Gottlob
Friedrich Lipps (1865 – 1931)
Deutscher Philosoph und Psychologe, der ein Bruder Theodor
Lipps und Schüler Wundts war. Seit 1911 war G. F. Lipps an der Universität Zürich als Professor der Philosophie und Pädagogik tätig und Direktor des Psychologischen Instituts bis zu seinem Tod.
Der gute und
der böse Wille
Der Glaube als Quelle der
Erkenntnis
Der Wille als Grund des Lebens
Das Wirken des Willens
Die Freiheit des bösen
Willens
Der unfreie Wille
Die menschliche Freiheit
und der Urgrund des Geschehens
Zurechnung und Strafe
Der gute und der böse
Wille
Der
Glaube als Quelle der Erkenntnis
In der Zeit als Boetius (524
n. Chr.) seine Tröstungen der Philosophie schrieb, war in der Tat schon eine andersartige, auf die Einsicht des Vernunftwirkens
zwar sich stützende, aber doch auch diese Einsicht tiefer begründende
Auffassung vom Urgrunde der Welt und vom Wesen des Menschen entwickelt worden.
Sie wurde durch das Bedürfnis veranlasst, die Lehren der christlichen Kirche
gegen Angriffe zu verteidigen und zu einem in sich geschlossenen Bau zusammenzufügen.
Sie fand ihre Begründung und ihre für die Folgezeit maßgebende
Ausgestaltung durch den Kirchenvater Augustin in
dem, in den Jahren 413 – 426 verfassten Werke
vom Gottesstaat (de civitate dei).
Augustin erblickt im Glauben
die Quelle der Erkenntnis. Er nennt es etwas Großes und überaus
Seltenes, über die ganze, vergängliche Schöpfung im Geiste sich
zu erheben und zu der unvergänglichen Wesenheit Gottes zu gelangen, um
dort von Gott selbst zu vernehmen, dass er die gesamte Welt, die nicht ist,
was er selbst ist, geschaffen hat. Soll aber der Mensch, dessen natürliches
Erkenntnisvermögen verdunkelt und geschwächt ist, imstande sein, das
»unwandelbare Licht«
der Wahrheit zu ertragen, so muss er »mit dem Glauben erfüllt
und durch den Glauben gereinigt werden, bis er mehr und mehr erneuert und geheiligt
einer so großen Glückseligkeit fähig wird«.
Was ist nun dieser Glaube? –
Da er, wie Augustin sagt, es möglich macht,
das »unwandelbare Licht« der Wahrheit zu schauen, so könnte es scheinen, dass er nichts anderes als der vollendete
Zustand des Erkennens sei.
Plato hat ja auch den Prozess des Erkennens, der
von der trügerischen Sinnenwelt in das Reich des wesenhaften Seins führt,
an dem Empordringen aus dem Dunkel einer unterirdischen
Höhle zum hellen Licht der Sonne veranschaulicht. Er vergleicht den
zur Erkenntnis gelangenden Menschen mit dem Höhlenbewohner, der anfänglich,
an Händen und Füßen gefesselt, nur die Schatten sehen kann,
die von einem hinter ihm brennenden Feuer herrühren und vor seinen Augen
an der Wand der Höhle hingleiten, der aber sodann, von den Fesseln befreit
und in das Licht der Sonne gebracht, allmählich die Dinge in der Helligkeit
des Tages zu betrachten lernt und schließlich die Sonne selbst zu schauen
vermag und in ihr den Urquell alles Lebens erkennt.
Der Glaube ist jedoch im Sinne Augustins kein im sicheren Gange methodischer Forschung fortschreitendes Erkennen. Es
ist vielmehr ein besonderer, eigenartiger Zustand, den man erst kennen lernt,
wenn man ihn erlebt. Solange man ihn noch nicht erlebt hat, befindet sich im
Zustande des Unglaubens, der den natürlichen Zustand bedingt, in dem man
zu der jedermann zugänglichen, auf die Sinneswahrnehmung und das Denken
sich gründenden Erkenntnis gelangt. Der Glaube hingegen
führt zur Erkenntnis der, dem Ungläubigen verschlossenen, übernatürlichen,
von Gott in den heiligen Schriften geoffenbarten Wahrheit.
