipps war und - von Hume, Kant, Herbart, Fechner, Wundt beeinflusst - einen Psychologismus vertrat, in dem die Psychologie als Grundwissen der Logik, Ethik und Ästhetik aufgefasst wird. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Die »Freiheit des
Willens«
Gut und Böse
Die
»Freiheit des Willens«
Neunter Vortrag
Die Fragen, die uns im bisherigen beschäftigten, waren der Hauptsache nach
Tatsachenfragen. Zugleich ergab sich uns doch auch mehrfach die Aufgabe, Begriffe
zu untersuchen, Begriffsunklarheiten aufzuhellen, Mehrdeutigkeiten von Begriffen
zu beseitigen.
Vorzugsweise der letzteren Art nun ist unsere Aufgabe, wenn wir jetzt der Frage
nach der Freiheit des menschlichen Willens uns
zuwenden. Viel ist über diese Frage gesagt und geschrieben worden. Es wäre
gewiss sehr viel weniger darüber gesagt und geschrieben worden, wenn diejenigen,
die sich damit befassten jederzeit bemüht gewesen wären, klar zu denken,
keinen Begriff zu verwenden, ohne ihn sorgfältig zu analysieren, und auf
seine erfahrungsgemäße Berechtigung hin zu untersuchen. Ja es wäre
wohl das meiste davon ungesagt oder ungeschrieben geblieben, wenn man sich auch
nur hätte entschließen können, auf künstliche
Verwirrung der dabei in Betracht kommenden Begriffe zu verzichten.
Man darf wohl sagen: Wie es mit der Freiheit des menschlichen Willens bestellt
ist, darüber pflegt der einfach und natürlich denkende Mensch kaum
je im Zweifel zu sein. Und auch die Praxis des Lebens ist in diesem Punkte der
Hauptsache nach auf dem richtigen Wege. Erst die Gelehrsamkeit hat in die Frage
der Willensfreiheit die Verwirrung gebracht, die darin auch jetzt noch vielfach
herrscht. Man wusste eben nicht das Einfache einfach zu nehmen.
Als eine Frage, die der Hauptsache nach bloße Begriffsfrage ist, hat die
Frage der Freiheit des Willens auch nicht eigentlich darauf Anspruch, unter
die ethischen Grundfragen
gerechnet zu werden. Noch weniger berechtigt aber ist es, wenn einige
diese Frage fast zur eigentlichen ethischen
Grundfrage scheinen machen zu wollen, so, als wäre von ihrer Beantwortung
die Entscheidung über die sonstigen ethischen Grundfragen abhängig.
Diese Abhängigkeit ist in der Tat nicht zu fürchten. Wie gesagt, unsere
bisherigen »ethischen Grundfragen«
waren im Wesentlichen Tatsachenfragen. Sie waren, genauer gesagt, Fragen, die
Tatsachen unseres Bewusstseins betreffen. Sind nun diese Tatsachen wirkliche, in unserem Bewusstsein sicher
auffindbare Tatsachen, so können sie nicht aufgehoben werden durch die
Weise, wie wir den Begriff der Willensfreiheit fassen mögen.
Mag man von der Freiheit des Willens diese oder jene Anschauung haben, oder
damit klare oder unklare Begriffe verbinden, so bleibt doch bestehen, dass es
Objekte unserer Werthaltungen vielfacher Art sind, nämlich egoistische
und altruistische Sachwerthaltungen, andererseits Werthaltungen unserer eigenen Persönlichkeit
und der fremden Persönlichkeiten.
Es bleibt ebenso bestehen, dass wir die möglichen menschlichen Zwecke mehr
oder minder vollkommen uns vergegenwärtigen können; dass wir imstande
sind, sie in objektive oder allgemein menschliche Beleuchtung zu rücken,
sie objektiv zu betrachten und zu werten, und auf Grund solcher Betrachtung
und Wertung aneinander zu messen und gegeneinander abzuwägen; dass wir
dabei von den subjektiven Bedingungen des Wollens
und Handelns, den subjektiven »Neigungen« oder Geneigtheiten, abzusehen oder zu abstrahieren vermögen. Und es bleibt
bestehen, dass unter der Voraussetzung der vollen
Vergegenwärtigung aller möglichen menschlichen
Zwecke, und ihrer vollkommenen
und reinen objektiven
Betrachtung und Bewertung, diese Zwecke in eine ihrem objektiven Wert
entsprechende, und damit zugleich überall gleiche Ordnung sich einfügen.
Es bleibt damit zugleich bestehen das Bewusstsein des Sollens, und sein, unter
der soeben gemachten Voraussetzung, überall, d. h. in allen Persönlichkeiten
gleicher Inhalt.
Es bleibt nicht minder das Sittengesetz als ein Gesetz unseres eigenen Wesens.
Es bleiben die besonderen Verhältnisse zwischen Zwecken, und die darauf
beruhenden Forderungen, dass Zwecke anderen vorangehen, wie sie in unserem siebenten
Vortrag bezeichnet wurden. Es bleibt endlich insbesondere auch bestehen, dass
unbedingten sittlichen Wert allein die sittliche Persönlichkeit hat, dass
demgemäß nur der vollendete, in uns und in anderen, das letzte Ziel
alles sittlichen Wollens sein kann. – Es bleiben mit einem Worte alle
die Tatsachen, von denen im bisherigen die Rede war.
Gehen wir aber zu unserer Frage. Was ist Freiheit
des Willens? Was können und müssen wir darunter verstehen?
Um auf diese Frage eine sichere Antwort zu gewinnen, stellen wir zweckmäßigerweise
zuerst die allgemeine Frage: Was verstehen wir überhaupt
unter »Freiheit«? Was verstehen wir
sonst überall unter diesem Wort?
Diese Frage beantworten wir leicht. Ein Baum wächst
»frei«, oder er ist »frei«
in seinem Wachstum. Dies heißt nach jedermanns Meinung: Der Baum
ist in seinem Wachstum sich selbst überlassen. Er wächst, wie es in
seiner Natur liegt. Das Wachstum des Baumes, so wie es sich in unseren Augen
darstellt, hat in der Beschaffenheit des Baumes seinen Grund
oder seine Ursache.
Es ist so geartet, wie es ist, weil der Baum so geartet ist, wie er ist. Der
Baum wäre in seinem Wachstum nicht
frei, sondern unfrei, wenn
etwas von ihm selbst Verschiedenes
sein Wachstum hinderte, oder
in eine andere Richtung zwänge.
Den gleichen Sinn verbinden wir auch sonst mit dem Worte »Freiheit«.
Auch wenn ein Stein »frei« fällt,
so heißt dies: Der Stein ist weder in seinem Fallen durch etwas von ihm
Verschiedenes behindert, noch
ist er durch dergleichen zum Fallen oder zu dieser bestimmten Weise des Fallens
genötigt. Sein Fallen wäre
ein unfreies, wenn etwa ein von
mir ausgeführter Stoß ihn nach unten
triebe.
Dann müssen wir zweifellos auch, wenn wir sagen, der menschliche
Wille sei frei, oder der Mensch sei frei in seinem Wollen,
der Freiheit einen gleichartigen Sinn beilegen. Freiheit
des Willens muss sein, was »Freiheit« überall ist, nur mit der Besonderheit, dass diese Freiheit eben dem Willen
zugeschrieben wird.
Dies hindert natürlich nicht, dass wir demjenigen, der unter Freiheit des
Willens etwas anderes verstehen will, diese »Freiheit
des Willens« lassen müssen.
Man kann ja schließlich niemand verwehren, jedes beliebige Wort in jedem
beliebigen Sinne zu nehmen. Nur entfernt sich, wer den
Begriff der Freiheit des Willens anders fasst, als wir soeben taten, von dem
allgemeinen und natürlichen Sinne des Wortes Freiheit. Er tut dem Sprachgebrauch
Gewalt an. Und dies kann nur verwirrend wirken.
Mag dem aber sein, wie ihm wolle, in jedem Falle hat derjenige, der das Wort
Freiheit auch hier in dem allgemein üblichen
Sinne nimmt, das höhere Recht für
sich.
Wir wollen überall nach Möglichkeit mit dem allgemeinen Sprachgebrauch
in Einstimmigkeit bleiben. Wir fügen uns darum auch in diesem Punkte. Wir
nehmen zunächst die Freiheit im landläufigen Sinne. Und wir übertragen dann diesen landläufigen
Begriff unverändert auf die »Freiheit des
Willens«.
Der menschliche Wille ist frei, oder der Mensch ist frei in seinem Wollen, dies
heißt dann: Das Wollen des Menschen hat in der Natur des Menschen seinen
Grund oder seine Ursache; es ist
ein Wollen, wie es sich ergibt, wenn der Mensch in seinem Wollen sich selbst überlassen bleibt; das freie
Wollen ist so, wie es ist, weil der Mensch so ist wie er ist.
Und Unfreiheit des Wollens besteht,
genau soweit dies nicht der Fall ist, soweit also der Mensch, ich meine: seine
innere Persönlichkeit, durch etwas von ihm Verschiedenes in seinem Wollen
gehemmt ist, oder ihm durch ein von ihm Verschiedenes ein Wollen aufgenötigt
ist, das aus ihm, so wie er ist, oder falls er sich selbst überlassen wäre,
sich nicht ergäbe.
Man könnte nun meinen, zu dieser Fassung des Begriffes der
Freiheit des Willens gebe uns doch der Sprachgebrauch
kein Recht. Der Begriff der Freiheit sei zwar sonst überall der von uns bezeichnete, in dem besonderen hier
in Rede stehenden Falle aber, bei der Freiheit des Willens,
pflege man darunter gemeinhin etwas anderes zu verstehen.
Dies wäre zunächst sehr sonderbar. Eine solche Ausnahme in einem allgemeinen
Sprachgebrauch wäre nicht leicht verständlich. Aber es verhält
sich auch tatsächlich nicht so.
Wir tun aber hier gut, gleich den doppelten Sinn des üblichen Begriffes der »Freiheit des Willens«
zu unterscheiden. Freiheit des Willens besagt dem
allgemeinen Sprachgebrauch zufolge einmal dies, dass ich frei
bin in meinem Wollen. Das Wort
besagt ein andermal, dass mein Wollen
frei ist in seiner Betätigung.
Offenbar ist nur jene Freiheit Willensfreiheit
im eigentlichen Sinne. Diese letztere Freiheit müsste genauer als Freiheit des Handelns
bezeichnet werden.
In jedem dieser beiden Fälle aber ist der Begriff der
Freiheit der gleiche.