Der Glaube und ebenso der Unglaube ist somit ein Zustand, der nicht im Erkennen
besteht, sondern das Erkennen bedingt und herbeiführt.
Das Erkennen kann daher nicht mehr, wie die Lehre vom Venunftwirken annimmt,
als die ursprüngliche Betätigung des geistigen Lebens gelten. Das
Ursprüngliche muss vielmehr in dem Zustande gesucht werden, der im Glauben
oder im Unglauben sich äußert.
Welcher Art dieser Zustand ist, wird uns deutlich, wenn wir darauf achten, dass
nicht nur das Erkennen und das – wie auch Augustin annimmt – aus dem Erkennen hervorgehende, mit Bewusstsein ausgestattete,
auf Ziele gerichtete Handeln, sondern überdies die ganze Beschaffenheit
des seelischen Lebens, die in den Stimmungen und Bewegungen des Gemüts
sich bekundet, durch den Glauben oder Unglauben unmittelbar bedingt ist. Auch
das Wünschen und Hoffen, das Frohsein und Traurigsein ist bei dem Gläubigen
anders als bei dem Ungläubigen, eben weil das ganze Leben anders ist.
Und da der Glaube oder Unglaube nicht im Erkennen wurzelt, so können ebenso
wenig jene Stimmungen und Bewegungen des Gemüts, die an unmittelbar an
den Glauben oder Unglauben geknüpft sind, in dem Erkennen ihren Grund haben.
Die aus der Lehre vom Vernunftwirken sich ergebende Auffassungsweise, dass die
Gemütsbewegungen entweder in einem Wahrnehmen und Wissen bestehen oder
daraus hervorgehen, kann demnach nicht festgehalten
werden.
Hält beispielsweise Aristoteles die Luft
für einen zu der Tätigkeit und zu dem, die Tätigkeit herbeiführenden
Wahrnehmen und Wissen hinzutretenden Folgezustand, so haben nun für Augustin
zugleich mit dem Glauben oder Unglauben auch die an ihn geknüpften
Stimmungen und Bewegungen des Gemüts als ursprüngliche Lebensäußerungen
zu gelten. Es muss daher dem Menschen ein ursprüngliches, als Glaube oder
Unglaube sich äußerndes eigenartiges Leben zuerkannt werden, aus
dem ebenso die Stimmungen und Bewegungen des Gemüts
wie auch die und übernatürlichen Betätigungen des Erkennens
hervorgehen.
Der
Wille als Grund des Lebens
Dieses ursprüngliche, eigenartige Leben findet Augustin
in Willen. Die Seele
wird, wie er sagt, »durch sich selbst«
in ihren Regungen und Bewegungen, in ihrem Wünschen und Hoffen,
in ihrem Frohsein und Traurigsein hin und her getrieben.
»Dabei kommt es auf die Beschaffenheit des Willens
an: ist er verkehrt, so sind auch die Gemütsbewegungen verkehrt; ist er
aber richtig beschaffen, so sind auch jene nicht nur schuldlos, sondern sogar
lobenswert. Der Wille ist nämlich in allen vorhanden, vielmehr sind alle
nicht anderes als Willensregungen«. (De
civitate dei; 1. XIV, c. 6.)
Dass wir den Kern oder das Wesen des Menschen tatsächlich im Willen zu
suchen haben, bestätigen, wie Augustin (De
civitate dei; 1. XI, c. 27.) hervorhebt, die
Menschen selbst, indem sie den Willen zu sein und zu leben als den Grundzug
ihres Wesens bekunden.
»Selbst die Elenden wollen nicht untergehen; wenn
sie sich elend fühlen, so möchten sie doch nicht ihr eigenes Sein,
sondern nur ihr Elend verlieren«.