Wer in einem Kerker eingeschlossen ist, oder mit Gewalt von einem Ort zum anderen
fortgeschleppt wird, ist nach jedermanns Meinung seines freien Willens beraubt,
d. h. genauer gesagt,, er ist nicht frei zu handeln,
wie er will. Er ist frei dahin oder dorthin gehen zu
wollen; nur hilft ihn sein Wollen nichts. Mit dieser Unfreiheit
nun ist nichts gesagt, als dass der Ort, wo der Mensch sich befindet, bzw. die
Weise seiner Fortbewegung, ihm durch etwas von ihm Verschiedenes aufgenötigt ist, dass der Ort oder die Weise der Fortbewegung nicht seinem
Wollen, allgemeiner gesagt, nicht in ihm selbst,
sondern in diesem von ihm Verschiedenen , dem Kerker bzw. dem Willen der Menschen,
die ihn fortschleppen, seinen Grund oder seine Ursache hat.
Umgekehrt nennen wir einen Menschen in seinen Bewegungen
frei, wenn oder soweit seine Bewegungen durch sein Wollen, oder
allgemeiner gesagt, durch ihn hervorgebracht sind,
also in ihm ihren Grund oder ihre Ursache
haben.
Hier handelte es sich um Freiheit bzw. Unfreiheit des Willens im zweiten Sinne,
d. h. um Freiheit bzw. Unfreiheit des Willens, sich zu betätigen.
Davon unterschieden wir die Freiheit bzw. Unfreiheit des
Menschen in seinem Wollen. Eine
Unfreiheit dieser Art nun liegt für jedermann vor, es fehlt dem Menschen
die Willensfreiheit im engeren und eigentlichen Sinne, wenn das Wollen selbst
gehemmt ist; bzw. wenn dem Menschen ein Wollen durch etwas von ihm Verschiedenes aufgenötigt wird.
Dergleichen findet etwa statt beim Hypnotisierten. Wird dem Hypnotisierten befohlen,
seinen Arm zu heben, und er hebt ihn, so ist ihm nicht unmittelbar die Armbewegung
aufgenötigt. Er ist nicht frei im Wollen und
unfrei lediglich im Handeln. Sondern sein Wollen
selbst ist gehemmt oder gelähmt. Die wollende Persönlichkeit
ist durch den Hypnotisierenden eingeschläfert und damit außer Funktion
gesetzt. Der Wille, den Arm zu heben – wenn überhaupt hier von einem »Willen« im eigentlichen Sinne geredet
werden darf – ist nicht sein
»Wille«, d. h. er entstammt nicht der
Persönlichkeit, ihrem Wesen, ihrem Interesse, ihrer Gesinnung, ihrer Überlegung.
Den gleichen Sinn hat nach gemeiner Anschauung die Willensunfreiheit,
wenn wir den sinnlos Berauschten willensunfrei nennen. Der Berauschte will vielleicht
sehr heftig. Aber in seinem Wollen kommt nicht die Persönlichkeit, wie
sie an sich ist, zum Ausdruck. Der Rausch, dieser physiologische Zustand, hemmt
gewisse Wollungen, Gedanken, Überlegungen, und zwingt das Wollen in eine
bestimmte Bahn.
Dagegen sagen wir allgemein, eine Persönlichkeit sei in ihrem Wollen
frei, wenn die Persönlichkeit frei, d. h. ohne
durch etwas von ihr Verschiedenes Hemmung oder Zwang zu erleiden, in
ihrem Wollen sich betätigt. Freiheit ist also auch hier gleichbedeutend
mit Verursachtsein durch die Persönlichkeit, ihr Wesen und ihre Betätigungsweisen.
Fassen wir zusammen, so müssen wir sagen: Freiheit ist, soweit wir bisher
sehen, nichts als der Ausdruck dafür, dass mein tun durch meine Persönlichkeit
verursacht ist, nicht in etwas von mir Verschiedenem seine Ursache hat. Freiheit
des Handelns ist Verursachtsein
des Handelns durch das Wollen,
d. h. durch die wollende Persönlichkeit,
Freiheit des Wollens ist Verursachtsein des Wollens
durch die wollende Persönlichkeit.
Wie steht es nun mit der Existenz jener
und dieser Freiheit? Gibt es Willensfreiheit in jenem weniger genauen und diesem
genaueren Sinn? Beide Fragen sind zweifellos zu bejahen. Es gibt solche Freiheit – innerhalb gewisser von Moment zu Moment und zugleich von Individuum
zu Individuum wechselnder Grenzen. Wir haben alle bald mehr bald weniger Freiheit.
Wir sind alle zugleich bald minder bald mehr unfrei.
Mit dem hier Gesagten verbinden wir nun gleich eine vorläufige Betrachtung
der Begriffe der Zurechnungsfähigkeit und
Verantwortlichkeit. Ich bemerke
dabei, dass ich diese beiden Begriffe hier in gleichem Sinne gebrauche, dass
es mir aber später zweckmäßig erscheinen wird, zwischen Zurechnungsfähigkeit
und Verantwortlichkeit bestimmt zu unterscheiden. Speziell die Verantwortlichkeit
wird dabei einen neuen Sinn gewinnen.
Wiederum frage ich zunächst: Was ist sonst, d. h. außerhalb der Sphäre
des menschlichen Wollens und Handelns, der Sinn der Zurechnung oder Verantwortlichkeit.
Wenn ich eine irgendwo ausbrechende und sich verbreitende Krankheit den Bodenverhältnissen »zurechne« oder sie auf »Rechnung«
derselben setze, wenn ich die Bodenverhältnisse für die Krankheit
und ihre Ausbreitung »verantwortlich« mache, oder um noch einen weiteren Ausdruck zu gebrauchen, wenn ich ihnen die »Schuld« daran beimesse, was ist damit gesagt? Zweifellos wiederum
dies, dass ich die Bodenverhältnisse als die Ursache
der Krankheit und ihrer Ausbreitung betrachte. Und völlig
den gleichen Sinn haben jene Wendungen auch sonst.
Dann muss auch der Satz: Eine Handlung wird mir zugerechnet oder: Ich werde
dafür verantwortlich gemacht, zunächst heißen. Ich werde als
die Ursache der Handlung betrachtet. Oder: Die Handlung wird betrachtet als
von mir ausgehend, mir zugehörig, als meine
Handlung in diesem Sinne des Wortes. Sie wird mir
nicht zugerechnet, sondern auf »Rechnung« äußerer Umstände gesetzt, oder äußere Umstände
werden dafür verantwortlich gemacht, dies heißt: Sie wird betrachtet
als nicht meine Tat, sondern als
das notwendige Ergebnis dieser
Umstände.
Diesem Begriff der Zurechnung entspricht natürlich der Bergriff der Zurechnungsfähigkeit.
Ein Mensch ist zurechnungsfähig rücksichtlich einer
Handlung, dies heißt also zunächst: Man kann oder darf die Handlung
betrachten als durch die Persönlichkeit verursacht oder begründet.
Hiermit nun ist auch schon teilweise gesagt, wie sich Zurechnungsfähigkeit
und Willensfreiheit zueinander verhalten: Zurechnungsfähigkeit kann nur
bestehen, soweit Willensfreiheit besteht; nämlich Willensfreiheit – nicht in irgendwelchem, sondern in dem oben von uns bezeichneten Sinne des Wortes.
Dies alles erfordert aber freilich noch einen Zusatz. Der oben gezogene Vergleich
hinkt. Wir können zweifellos eine Krankheit auf »Rechnung« der Bodenverhältnisse setzen oder die für die Krankheit »verantwortlich«
machen. Aber diese Zurechnung ist keine sittliche. Wir machen die Bodenverhältnisse für die Krankheit nicht sittlich
verantwortlich. Und um sittliche
Zurechnung und Verantwortlichkeit
handelt es sich ja hier. In dieser sittlichen Zurechnung oder Verantwortlichkeit
liegt eine sittliche Beurteilung oder Bewertung. Die sittliche Zurechnung ist Zurechnung des sittlichen Wertes, bzw. Unwertes.
Und eine solche findet jenen Bodenverhältnissen gegenüber nicht statt.
Indessen damit ist das oben Gesagte nicht hinfällig geworden. Es bedarf
nur der Ergänzung. In der Tat heißt »eine
Handlung einer Person sittlich zurechnen« nicht nur, sie im obigen
Sinne des Wortes auf »Rechnung« derselben
setzen, sondern zugleich: die Person nach Handlung bewerten. Da, wie wir wissen,
Persönlichkeitswert und sittlicher Wert gleichbedeutend sind, so ist diese
Bewertung ohne weiteres eine sittliche.
Aber was heißt nun dies: eine Persönlichkeit nach einer Handlung bewerten? – Wir sahen ehemals:
Eine Handlung kann, wenn wir das Wort »sittlich
wertvoll« in einem bestimmten Sinne nehmen, auch abgesehen von
der handelnden Persönlichkeit oder der inneren Beziehung der Persönlichkeit
zu der Handlung, »sittlich wertvoll«
sein. Eine Handlung ist »sittlich wertvoll«
in diesem Sinne, wenn sie Gutes schafft
oder ins Dasein ruft, wenn sie der Verwirklichung sittlicher
Zwecke dient. Eine solche Handlung nannten wir genauer eine sittlich
erfreuliche. Ebenso kann
eine Handlung, abgesehen von der handelnden Persönlichkeit,
sittlich unwert sein. Sie
ist dies, wenn sie eine üble Handlung
ist, d. h. eine solche, die Übles schafft, die die Verwirklichung sittlicher Zwecke hindert oder beeinträchtigt. Eine
solche Handlung nannten wir genauer eine sittlich beklagenswerte.
Dagegen ist, wie wir an derselben Stelle sahen, eine Handlung niemals um des
Guten willen, das durch sie ins Dasein gerufen wird, selbst gut, d. h.
edel, sittlich lobenswert. Ebenso ist niemals eine Handlung um dessen willen, was sie ins Dasein ruft,
oder kurz vermöge ihres Erfolges, sittlich
tadelnswert oder böse,
schlecht. Sondern Gegenstand des sittlichen Lobes oder Tadels,
oder gut, im Sinne des sittlich
Lobenswerten, andererseits böse, schlecht, tadelnswert, ist jederzeit nur
die Persönlichkeit. Auch
die Handlung kann freilich so
heißen, aber lediglich, sofern darin eine sittlich lobenswerte, bzw. tadelnswerte
Persönlichkeit sich kundgibt; also
lediglich als Symptom.
Beachten wir nun dies, dann ergibt sich, was die sittliche Zurechnung sein muss.