Dies bezeugt die allgemein bekannte Sinnesart des Menschen.
»Warum nämlich fürchten sie den Tod und
wollen lieber in Trübsal leben, statt ihr durch den Tod ein Ende zu machen,
wenn nicht deshalb, wie vollkommen klar ist, weil ihre Natur vor dem Nichtsein
zurückschreckt? Darum empfinden sie, wenn sie das Herannahen des Todes
merken, es als eine große Wohltat, wenn man mitleidig für sie sorgt,
damit sie noch etwas länger in ihrem Elend leben und langsamer sterben«.
Zur Bestätigung dient auch, dass man in dem Verhalten aller Dinge, der
belebten und unbelebten, ein entsprechendes Streben nach Erhaltung des Seins
als Grundzug bemerken kann.
»Zeigen denn nicht«, sagt Augustin,
»alle unvernünftigen Tiere, die nicht denken
zu vermögen, von den ungeheuren Drachen bis zu den kleinen Würmchen,
dass sie sein wollen und deswegen durch alle ihnen möglichen Bewegungen
dem Untergang zu entrinnen suchen? Treiben nicht die Bäume und alle Sträucher,
die keine Sinne zur Vermeidung des Verderbens durch offenkundige Bewegungen
besitzen, um den Spross des Wipfels gesichert in die Lüfte strecken zu
können, so tief wie möglich ihre Wurzeln in die Erde, damit sie Nahrung
gewinnen und so ihr Sein erhalten? Ja selbst die Körper, die nicht nur
keine Sinne, sondern nicht einmal ein zur Fortpflanzung führendes Leben
haben, streben doch so in die Höhe oder steigen so in die Tiefe oder schweben
so in der Mitte, dass sie da, wo sie ihrer Beschaffenheit entsprechend weilen
können, ihr Sein erhalten«. (De
civitate dei; 1. XI, c. 27.)
Diese aus dem Willen als der ursprünglichen Lebenskraft hervorgehenden Betätigungen aller Dinge gelten jedoch in der Auffassungsweise
Augustins ebenso wie bei der Annahme eines ursprünglichen Vernunftwirkens
nur dann als begreiflich, wenn sie im Zustande des Bewusstseins oder in einem
dem Bewusstsein ähnlichen Zustande erfolgen. Darum muss dem in allen Dingen
wirksamen Willen die Fähigkeit zuerkannt werden, das Sein der Dinge, das
er begründet, soweit es möglich ist, bewussterweise zu erfassen. Dieses
Bewusstsein bleibt für die unbelebten Dinge ein unausgebildeter Keim. Auch
in den Pflanzen liegt es noch wie im Schlafe den unbewusst zweckmäßigen
Vorgängen der Ernährung und Samenbildung zugrunde. In den Tieren erwacht
es jedoch auf Grund der hervorgehenden Sinnestätigkeit und leitet die zur
Erhaltung des Lebens dienenden Bewegungen. Und im Menschen schließlich
entfaltet sich es sich im Denken und Erkennen zu dem vollen
Reichtum des geistigen Lebens.
.Das Bewusstsein ist in seiner unentwickelten und
in seiner entwickelten Form die Voraussetzung für
die Betätigung des Willens. Es begründet den Zustand des Verlangens
und Sehnens, der den Willen zur Tat führt.
Darum ist jedes Ding, das im Streben nach Selbsterhaltung sein eigenes Sein
erfasst, mit Liebe zu diesem Sein erfüllt.
Nicht bloß der Mensch liebt sein leibliches und geistiges Sein; überall,
wo der Wille zu bewusster Tätigkeit sich emporringt,
ist diese Liebe zu finden.