Eine Handlung einem Menschen sittlich zurechnen, heißt, wie schon gesagt:
Nach dem sittlichen Wert der Handlung den sittlichen Wert der Persönlichkeit
bemessen, die sittliche Bewertung der auf die Persönlichkeit übertragen.
Dies aber wiederum heißt: Um der guten, d. h. sittlich
erfreulichen Handlung
willen die Persönlichkeit selbst gut,
d. h. sittlich lobenswert
nennen; um der üblen
Handlung willen sie
böse oder schlecht nennen.
Ich rechne eine gute, d. h. Gutes bewirkende Handlung einem Menschen zu, dies
heißt: Ich erkläre um der Gutes wirkenden Tat willen, und in dem
Maße, als die Tat Gutes wirkt, ihn selbst für gut;
ich lobe ihn darum. Ich rechne
ihm eine üble, d. h. Übles
wirkende Tat zu, das heißt ebenso: Ich erkläre ihn um der üblen
Tat willen, und in dem Maße, als die Tat eine üble ist oder Übles
schafft, selbst für böse oder schlecht; ich
tadle ihn darum.
In solcher Weise den sittlichen Wert der Persönlichkeit nach dem sittlichen
Wert der Handlung bemessen kann ich nun aber nur, soweit ich aus der Handlung
auf die Persönlichkeit oder ihre »Gesinnung«
schließen darf, oder soweit
die Handlung Symptom ist eines entsprechenden Wesens der Persönlichkeit.
Und dies wiederum ist möglich, genau soweit, als die Handlung aus einer
aus einer entsprechenden Gesinnung hervorgeht,
durch diese Gesinnung, oder, was dasselbe sagt, durch die Persönlichkeit
verursacht ist; oder kurz,
soweit Willensfreiheit in dem oben festgestellten
Sinne besteht.
Darnach bleibt es auch unter der Voraussetzung unseres ergänzten
Begriffes der Zurechnungsfähigkeit dabei,
dass Zurechnungsfähigkeit besteht, lediglich soweit Freiheit
des Willens besteht, nämlich Freiheit des Willens in dem von uns
angenommenen sprachgebräuchlichen Sinne, also Freiheit des Willens, die
mit Verursachtheit des Wollens durch meine Persönlichkeit
gleichbedeutend ist.
Ich lege schließlich noch ausdrücklich Gewicht darauf, dass auch
das hier Vorgetragene mit der gemeinen Anschauung in vollem Einklang steht.
Ich rechne jemand eine Tat zu, die heißt für jedermann: Ich tadle
ihn, nenne ihn schlecht um der üblen Tat willen. Und jedermann hält
solche Zurechnung für ausgeschlossen, wenn die Tat nicht in einer entsprechenden
Gesinnung ihren Grund hat, sondern durch anderes, etwa durch zwingende Umstände,
die ohne mein Zutun wirken, herbeigeführt oder verursacht ist. Umgekehrt
kann und muss nach jedermanns Meinung die üble Tat mir zugerechnet werden,
wenn sie in einer entsprechenden Gesinnung den Grund ihres Daseins hat, also
so übel ist, wie sie ist, weil sie so böse ist, wie ich bin.
Zugleich liegt für jedermann in der Zurechnung ohne weiteres dies eingeschlossen,
dass nur unter der Voraussetzung der Möglichkeit solcher Zurechnung Handlungen
sittliches Lob oder
sittlichen Tadel
verdienen. Vor allem ist für jedermann eine »schlechte«
Handlung nur diejenige, die ihrem Täter zugerechnet, d.
h. die als Symptom eines zugrunde liegenden Bösen im Wesen der Persönlichkeit
betrachtet wird. Niemand nennt etwa eine Handlung, durch die ich einen anderen
schädige, schlecht, wenn sie lediglich vom Zufall verschuldet ist, also
auf die Beschaffenheit der Persönlichkeit keinen Schluss verstattet. Sondern
jedermann begnügt sich, eine solche Handlung als eine üble oder beklagenswerte
zu bezeichnen. Insofern ist der Begriff der Zurechnungsfähigkeit
zugleich ein Ausdruck für die Anerkenntnis der vorhin von neuem betonten
Tatsache, dass sittlich lobenswert und sittlich tadelnswert Handlungen nur sein
können als Symptome der Gesinnung oder als Ausdruck der Persönlichkeit.
Wir müssen aber nun bei dem Begriff der Willensfreiheit noch weiter verweilen.
Man bezeichnet die Willensfreiheit wohl auch als
Wahlfreiheit. Mit gutem Rechte. Unser Wollen pflegt ein Wählen
zu sein. Im normalen Menschen gibt es überall neben Motiven, die sein Wollen
nach der einen Seite hin bestimmen, solche, die es nach anderer Seite drängen.
Wenn ich aufstehen will, so besteht dafür in mir irgend welches Motiv.
Daneben bestehen aber zugleich Motive des Sitzenbleibens. Ein solches ist in
der Regel schon damit gegeben, dass das Sitzenbleiben bequemer ist. Und immer,
wenn es sich so verhält, vollzieht sich der Willensentscheid vermöge
einer, wenn auch nicht zum Bewusstsein kommenden Wahl.
Das Stattfinden einer solchen Wahl liegt ja auch schon im Worte
»Willensentscheid«. Die Wahl vollzieht sich, indem eines
der einander gegenüberstehenden Motive über die anderen das Übergewicht
gewinnt. Vielmehr, sie besteht in
diesem Vorgang.
Und wann ist diese Wahl frei?
Fragen wir wiederum zuerst, wann sie unfrei
ist. Sie kann ebenso wie nach oben Gesagtem der Wille, in doppeltem
Sinne unfrei sein. Es wirken etwa in mir einander widerstreitende Motive; äußerer
Zwang aber nötigt mich, in der Richtung des einen zu handeln. Daneben steht
die andere Möglichkeit: Von den verschiedenen Motiven, die in mir vorhanden
sind und zur Wirkung gelangen könnten, sind irgendwelche durch Einwirkungen,
die von außen an mich herantreten, sagen wir wiederum durch Hypnose oder
Narkose, lahm gelegt. – Wie man sieht, sind diese beiden Möglichkeiten
der Wahlunfreiheit nicht verschieden von denjenigen, die schon oben bei der
Betrachtung der Willensfreiheit sich ergeben haben.
Dagegen ist unsere Wahl frei, wenn sie – frei ist, nämlich
frei von Zwang und Hemmung, wenn also der Entscheid zwischen den entgegengesetzten
Möglichkeiten ganz meine Tat ist,
durchaus mir entstammt, in mir, meinem Wesen, meiner Gesinnung, meinen Neigungen,
meinen Überlegungen usw. ihren zureichenden Grund, oder ihre volle Ursache
hat. – Ich wiederhole nicht, dass an dieser Freiheit auch die Zurechnungsfähigkeit
oder Verantwortlichkeit unmittelbar haftet.
Insoweit nun ist die Wahlfreiheit oder die Willensfreiheit eine einleuchtende
und klar bestimmte Sache. Und nicht minder klar ist ihre Beziehung zur Zurechnungsfähigkeit
und Verantwortlichkeit. Es scheint keine einfachere Sache geben zu können
als jene Freiheit und diese Beziehung.
Aber eben mit diesem einfachen Sachverhalt wollen einige Ethiker durchaus nicht
sich zufrieden geben. Sie fordern eine andere, und in gewisser Weise völlig
entgegengesetzt geartete Willensfreiheit. Vor allem, wenn sie von
»Wahlfreiheit« sprechen, wollen sie darunter etwas
völlig anderes verstanden wissen. So wenigstens versichern sie. Und sie
tun dies gewiss in ehrlicher Meinung. Es ist aber zu fürchten, dass sie
sich über sich selbst täuschen.
Zunächst sagt man vielleicht folgendes: Ich habe Willens- oder Wahlfreiheit,
dies heißt: Wenn ich einen Willensentscheid vollzogen habe, so hätte
ich denselben doch auch unterlassen oder mich in der entgegensetzten Weise entscheiden
können. Und man fügt
hinzu: Eine solche Wahlfreiheit besteht. Sie ist eine sichere Tatsache meines Bewusstseins. Ich bin bei meinem Wollen
unmittelbar gewiss, dass jene Möglichkeit, mich anders zu entscheiden,
existiert oder existiert hätte.
Gegen diese Erklärung nun haben wir zunächst nichts einzuwenden. Wir
gestehen zu, dass es sich so verhält, wie sie sagt. Nur ist damit eben
auch an unserer Fassung des Begriffs der Willensfreiheit ganz und gar nichts
geändert. Wir brauchen, um uns davon zu überzeugen, nur zu fragen,
was denn das heiße oder heißen könne: Ich »hätte«
mich auch anders entscheiden »können«. Dass wir diese Frage nicht etwa unterlassen, und uns mit der einfachen Behauptung
begnügen dürfen, leuchtet ja ein.
Ich nehme an, es war heute vor vierzehn Tagen schönes Wetter. Ich weiß,
dass es so war. Dennoch sage ich: Es »hätte«
heute vor vierzehn Tagen auch regnen »können«.
Damit kann nun ein Doppeltes gesagt sein. Ein Meteorologe, ein Wetterkundiger,
widerspricht vielleicht meiner Behauptung. Er sagt: nein, es musste an jenem Tage schönes Wetter sein. Und er sagt dies nicht bloß, sondern
zeigt mir zugleich, dass damals alle Voraussetzungen für schönes Wetter
gegeben waren; dass unter den meteorlogischen Bedingungen, wie sie damals vorlagen,
nach allgemeinen Regeln der Wetterbildung nur schönes Wetter eintreten konnte.
Dieser Beweisführung füge ich mich vielleicht. Ich sage also gleichfalls:
Es musste schönes Wetter sein. Aber was wollte ich dann vorher mit meiner
Behauptung, es hätte auch regnen können. Was gab ich damit zu erkennen?
Nun einfach dies, dass ich vor den Mitteilungen des Wetterkundigen von den Gründen
für das schöne Wetter noch keine Kenntnis hatte. So bin ich immer,
wenn mir die Gründe, aus denen ein Geschehen eintreten musste, unbekannt
sind, berechtigt zu sagen. Es »hätte «
auch anders kommen »können«. Ich
gebe damit jedes Mal nur zu verstehen, dass es für mich keine zwingenden
Gründe für das tatsächliche Geschehen gibt, also nichts, das
mir das Nichteintreten des tatsächlich
Geschehenen, also das Eintreten eines anders gearteten Vorganges an Stelle desselben,
undenkbar machen könnte. So ist auch die Erklärung,
es hätte vor vierzehn Tagen regnen können, lediglich der Ausdruck
dafür, dass in dieser Annahme für mich nichts Undenkbares
liegt. Die von mir behauptete Möglichkeit des Regnens ist
nichts als die Denkbarkeit desselben. Denkbar aber ist für mich notwendig
das Gegenteil jedes tatsächlichen Geschehens, solange mir die Gründe
fehlen, aus denen für mich die Notwendigkeit des betreffenden Geschehens
selbst folgen könnte. Die
Behauptung einer solchen Denkbarkeit oder Möglichkeit ist also nichts als
das Bekenntnis meines Nichtwissens.
Die zweite Möglichkeit ist diese: Ich sage, es hätte vor vierzehn
Tagen auch regnen können, weil ich weiß, dass damals gewisse
Bedingungen gegeben waren, die
sonst wohl Regen zur Folge zu haben pflegen, etwa eine dem Regen günstige
Windrichtung. Es hätte regnen können, dies ist dann eben der Ausdruck
für das Dasein von Bedingungen oder Teilursachen des Regnens. So sage ich auch in anderen Fällen, etwas, das tatsächlich
nicht geschehen ist, hätte doch geschehen können, wenn ich vom Dasein
gewisser Bedingungen oder Teilursachen dieses Geschehens
Kenntnis habe.
Diese beiden Möglichkeiten bestehen nun auch mit Rücksicht auf unser
Wollen. Ich sage: Ich habe so gehandelt, hätte aber recht wohl auch anders
handeln können, und will damit sagen: Ich bin mir der Gründe, die
mich zu meinem Handeln veranlassten, nicht bewusst. Hätte ich von ihnen
ein Bewusstsein, wäre alles das, was mich zu der Handlung trieb, nicht
nur das, was von außen auf mich wirkte, sondern auch meine ganze innere
Verfassung, meine natürlichen und erworbenen Neigungen, jede der fraglichen
Handlung vorausgehende kleinste Regung meines Inneren, mir jetzt vollkommen
gegenwärtig, dann würde ich vielleicht zugestehen: Aus alle dem konnte
damals keine andere Handlungsweise sich ergeben. Oder auch: Ich kann mir nicht
denken, wie eine solche sich
daraus hätte ergeben sollen. Da aber dies nicht der Fall ist, so kann ich
mir recht wohl denken, dass ich anders gehandelt hätte. Stattdessen nun
sage ich kürzer: Ich »hätte« auch
anders handeln »können«.
In der Tat ist ja unser Wollen und Handeln oft genug, vielmehr, es ist jederzeit
von Faktoren, und schließlich von unzähligen Faktoren bestimmt, von
denen oder von deren Mitwirksamkeit wir uns im einzelnen Falle keine Rechenschaft
geben und keine Rechenschaft geben können. Schließlich ist sogar
bei jeder einzelnen Handlung unser ganzes vergangenes Leben irgendwie mitbeteiligt.
Und wir gestehen auch in gewissen besonders aufdringlichen Fällen ausdrücklich
zu, dass es sich so verhält. Wir sagen: Ich weiß, wie ich dazu gekommen
bin, so zu handeln. Damit leugnen wir nicht, dass dies Handeln seine Gründe
hat, oder in uns verursacht ist. Sondern wir geben vielmehr mit diesem Ausdruck
deutlich zu verstehen, dass es Gründe oder eine Ursache der Handlung allerdings
gebe. Nur dass wir sie eben nicht kennen. Wir sagen auch wohl, eine Laune, ein
Einfall habe dies Handeln verschuldet. Dies Laune, dieser Einfall, das ist nicht
anderes, als eben das Unbekannte, das der Handlung
zugrunde liegt.
In allen solchen Fällen drücken wir uns auch so aus, dass wir sagen:
Wir hätten auch anders handeln können. Wir meinen damit, dies andere
Handeln sei recht wohl denkbar. In der Tat ist dasselbe für uns denkbar, solange wir die Gründe, aus
denen wir so handelten, wie wir gehandelt haben, nicht vollständig kennen.
Oder wer weiß, es gab, während ich in bestimmter Weise handelte,
in mir Motive, in deren Natur es lag, auf ein anderes Handeln hinzudrängen.
Ich bin diesen Motiven tatsächlich nicht gefolgt. Aber ich würde ihnen
gefolgt sein, wenn nicht andere Motive stärker gewesen wären; und
dann würde sich das andere Handeln tatsächlich ergeben haben. Es war
also jedenfalls durch das Dasein dieser Motive die
Möglichkeit dieser anderen Handlung gegeben. Diese Möglichkeit
nun bezeichne ich wiederum durch den Satz: Ich hätte auch anders handeln
können. Anders ausgedrückt: Ich bezeichne damit das Dasein von Motiven,
die an sich betrachtet die Möglichkeit, dass ich anders gehandelt hätte,
in sich schließen.
Von alle dem wird nun aber, wie man sieht, unser Begriff der Willensfreiheit
in keiner Weise angetastet. Es ist damit erst recht kein anderer
Begriff der Willensfreiheit an seine Stelle gesetzt. Es bleibt dabei: Willensakte und Handlungen sind jederzeit verursacht;
sie haben ihre Ursache in mir oder in etwas von mir Verschiedenem; bzw. sie
haben sie bald mehr in mir, bald mehr in etwas von mir Verschiedenem. Und in
dem Maße als jenes der Fall ist, sind sie frei; in dem Maße als
dies zutrifft, sind sie unfrei.
Darauf nun aber antwortet man, so habe man die Sache nicht gemeint. Jene Behauptung:
Wenn ich irgendwie gehandelt habe, so »hätte«
ich auch anders handeln »können«,
habe einen anderen Sinn.
Natürlich fordern wir dann, dass uns dieser Sinn verdeutlicht werde. Darauf
nun erfahren wir etwa folgendes: Ein Mensch vollbringe irgendeine Handlung.
Ich kenne die Persönlichkeit, den Charakter, die Gesinnung, kurz, das ganze
innere Wesen dieses Menschen vollkommen, nicht nur in seinen allgemeinsten Zügen,
sondern bis in die letzten Fasern, ich habe zugleich die deutlichste Einsicht
in jede vorangehende und gleichzeitige Regung seines Inneren, in jedes feinste
Spiel der Motive, jeden Gedanken, jede Überlegung. Ich kenne nicht minder
jede Einwirkung, die auf den Menschen von außen, sei es von seinem Körper,
sei es von der Außenwelt her geschehen ist und geschieht, aufs Genaueste.
Kurz, ich habe einen vollkommenen Einblick in die sämtlichen, inneren sowohl
als äußeren Bedingungen, unter denen die Handlung sich vollzieht.
Dann darf ich doch nicht meinen, die Handlung sei durch die Gesamtheit dieser
Bedingungen eindeutig bestimmt.
Ich darf nicht sagen: Unter allen diesen Bedingungen kann
der Mensch sich in seinem Wollen nicht anders entscheiden,
als er es eben jetzt tut. Sondern es steht mir frei anzunehmen, dass alle diese
Bedingungen in absoluter Vollständigkeit und völlig unverändert
gegeben wären, und och ein völlig anderes Wollen daraus sich ergäbe.
Es ist für mich durchaus denkbar, dass aus jenem ganzen Zusammenhang von
Bedingungen dieser und auch der entgegengesetzte Willensakt resultiere.
Und man fügt hinzu: Dass es so ist, dass also ein menschliches Wollen unter
durchaus und in jeder Hinsicht gleichen inneren und äußeren Bedingungen
so und auch anders beschaffen sein kann, dass statt eines Wollens, das in einem
Menschen stattfindet, auch ein entgegengesetztes denkbar wäre, ohne dass
dieser Gegensatz irgendwie durch einen Unterschied im Wesen des Menschen, und
dem, was sonst in ihm vorging, oder auf ihn wirkte, begründet
zu sein brauchte, diese Tatsache bezeichnet den Sinn der Willensfreiheit.
Der Mensch hat freien Willen, weil diese Tatsache
besteht.
Damit nun allerdings stehen wir auf einem vollkommen anderen Boden. Dieser
Begriff der Willensfreiheit ist von demjenigen, den wir bisher
voraussetzten, völlig verschieden. Er sagt nicht nur anderes, sondern in
gewisser Weise das Gegenteil von dem was wir unter Freiheit des Willens verstanden,
damit zugleich das Gegenteil von dem, was allgemein unter Freiheit verstanden
zu werden pflegt. Wir fanden, das Wollen des Menschen ist, nach dem allgemeinen
Sinne des Wortes Freiheit, frei, wenn oder soweit es durch die Persönlichkeit
bestimmt ist, wenn es also so ist, wie es ist, weil die Persönlichkeit
so ist, wie es ist. Jetzt erfahren wir, ein Wollen sei frei, wenn es durch die
Außenwelt und die Persönlichkeit,
beides zusammen genommen, nicht bestimmt
sei, wenn es also trotz Außenwelt und Persönlichkeit, auch
anders sein könnte, als es ist.
Wie rechtfertigt man diesen Gedanken? Ist man etwa durch Erfahrungen darauf
geführt worden? Vermag man zu zeigen, dass es tatsächlich Willensentscheide
gibt, die unabhängig nicht nur von äußeren Einwirkungen, sondern
auch von der Beschaffenheit der Persönlichkeit, und dessen, was in ihr
ist und wirkt, zustande kommen? Natürlich nicht. Die inneren Bedingungen
unseres Wollens, die psychischen Faktoren, die dabei mitwirken, kommen uns,
wie schon gesagt, nie ganz zum Bewusstsein. Das Räderwerk oder Gewebe des
inneren Geschehens ist zu fein, als dass wir es jemals völlig durchschauen
könnten. Wir können darum auch auf Grund der Erfahrung niemals sagen,
wie weit ein Willensentscheid hierin begründet oder hierdurch bedingt sein
könne.
Sondern der Grund für die Ausspinnung jenes Gedankens ist ein ethischer.
Man meint folgendes: Ist ein Willensentscheid durch die inneren und äußeren
Umstände, unter denen er stattfindet, eindeutig bestimmt, hat er darin
seinen zureichenden Grund, mit einem Worte, ist er dadurch verursacht, bewirkt, hervorgerufen, dann ist er unter Voraussetzung der Gesamtheit dieser
Umstände notwendig. Wie auch
wir oben sagten: Er kann nicht anders sein, als er ist. Dies liegt, so fährt
man fort, im Begriff der Ursache: Hat ein Geschehen in irgend Etwas im vollen
Sinne des Wortes seine Ursache, so liegt darin jederzeit eingeschlossen, dass
das Geschehen eintreten muss,
wenn die Ursache gegeben ist. Das Verursachte ist
unweigerlich, so wie es ist, weil seine Ursache so ist, wie
sie ist.
Solcher Notwendigkeit steht nun aber die Freiheit entgegen.
Ich bin nicht frei,
wenn ich genötigt
bin. Ist also mein Wollen verursacht, so ist es nicht frei. Freiheit des Willens aber ist Bedingung der sittlichen
Zurechnung oder Verantwortlichkeit. Sie ist Voraussetzung der sittlichen Bewertung
der Willensentscheide. Diese also wird aufgehoben, wenn unser Wollen, sei es
durch die äußeren Umstände, sei es durch die Persönlichkeit,
sei es durch beide zusammen, verursacht ist.
Auf diese Darlegung nun könnten wir zunächst erwidern, dass in ihr
mit Worten gespielt werde. Und zwar in doppelter Weise. In der Tat fehlt mir
die Willensfreiheit, wenn ich zu einem Wollen
genötigt werde. Sage ich aber, ich bin genötigt, so
statuiere ich notwendig einen Gegensatz zwischen mir, dem Genötigten, und etwas von mir Verschiedenem, das mich nötigt. Das »Nötigen«
ist ein Wirken von einem auf ein anderes. Und dies setzt voraus den Unterschied
des Wirkenden, und dessen, was die Wirkung erfährt. Also hat es gar keinen
Sinn zu sagen: Ich bin durch mich selbst
genötigt. Ein Akt der Nötigung
findet hier gar nicht statt. Von einem Wirken von einem auf ein anderes ist hier gar keine Rede. Ich bin zu einem Wollen durch
mich genötigt, dies heißt in Wahrheit nichts anderes als: Ich bin
der bestimmende Grund meines Wollens. Es ist also nur ein anderer, zugleich
sehr wenig geschickter Ausdruck dafür, dass ich aus mir, nicht durch anderes
genötigt oder gehemmt, also frei, wollend mich entscheide.
Andererseits wird gespielt mit den Worten Wollen und Wille. Der Wille, der in
den einzelnen Willensakten oder Wollungen sich betätigt, ist nicht eine
besondere Kraft, oder gar ein besonderes Wesen in mir, das als solches von mir
unabhängig sein könnte. Sondern der Wille, das bin ich. Der Wille
ist meine sich betätigende Persönlichkeit. Das Wollen ist das innere
Abzielen meiner selbst oder meiner selbst oder meiner Persönlichkeit auf
irgendeinen Erfolg. Es ist das innere Gerichtetsein meines Wesens oder der Betätigung
desselben auf irgendein Ziel.
Der Wille, so kann ich also auch genauer sagen, das bin ich selbst, sofern ich innerlich tätig und dabei auf ein Endziel meiner Tätigkeit
gerichtet bin. Freiheit des Willens
ist also Freiheit meiner selbst.
Es ist ganz dasselbe, ob ich von Freiheit des Willens oder von
Freiheit der – nämlich inneren – Persönlichkeit rede.
Diese Persönlichkeit nun kann frei sein nur von etwas anderem als sie selbst
ist. Es hat keinen Sinn, die Persönlichkeit von sich selbst frei oder unabhängig
sein zu lassen. Es hat also auch keinen Sinn, den Willen als etwas von mir oder
meiner Persönlichkeit Unabhängiges zu betrachten.
Und ist das Wollen das Abzielen der inneren Tätigkeit auf etwas, oder mein
inneres Gerichtetsein auf ein Endziel, so hat es auch keinen Sinn, das Wollen
oder dies innere Gerichtetsein
meiner selbst von mir unabhängig sein zu lassen, so wenig
es Sinn hätte, etwa die Richtung eines bewegten Steines oder das Abzielen
der Bewegung desselben auf einen bestimmten Punkt von dem Stein und seiner Bewegung
gedanklich loszulösen und als davon unabhängig vorzustellen.
Eben solche unmögliche Vorstellungen aber scheint man zu haben. Man nennt
den Willen frei und meint damit
die Freiheit desselben nicht nur von äußeren Einwirkungen, sondern
auch die Freiheit, d. h. die Unabhängigkeit von
mir selbst. Man lässt also hier in der Tat
mich von mir selbst oder den Willen von sich selbst unabhängig sein. Darin
liegt eine gedankliche Verdoppelung meiner selbst oder des Willens. Ohne eine
solche wäre keine zwischen mir und mir, also auch keine Unabhängigkeit
meiner von mir vorstellbar. Ich bin aber in Wahrheit nur dieser eine
»Ich«.
Oder man nennt das Wollen, d.
h. die einzelnen Willensakte, frei, in dem Sinne der Freiheit oder Unabhängigkeit
dieser Willensakte von mir. Damit
löst man mein inneres Gerichtetsein auf etwas, mein inneres Verhalten,
meine innere Daseinsweise, von mir, der ich so gerichtet bin, mich innerlich
verhalte, in dieser Weise da bin, los, um nun zwischen diesen beiden eine
Beziehung der Unabhängigkeit zu statuieren.
Geben wir jetzt der oben bezeichneten Anschauung vom Wesen der Willensfreiheit
ihren herkömmlichen Namen. Man bezeichnet den Standpunkt, der ein solches
weder durch die äußeren Umstände, noch durch diese zusammen
mit der Persönlichkeit verursachtes Wollen annimmt, als Standpunkt des Indeterminismus. Die
»Willensfreiheit«, die mit einer solchen Ursachlosigkeit
des Wollens gleichgesetzt wird, können wir dementsprechend als indetermistische
Willensfreiheit bezeichnen. Dagegen ist die Willensfreiheit, von der
wir vorher redeten, und die allein diesen Namen verdient, eine deterministische
Willensfreiheit; der Standpunkt, der diese, und nur diese Willensfreiheit anerkennt,
ist der Standpunkt des Determinismus. Jener Standpunkt
heißt Indeterminismus, weil ihm zufolge das
menschliche Wollen durch die Bedingungen, unter denen es geschieht, nicht
eindeutig, also genau gesprochen überhaupt nicht
bestimmt oder determiniert ist. Umgekehrt heißt unser Standpunkt Determinismus, weil wir meinen,
es sei das menschliche Wollen allerdings jederzeit durch die Gesamtheit aller
der Bedingungen, unter denen es geschieht, eindeutig bestimmt oder determiniert,
weil wir also den Gedanken, es könne das Wollen unter Voraussetzung der
gleichen Gesamtheit von Bedingungen dieses und auch jenes sein, ausschließen.
Sehen wir uns nun jenen Standpunkt des Indeterminismus und der angeblichen indeterministischen
Willensfreiheit noch etwas genauer an. Dieser Standpunkt leugnet nach dem oben
Gesagten, dass unser Wollen dem sonst allgemein geltenden Gesetze der Kausalität
oder Verursachung unterliege. Dieses Gesetz lautet ganz allgemein:
Jedes Geschehen hat seine Ursache. Und darin liegt allerdings, was wir
vorhin den Indeterministen hineinlegen ließen. Ist die Ursache eines Geschehens
gegeben, ich meine vollständig gegeben, so ist nur das Eintreten eben dieses
Geschehens denkbar. Oder wenn man lieber will: Dies Geschehen tritt »notwendig«
ein, und ist »notwendig«
so wie es ist, wenn die Ursache da ist und so ist, wie sie ist.
Das heißt doch nichts anderes als: Das Unterbleiben dieses Geschehens,
oder das Eintreten eines anderen eines anderen an seiner Stelle, kann von uns
nicht gedacht werden.
Dieses Gesetz der Kausalität oder der Verursachung
alles Geschehens können wir nun aber nicht etwa da anwenden, dort
unangewendet lassen. Angenommen, dasselbe wäre von uns aus der
Erfahrung gewonnen, dann freilich ginge dieses an. Wir könnten
sagen: Wir müssen es anwenden, wo die Erfahrung es befiehlt. Wir können
es ebenso gewiss unangewendet lassen auf den Gebieten, auf denen kein erfahrungsgemäßer
Zwang seiner Anwendung vorliegt.
Aber das Gesetz der Kausalität ist nicht der Erfahrung entnommen. Sondern es ist ein Gesetz unseres Denkens, ein Gesetz,
das in der Natur des menschlichen Geistes liegt. Und es ist ein Widersinn, dass
der menschliche Geist denke, ohne nach seinen Gesetzen oder seiner Natur gemäß zu denken. Es ist darum der Gedanke eines ursachlosen
Wollens in Wahrheit gar kein Gedanke. Es ist eine auf das Denken verzichtende
Behauptung.
Dem scheint zu widersprechen, dass wir doch geläufigerweise von einem
Zufall sprechen. Wir sagen: Dies oder jenes ist rein zufällig geschehen. Was
aber zufällig geschieht, geschieht nicht notwendig. Es hätte an seiner
Stelle auch etwas anderes geschehen »können«.
Es scheint also: Wenn wir von Zufall sprechen, so leugnen wir das Kausalgesetz
oder das Gesetz, dass alles Geschehen seine Ursache habe. Wir können
also dies Gesetz leugnen. Wir können annehmen, dass etwas
ohne Ursache geschehe.
In der Tat mag es manchem so scheinen. Aber dieser Schein trügt. In zweierlei
Sinn reden wir vom Zufall. Ich gehe auf der Straße durch eine Herde von
Knaben, die mit Schneeballen werfen. Ein Schneeball trifft mich
»zufällig« an den Kopf. Dies heißt lediglich:
Die Sache war nicht beabsichtigt.
Es heißt nicht: Der Vorgang hat keine Ursache. Er hat seine Ursache in
dem Umstande, dass ich gerade dieses Weges ging, und dass einer der Knaben zufällig,
d. h. absichtslos in der Richtung warf, in der ich ging.
Und noch in andere Weise reden wir vom Zufall. Es ist Zufall, dass jetzt gerade
ein Ziegel vom Dache fällt und mich trifft. Dies heißt wiederum nicht,
dass das Herabfallen des Ziegels keine Ursache habe oder unabhängig von
den Naturgesetzen geschehe. Es hat seine Ursache in der Schwerkraft, in dem
Umstande, dass der Ziegel schlecht festgemacht war oder im Laufe der Zeit sich
gelockert hat; vielleicht auch darin, dass jetzt eben ein stärkerer Windstoß kam usw.
Sondern – was ich in diesem Falle mit dem Zufall sagen will, ist nur dies,
dass ich die Ursache nicht kenne. So ist überhaupt der Zufall – ebenso
wie nach früher Gesagtem das »Können« - ein Ausdruck – nicht für das Fehlen von Ursachen, sondern für
unsere Unkenntnis derselben. Wir
setzen an die Stelle der unbekannten Ursache dieses Wort, an Stelle der bestimmten
Größe dieses X. Wir sind soweit entfernt, damit die Existenz von
Ursachen leugnen zu wollen, dass wir eben durch den Gebrauch des Wortes »Zufall«
zu erkennen geben, es seien,
wo die bekannten Ursachen fehlen, unbekannte vorhanden.
Schließlich machen wir den Zufall sogar zu einem geheimnisvollen
und mit besonderer Fähigkeit
des Wirkens oder des Verursachens ausgestattetem Wesen. Wir reden von der besonderen
Macht, von dem Dämon des
Zufalls, von der Tücke dieses Dämons
usw.
Müssen wir nun aber das Gesetz von der Verursachung der Natur
unseres Geistes zufolge auf jedes Geschehen anwenden, dann können wir nicht
umhin, es auch auf die menschlichen Willensakte anzuwenden. Und dies tun wir
denn auch, wenn wir nachdenken, unweigerlich.Ich mache jetzt wiederum die Fiktion, die ich oben dem Vertreter
der »Zufallsfreiheit«, ich meine der
indeterministischen Willensfreiheit, in den Mund legte: Ich kenne das ganze
Wesen, den Charakter, die Gesinnung, jede innere Regung eines Menschen, der
jetzt eine bestimmte Handlung vollbringt, völlig genau. Ich kenne ebenso
alle Einwirkungen, die von außen her auf seine Persönlichkeit geschehen.
Nun mache ich die Annahme, alle diese Voraussetzungen kehren irgendwo in der
Welt genau in der gleichen Weise wieder. Genau der gleiche Mensch erlebe genau
das Gleiche. Dann erwarte ich mit Gewissheit den gleichen Willensentscheid.
Träte tatsächlich ein anderer Willensentscheid an die Stelle, so würde
ich fragen, und jeder andere, auch der Indeterminist würde fragen: Wie
geht dies zu? Wie erklärt sich diese Verschiedenheit? Und darin läge
ohne weiteres das Zugeständnis, dass die Verschiedenheit
irgendwie sich erklären, also irgendwelchen Grund
haben müsse.
Und dies heißt nichts anderes als: Es muss im zweiten Falle irgendetwas
vorliegen, es muss da irgendein der Beobachtung entgangener Umstand obgewaltet
haben, der bewirken konnte, dass
der Willensentscheid in diesem zweiten Falle ein anderer wurde. Ohne dies wäre
uns die andere Beschaffenheit des zweiten Willensentscheides nicht verständlich,
nicht begreiflich, kurz undenkbar.
Dies heißt: Die indeterministische »Freiheit«
oder die »Zufallsfreiheit« ist
undenkbar. Sie ist demgemäß auch nie gedacht worden. Man hat
die entsprechenden Worte gebraucht, aber das, was sie sagen, nie gemeint.
Vor allem wichtig ist uns nun aber, ebenso wie dem Indeterministen selbst, die
ethische Bedeutung dieser sogenannten »Freiheit« des Willens. Wir
sahen: Mit der deterministischen Willensfreiheit ist die Zurechnungsfähigkeit
oder Verantwortlichkeit ohne weiteres gegeben. Es braucht also zunächst
der Indeterminist die Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit durch
seinen Indeterminismus nicht zu retten. Aber
er rettet sie nicht bloß nicht, sondern er vernichtet
sie. Der Indeterminismus ist in
sich selbst die Leugnung
derselben.
Soweit die Beschaffenheit eines Willensentscheides nicht durch mich verursacht,
nicht in meiner Persönlichkeit gegründet ist, nicht meinem Wesen entstammt,
kurz, nicht so ist, wie sie ist, weil ich so bin, wie ich bin, sondern unabhängig
von meinem Wesen sich vollzieht, so dass sie der Beschaffenheit meiner Persönlichkeit
zum Trotz so oder so sein kann, geht der Willensentscheid, trivial
gesprochen, mich gar nichts an.
Es ist etwas mir Fremdes, ein mir widerfahrendes Schicksal. Er ist gar nicht
mein, sondern irgendein
Willensentscheid, nicht mein Tun, sondern ein Ereignis, ein Geschehen, das zufällig
ohne mein Zutun in mir sich abspielt, oder sich vollzieht. Ich darf gar nicht
sagen. »Ich will«, sondern: »Es will«;
so etwa wie ich sage: »Es« regnet.
Für ein solches »Wollen« kann ich nicht verantwortlich gemacht
werden. Es wäre gedankenlos, einem Menschen ein Wollen zuzurechnen, das
tatsächlich nicht auf seine auf seien Rechnung fällt, d. h. nicht
in ihm seine Ursache hat. Es ist ein Widersinn, den Baum verantwortlich zu machen
für die Beschaffenheit der Früchte, die nicht in der Natur des Baumes
begründet liegt.
Beachten wir aber auch noch die weiteren Konsequenzen, die sich aus solchem
Indeterminismus ergeben würden. Ein Mensch von bewährter edler Gesinnung
stehe vor der Wahl, eine Niederträchtigkeit zu begehen, oder sie zu unterlassen.
Seine Fähigkeit ruhiger Überlegung sei nicht getrübt. Zum Überflusse
nehme ich an, es erwachse ihm aus der niederträchtigen Handlung kein wichtiger
Vorteil. In solchem Falle erwarten wir mit Sicherheit, dass die niedrige Handlung
von dem Menschen nicht begangen werde. Wir sagen: Dass er sie begehe, ist völlig
unmöglich. Wir müssten uns in ihm völlig geirrt haben, er müsste
in seinem ganzen Wesen ein völlig anderer sein.
Nicht so der Vertreter jener unmöglichen Willensfreiheit.
Nach seiner Meinung, oder genauer nach der Konsequenz seiner Worte, mag der
Mensch noch so edel sein. Dies hindert doch nicht, dass das Niederträchtige
von ihm getan werde. Nicht etwa in einer momentanen Verwirrung. Eine solche
haben wir soeben ausdrücklich ausgeschlossen. Und wir würden ja auch
damit wiederum eine Ursache der
schlechten Handlung statuieren. Sondern mit vollem Bewusstsein. Vielleicht zwar
unterlässt der »Edle« die schlechte
Handlung tatsächlich. Aber wir dürfen dann nicht sagen: Es kann nicht
anders sein. Die indeterministische Willensfreiheit besteht ja eben darin, dass
der Willensentscheid jederzeit auch ein anderer sein »könnte«.
Wir müssen also gewärtig sein, dass er in einem anderen,
völlig gleichen Falle die schlechte Tat allerdings begeht.
Was davon die praktische Folge wäre, ist leicht zu sehen. Jeder von uns
täte gut, sich eine für jeden anderen unzugängliche Festung zu
bauen. Niemand, auch nicht seine besten und bewährtesten Freunde dürfe
er einlassen. Er hätte ja von ihrer indeterministischen Willensfreiheit
jeden Augenblick das Übelste zu gewärtigen. Und auch solche freiwillige
Isolierhaft hälfe zu nichts. Wir selbst wären ja auch indeterministisch
»willensfrei«. Wir müssten also
einen Wärter haben. Aber auch diesem dürften wir nicht trauen.
So wäre überhaupt durch solche angebliche Freiheit alles Vertrauen
zerstört. Alles Vertrauen in menschliches Wollen und Handeln beruht nun
einmal auf der Erwartung, dass ein Charakter, eine Gesinnung, kurz eine bestimmt
geartete Persönlichkeit ihrer Art entsprechend sich verhalte. Je sicherer
und fester gewurzelt die gute Gesinnung ist, um so sicherer erwarten wir die
gute Handlung, um so mehr sagen wir, dieselbe müsse geschehen. Alles Vertrauen
auf Menschen beruht auf unserer Überzeugung von der allgemeinen Gültigkeit
des Kausalgesetzes. Sittliches Vertrauen ist lediglich ein Beispiel des allgemeinen
Vertrauens, dass dann, wenn eine Ursache gegeben ist die zu ihr nun einmal gehörige
Wirkung nicht ausbleiben werde. Es ist, anders ausgedrückt, lediglich ein
Beispiel des Vertrauens in die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens in
der Welt. Umgekehrt, herrscht das Kausalgesetz auf dem Gebiete des Wollens nicht,
dann ist alles sittliche Vertrauen zerstört.
Damit ist zugleich jede Erziehung, jede Aufmunterung oder Belohnung, jede Drohung
oder Strafe ohne Sinn und Zweck. Mit alle dem zielen wir ja schließlich
ab auf Herbeiführung oder Erhaltung einer sittlichen Beschaffenheit von
Persönlichkeiten. Und von dem guten Baume erwarten wir dann gute Früchte.
Dagegen sagt uns der Vertreter jener indeterministischen Willensfreiheit: Die
guten Früchte können wohl wachsen. Aber es können jederzeit ebenso
wohl schlechte Früchte an ihre Stelle treten.
Hier nun aber beschuldigt uns der Indeterminist einer Übertreibung. Wiederum
sagt er, so sei die Sache nicht gemeint. – Auch der Indeterminist gehört
zu denjenigen, bei denen die Sache immer »anders
gemeint« ist.
Wir hören: Von einer schrankenlosen Freiheit im indeterministischen Sinne
sei nach seiner, des Indeterministen Meinung, freilich keinen Rede. Sondern
diese Freiheit bestehe nur innerhalb gewisser Grenzen aber bestehe sie
gewiss.
Dann frage ich. Was heißt dies? Drei Möglichkeiten bestehen, soviel
ich sehe. Man sagt vielleicht zunächst: Gewisse Willensentscheidungen sind
verursacht, andere sind nicht verursacht. Dann frage ich: Welche sind der einen,
und welche sind der anderen Art? Sind etwa die sittlich bedeutungsvollen determiniert
oder verursacht? Oder verhält es sich umgekehrt? Oder in der Sprache des
Indeterministen gesprochen: Sind die sittlich bedeutungsvollen Handlungen unfrei,
die sittlich bedeutungsloseren frei? Oder verhält es sich umgekehrt?
Beides kann nicht die Meinung des Indeterministen sein. Wir brauchen uns hier
nur wiederum zu erinnern, warum überhaupt der Indeterminist seine Theorie
aufstellt. Er tut es, wie schon gesagt, aus ethischen Gründen. Er tut es,
weil der Mensch für unfreie
Willensakte, also nach dem Freiheitsbegriff des
Indeterministen für Willensakte, die verursacht sind, nicht verantwortlich
gemacht werden kann, weil solche Willensakte nicht als sittlich gepriesen, bzw.
als unsittlich gebrandmarkt oder gar gestraft werden dürfen.
Dann hat es natürlich keinen Sinn, zu sagen, die sittlich
bedeutungsloseren Handlungen
seien undeterminiert, die sittlich bedeutungsvolleren
determiniert. Denn dies würde heißen: Wir seien lediglich für
die sittlich bedeutungsloseren
Handlungen verantwortlich,
für die sittlich bedeutungsvolleren dagegen
bestehe keine Verantwortlichkeit.
Sondern die Sache müsste umgekehrt sein. Machen wir aber die umgekehrte
Annahme, nehmen wir also an, die sittlich bedeutungsvollen
Handlungen seien die »freien«, so bleibt
es bei dem vorhin Gesagten: Da Freiheit mit Undeterminiertheit, oder Unverursachtheit
gleichgesetzt wird, so wären die sittlich bedeutungsvollsten, also insbesondere
die edelsten Handlungen am sichersten undeterminiert, d. h. nicht in der Gesinnung
oder der Persönlichkeit begründet. Wir könnten uns auf ihr Eintreten
am wenigsten verlassen. Wir müssten bei ihnen am meisten gewärtig
sein, dass an ihre Stelle auch einmal eine durchaus unedle Handlung träte.
Wir dürften zu denjenigen, die wir wegen edler Handlungen selbst edel nennen,
am wenigsten Vertrauen haben.
Oder man meint: Alle Willensentscheidungen seien in gewissen Grundzügen
durch die Beschaffenheit der Persönlichkeit
bestimmt oder determiniert. Der Mensch mit edler Gesinnung etwa könne nicht
völlig unedel handeln, er könne nicht die klar erkannte Pflicht bewusst
verletzen. Aber die Einzelheiten seines Handelns, die spezielle Weise, wie er
seine edle Gesinnung kundgebe, sei nicht verursacht.
Auch dies kann natürlich wiederum nicht die ernstliche Meinung des Indeterministen
sein. Denn daraus würde sich ja für ihn ergeben, dass der Mensch nur
für das Nebensächliche
an seinen Willensentscheidungen verantwortlich wäre, nicht für das,
was ihren eigentlichen sittlichen Charakter ausmacht. Es könnten uns insbesondere
edle und verwerfliche Handlungen nicht zugerechnet werden, sofern sie edel und
verwerflich, sondern nur, sofern sie in dieser oder jener Weise zur Ausführung
gebracht sind.
Endlich könnte man jene beschränkte indeterministische Willensfreiheit
so näher bestimmen, dass man versicherte: Die Persönlichkeit, der
Charakter, die Gesinnung bestimmt alle Willensakte, und sie bestimmt dieselben
nicht nur in ihren Grundzügen, sondern auch in ihren unwesentlicheren Besonderheiten.
Aber kein Willensentscheid ist dadurch absolut
bestimmt. D. h. wir dürfen zwar, wenn wir
wissen, die Gesinnung eines Menschen sei eine edle, mit einiger
Sicherheit erwarten, dass er edel
handeln werde, aber unsere Sicherheit kann nie eine vollkommene sein. Oder anders
ausgedrückt: Die Gesinnung macht es wahrscheinlich,
dass die Handlung ihr entspreche; zugleich aber bleibt doch auch ein geringener
Grad der Wahrscheinlichkeit des Gegenteils.
Damit nun wäre unser bisheriges Bedenken gegen die indeterministische Willensfreiheit
vermindert. Aber es wäre nicht beseitigt. Angenommen, in einem Kästchen
finden sich zwölf Glück bringende und sechs Unglück bringende
Kugeln. Dann ist es wahrscheinlicher, dass ich eine Glück bringende Kugel
ziehe. Aber der Gedanke an die Unglück bringenden Kugeln lässt mich
vielleicht nur mit äußerstem Unbehagen in das Kästchen hineingreifen.
Vielleicht ziehe ich es vor, dasselbe gar nicht zu berühren. Ohne Bild
gesprochen: Wenn die Handlung des edlen Menschen zwar wahrscheinlich eine edle
ist, möglicherweise aber auch eine durchaus unedle, dann würde ich
mir der Sicherheit halber auch nicht nur den unedlen, sondern auch den edlen
Menschen vom Leibe halten. Ich würde mich jedenfalls mit einigem Zittern
und Zagen in seine Nähe begeben. Etwa so, wie ich mich während eines
Gewitters mit Zittern und Zagen unter einen schützenden Baum stelle. Der
Baum schützt mich zunächst, und die Wahrscheinlichkeit, dass der Blitz
gerade in diesen Baum schlagen wird, ist sehr gering. Aber es könnte
doch immerhin geschehen, dass er ihn träfe.
Noch eine Bemerkung habe ich aber hier hinzuzufügen. Bestände keine
Sicherheit, dass jede edle, und
zugleich durchaus frei, nämlich in unserem
Sinne frei sich auswirkende Gesinnung entsprechend edle Handlungen
hervorbringe, so würde es doch dabei bleiben, dass wir jedes Mal mit um
so größerer Sicherheit
von der edlen Gesinnung Edles erwarten, je edler
sie ist. Von einem Heiligen schließlich würden wir mit voller Sicherheit
nur gute Taten erwarten. Wir würden sagen, er könne nur gut handeln.
Dies heißt dann für den Indeterministen, einem Heiligen dürften
wir das Gute, was er vollbringt, nicht mehr zurechnen, ihn dürften wir
ihn darum nicht preisen. Sein tun entbehrte des sittlichen Wertes.
Wir nennen Gott den Heiligen.
Von ihm sagen wir demgemäß in der Tat, er könne
nicht anders als das Gute wollen. Bei ihm, meinen wir, folge
das Gute mit Notwendigkeit aus
seinem Wesen. Gott also dürfen wir, wenn der
Indeterminist recht hat, in jedem Falle sein Tun nicht mehr
»zurechnen«, d. h. wir dürfen ihn nicht mehr um seines
heiligen Tuns willen selbst als den Heiligen preisen.
Aber tatsächlich tun wir dies. Wir meinen, die Heiligkeit seines Wesens
offenbare sich eben in seinem
heiligen Tun. Und auch der Indeterminist meint dies. Auch er gibt zu, dass ein
Gott nicht als heilig gepriesen werden könnte,
der nicht jederzeit das vollkommen Gute wollte und vollbrächte. Auch er
also macht in diesem speziellen Falle den sittlichen Wert des Wollens und Tuns
zum Maßstab für den sittlichen Wert des Wesens. Er rechnet ihn also
diesem Wesen zu. Er tut dies trotz der mangelnden Willensfreiheit in seinem
Sinne des Wortes. – Aber freilich, dem hartnäckigen
Indeterministen verschlägt ein solcher Widerspruch
nichts.
Schließlich hat der Indeterminist noch einen Einwand gegen den Determinismus,
der für manche etwas besonders Verführerisches zu haben scheint. Gilt
das Gesetz der Verursachung allgemein, so gilt es auch für die
menschliche Persönlichkeit,
oder ihren Charakter, ihre Gesinnung. Diese Persönlichkeit ist also so
beschaffen, wie sie ist, weil die Umstände, unter denen sie geworden ist,
so waren, wie sie waren. Auch sie kann unter
Voraussetzung dieser Umstände nicht anders sein oder gedacht werden, als
sie ist.
Daraus nun zieht man den Schluss: Also »kann
ich nichts dafür«, dass ich dieser Mensch, dass ich
dieses Wesen, diesen Charakter, diese Gesinnung habe Und sofern meine Gesinnung
Ursache ist meines Handelns, kann ich dann auch nichts für mein Handeln.
Ich bin demnach für meine Gesinnung, also auch für mein Handeln, nicht
verantwortlich; oder: Meine Gesinnung, also auch mein
Handeln, kann mir nicht zugerechnet werden.
Diese Schlussfolgerung nun ist zunächst wiederum ein Spiel mit Worten:
Entstammt mein Handeln meinem Charakter, meiner Gesinnung, oder kurz mir,
so wie ich bin, so »kann ich« zweifellos
»für« mein Handeln. Dass ich »dafür
kann«, dies besagt
ja gar nichts anderes besagen wollen,
als dass die Handlung mir entstammt. Und auf diesem gleichen Tatbestande beruht,
wie wir sahen, die Möglichkeit
der Zurechnung der
Handlung oder die Verantwortlichkeit für dieselbe.
Dagegen trifft die Behauptung, meine Gesinnung
oder mein Charakter könne
mir nicht zugerechnet werden, in gewisser Weise zu. D. h. meine Gesinnung kann
mir nicht zugerechnet werden, weil sie mir gar nicht erst zugerechnet zu werden
braucht. Sittliche Zurechnung der Handlung ist,
wie wir wissen, Übertragung des sittlichen Werturteils von der Handlung
auf mich oder meine Persönlichkeit. Sittliche Zurechnung meiner Gesinnung
wäre also Übertragung des sittlichen Werturteils
von meiner Gesinnung auf mich
oder meine Persönlichkeit. Dieser Übertragung nun bedarf es nicht.
Der Wert meiner Gesinnung, das ist eben von Hause aus mein Wert.
Diesen Tatbestand können wir aber, wenn wir wollten, ebenso wohl ausdrücken,
dass wir sagten: die Zurechnung der Gesinnung
sei überall selbstverständlich; eine
Gesinnung, die als meine Gesinnung erkannt, und doch nicht mir zugerechnet würde,
wäre ein Widerspruch in sich selbst.
Damit wäre die soeben zugestandene Behauptung in ihr Gegenteil verkehrt.
Dies scheint sonderbar. Aber die Lösung des Rätsels ist einfach: Der
Begriff der Zurechnung und ebenso der der Verantwortlichkeit kann eben in Wahrheit
auf die Gesinnung gar
nicht angewendet werden.
Er verliert bei dieser Anwendung völlig seinen eigentlichen Sinn.
Im Übrigen bedarf die vorhin vorgetragene Schlussfolgerung einer sachlichen
Berichtigung. Die Behauptung, ich »könne
nichts für« meine Gesinnung oder meinen Charakter hat zweifellos
den Sinn. Meine Gesinnung oder mein Charakter sei, so wie er sei, ohne
mein Zutun. Dies
nun trifft nun zu. Gewisse Züge meines Charakters sind mir freilich angeboren.
Für die also »kann ich nichts«.
Andererseits haben die Umstände, die Dinge und Menschen an meinem Charakter
mitgearbeitet. Und auch für diese Umstände kann ich vielleicht nichts.
Aber auch jeder Gedanke, den ich vollzogen habe,
jedes vergangene eigene Wollen, jedes Nachgeben gegen eine Versuchung oder Widerstehen
gegen eine solche hat auf meinen Charakter, so wie er jetzt ist, mitbestimmend
gewirkt. Ich habe also doch etwas dazu getan. Und ich
»tue« in jedem Augenblick von neuem etwas »dazu«.
Freilich ist auch jeder dieser Gedanken oder Willensakte, jedes Nachgeben oder
Widerstehen, wiederum begründet in meinem Charakter, und den Einwirkungen
von außen. Gesetzmäßig
hat sich jedes Stadium meines geistigen und sittlichen
Daseins aus dem vorangehenden entwickelt. Und überblicke ich das Ganze
dieser Entwicklung und frage nach der Ursache dieses Ganzen,
so muss ich freilich sagen: Das Ganze als Ganzes hat nicht
in mir seine Ursache. Ich müsste ja sonst da gewesen sein, ehe ich da war.
Aber dies alles hindert nicht, dass ich in jedem Augenblicke »dafür
kann«, dass ich so oder so mich verhalte;
genau so weit nämlich, als mein Verhalten in mir seinen Grund hat. Es hindert
nicht, dass es in jedem Augenblicke »an
mir liegt«, wenn ich nicht sittlicher
mich verhalte; wiederum genau so weit, als der Mangel meines
sittlichen Verhaltens in mir begründet ist. Auch dass etwas »an
mir liegt« besagt ja, ebenso wie jenes »Dafür
können«, nichts anderes, als eben dies Begründetsein
des Verhaltens in mir.
Vor allem ist durch das Gesagte dies nicht aufgehoben, dass meine gute
Gesinnung gut, meine
schlechte Gesinnung schlecht,
also jene Gegenstand der sittlichen Anerkennung,
diese Gegenstand des sittlichen Tadels
sind.
Oder was in aller Welt hat die sittliche Beurteilung meiner Gesinnung mit der
Frage zu tun, woher dieselbe letzten Endes stammt? Wenn ein Baum prächtig
emporwächst, wenn er gesund und kräftig, wenn dagegen ein anderer
innerlich schwach, krank, elend ist, fragen wir dann, wie dies komme,
um darnach unser
Werturteil, im besonderen etwa
unser Schönheitsurteil zu bestimmen? Gewiss hat beides seinen Grund. Aber
ist darum der prächtige Baum elend, der elende prächtig?
Oder jemand ist arm an Erkenntnis, in allerlei Irrtümern befangen. Und
wir begreifen wohl, warum dem
so ist. Er besitzt vielleicht von Hause aus geringe Begabung oder hat wenig
Gelegenheit gehabt, zu lernen. Aber ist er darum nicht geistig arm, sondern
reich, nicht beschränkt, sondern klug.
So ist auch unser Urteil über die Gesinnung oder den Charakter eines Menschen
völlig unabhängig davon, wie der Mensch dazu gekommen ist, diese Gesinnung
oder diesen Charakter zu haben. Der Mensch hat unter allen Umständen den
sittlichen Wert, den er hat, und wir dürfen und müssen ihn darnach
bewerten. Unser Verständnis
der Herkunft dieses sittlichen
Wertes macht denselben weder größer noch geringer, kann also auch
unsere Bewertung nicht ändern.
Damit ist nicht ausgeschlossen, dass das Verständnis einer Handlungsweise
uns allerdings oft genug zu einem milderen – gelegentlich freilich auch
zu einem schärferen – Urteil über eine Person veranlassen mag.
Insofern, aber auch nur insofern, gilt der Satz: Alles
verstehen heißt alles verzeihen. Die Gesinnung
eines Menschen aber kann dadurch, dass wir sie verstehen, d. h. einsehen, wie
sie geworden ist und werden musste, nicht verzeihlicher, d. h. minder tadelnswert
werden.
Die Tatsache, dass auch unsere Gesinnung und ihr Werden dem Gesetz der Verursachung
unterliegen, hat aber auch noch eine hohe praktisch-ethische
Bedeutung. Jedes Geschehen hat seine Ursache. Der Satz hat auch
seine Kehrseite: Jedes Geschehen hat auch seine Wirkung. Ich sagte soeben schon:
Jeder Gedanke, jedes Wollen, jedes Nachgeben und Überwinden arbeitet an
der Entwicklung unseres Charakters mit.
Man hat wohl gemeint, wenn die Entwickelung unseres Charakters durch die Summe
der auf ihn einwirkenden Faktoren eindeutig bestimmt sei, als daraus mit Notwendigkeit
sich ergebe, so bleibe uns nichts übrig, als die Hände in den Schoß
zu legen, und uns von dieser Notwendigkeit treiben zu lassen. Davon gilt in
Wahrheit das genaue Gegenteil. Man vergisst, wenn man so redet, dass zu den
Faktoren, die auf meinen Charakter wirken, in erster Linie mein
eigenes Tun gehört. In der Tat ist die Wirkung keines
der Faktoren, die hier in Betracht kommen eine so unausgesetzte
und unmittelbare.
So ergibt sich aus der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Entwickelung
des Charakters nicht Entmutigung, sondern Ermutigung. Ich weiß: Nichts,
was ich denke oder tue, keine Regung in mir, ist verloren. Sondern alles wirkt
in meinem Wesen nach.
Zugleich liegt in jener Tatsache freilich auch eine ernste
Mahnung. Ich darf nicht glauben,
mich ohne Schaden für mich selbst gehen zu lassen, etwa einer Versuchung
nachgeben zu können. Ich darf mich nicht damit trösten, ich könne
ja doch ein anderes Mal wiederum vernünftig, tüchtig, gut sein. Sondern
ich muss wissen: Habe ich in diesem Momente irgendwie innerlich verhalten, so
bin ich dadurch im nächsten Momente ein anderer geworden. Und aus diesem
anderen Menschen ergeben sich andere Weisen des Verhaltens. Ich bin im folgenden
Momente stärker oder schwächer.
Und eine gleichartige ernste Mahnung ergibt sich
aus jener Einsicht für unser Verhalten zu anderen.
Auch jedes Verhalten einem anderen gegenüber macht aus dem anderen in irgendwelcher
Weise einen anderen. Es fördert oder schädigt sein Wesen. Es bist
auch hier nichts verloren. Solche Wirkungen mögen in jedem einzelnen Falle
unmerklich klein sein. Aber auf sittlichem Gebiete, d. h. auf dem Gebiete der
absoluten Werte, ist auch die kleinste
Wirkung wichtig. Zudem summieren sich kleine Wirkungen zu großen. Wir
sind also, eben weil das Kausalgesetz auch für das Werden des Charakters
gilt, nicht nur für uns, sondern auch für die
anderen, auf die wir wirken, sittlich verantwortlich.
Dagegen wäre jene resignierte Meinung, man tue am besten, die Hände
in den Schoß zu legen, allerdings am Platze, wenn auf dem Gebiete des
Wollens und der Gesinnung das Kausalitätsgesetz keine Geltung hätte,
wenn also der Indeterminismus
im Recht wäre. Was wir auch täten, wie wir uns auch uns selbst und
anderen gegenüber verhielten, immer wiederum könnte »frei«,
d. h. ursachlos, in uns bzw. den anderen dies oder
jenes Wollen Platz greifen. Weder an uns selbst, noch an anderen könnten
wir mit der Erwartung sicheren Erfolges arbeiten. Wir könnten also weder
für die Willensakte und Handlungen, die wir selbst, noch für diejenigen,
die andere in der Folge vollbringen mögen, verantwortlich
sein.
So erweist sich auch hier wiederum die Geltung des Kausalgesetzes auf dem Gebiete
des menschlichen Wollens, oder der Determinismus, als Voraussetzung der sittlichen
Verantwortlichkeit; der Indeterminismus als ihr Zerstörer oder Leugner:
Es steht fest: Freiheit des Wollens ist Bedingung der
sittlichen Verantwortlichkeit. Aber damit kann immer nur die wirkliche Freiheit
gemeint sein, die Freiheit, die das natürliche Denken meint, wenn von Freiheit
die Rede ist, also die deterministische. Es ist die Freiheit, die wir
kurz damit bezeichnen können, dass wir sagen: Frei
ist der Mensch in dem Maße, als er selbst Täter seiner Taten ist.
Was aber die indeterministische »Willensfreiheit«
betrifft, so dürfen wir sagen: Gott sei Dank, dass
es dergleichen nicht gibt, noch irgendwo in der Welt geben kann. S.
257-290
Nach: Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen. Zehn Vorträge, 2. Auflage,
Verlag von Thedor Voß, Hamburg und Leipzig 1905 (unter Berücksichtigung
der neuen Rechtschreibung)Gut
und Böse
Aus dem zehnten Vortrag
Es gibt den Mangel und das
Böse in der Welt. Aber es gibt in ihr auch das Gute.
Alles positiv Menschliche ist gut, und ein Stück des absolut Guten, der
sittlichen Persönlichkeit.
Das absolut Gute, also
die sittliche Persönlichkeit, und damit zugleich das Reich der sittlichen
Persönlichkeiten, soll unbedingt
sein. Stellen wir diese Forderung,
dann müssen wir zugleich fordern, dass dies absolut
Gute sein oder werden könne, dass
der Weltverlauf auf seine Verwirklichung
abziele; dass ein sittlicher
Endzweck dasjenige sei, was die Welt im letzten Grunde bewege; dass also der
letzte Weltgrund geistig-sittlicher Art sei.
So treibt uns das sittliche Bewusstsein zum religiösen Glauben. Es gibt
keine Religion, die in sich sicher gegründet wäre, außer derjenigen,
die auf solchem sittlichen Grunde beruht.
Drei Aufgaben stellt Kant der Philosophie. Sie
solle die Fragen beantworten:
Was können wir wissen?
Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Auf jene erste Frage
kann eine obzwar nur negative
Antwort sicher gegeben werden,
dass uns nämlich das Wissen von den höchsten
und letzten Dingen versagt sei.
Und was sollen wir tun? – Das Gute. Was dies heißen wolle, darüber
habe ich in diesen Vorträgen einiges zu sagen versucht.
Und was dürfen wir hoffen? Dass das Gute, das wir an unserem Teile zu verwirklichen
uns bemühen sollen, im Ganzen der Welt, obzwar in endlosem Fortschritt,
zur vollen Verwirklichung gelangen werde. S. 326f.
Nach: Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen. Zehn Vorträge, 2. Auflage,
Verlag von Thedor Voß, Hamburg und Leipzig 1905 (unter Berücksichtigung
der neuen Rechtschreibung)