»Wären wir Tiere, so würden wir«
- sagt Augustin - »das
fleischliche Leben und, was seiner Sinnesart ist, lieben. Dies wäre dann
das uns befriedigende Gut, über das hinaus wir nichts erstreben würden,
da uns wohl wäre. Ebenso könnten wir, wenn wir Bäume wären,
zwar nichts mit Gefühl und Bewegung lieben, wir würden aber gewissermaßen
nach dem zu streben scheinen, was uns fruchtbarer machen und einen reicheren
Ernteertrag herbeiführen würde. Wären wir Steine oder Wasserwogen
oder Winde oder Feuerflammen oder etwas der Art, ohne jedes Empfinden und Leben,
so würde uns doch nicht ein gewisses Streben nach der uns zukommenden Stelle
und Ordnung im Raume fehlen. Denn die Gewichtsmomente beseelen die Körper
gleichsam mit Liebe, mögen sie durch die Schwere abwärts oder die
Leichtigkeit aufwärts streben. Es wird nämlich der Körper durch
sein Gewicht, wie der Geist durch seine Liebe getragen, wohin auch immer er
sich bewegt«.
(De civitate dei; 1. XI, c. 28.)
Es tritt so die Willenskraft, als der letzte Grund allen
Seins und Werdens, für die Auffassung derb ganzen Welt und jeglichen
Geschehens an die Stelle der von den antiken Philosophen vorausgesetzten Vernunftkraft.
Sie zeigt auch ihrerseits drei Momente in ihrem Wirken, indem sie
das Dasein der Dinge
begründet,
das begründete Sein erfasst und
in der Erhaltung des begründeten und erfassten Seins
sich betätigt.
Das
Wirken des Willens
Aber nicht nur das Wesen der geschaffenen Dinge lässt sich auf das Wirken
von Willenskräften zurückführen. Auch der göttliche Urgrund
alles Seins und Werdens ist als Wille denkbar: er ist die in sich beruhende
Allmacht, die sich selbst in vollkommener Weisheit erfasst und durch die Vermittelung
der Weisheit in lauter Güte sich betätigt. So bekunden sich in den
drei Momenten, die im Wirken des Willens als Begründung des Seins, als
bewusstes Erfassen des Seins und als Streben nach Betätigung des Seins,
unterschieden werden, die drei Personen der Gottheit:
Gott der Vater in dem ewigen allmächtigen Sein;
Gott der Sohn in der Weisheit
oder in dem Worte, durch das die Welt
geschaffen wurde;
Gott der heilige Geist in der Güte und Liebe, mit der sich der Wille in
der Schöpfung betätigt.
Wir finden somit in der Lehre vom Willenswirken eine
neue Auffassung vom Wesen des Menschen, die ebenso wohl auf die Gesamtheit der
geschaffenen Dinge wie auch den schaffenden Urgrund selbst übertragbar
ist und demgemäß eine in sich abgeschlossene Welt- und Lebensanschauung
begründet. Wir haben daher wie für die Lehre vom Vernunftwirken, so
auch für die Lehre vom Willenswirken festzustellen,
inwieweit der Mensch als frei und inwieweit er als gebunden gelten muss, und
ob nunmehr die Verwebung von Freiheit und Gebundenheit beim Vollzug einer und
derselben Handlung begriffen werden kann.
Um hierüber Klarheit zu gewinnen, bedürfen wir der Einsicht in die
Beschaffenheit des Willens und insbesondere in die Eigenart des schaffenden
göttlichen und des geschaffenen
menschlichen Willens.
Wollte man an dem Willenswirken nur das eine Merkmal festhalten, das auch das
Vernunftwirken auszeichnet, dass es nämlich den unmittelbaren Grund des
menschlichen Handelns und des gesamten Weltgeschehens darbietet, so müsste
in entsprechender Weise wie hinsichtlich des Vernunftwirkens der, den ganzen
Lauf der Welt bestimmende Gesamtwille seinen Ausgestaltungen, die er in jedem
Menschen und schließlich in jedem Dinge gewinnt, gegenübergestellt
werden. Und man könnte nur den Gesamtwillen als frei
ansehen, während jeder Einzelwille als durchaus
unfrei bezeichnet werden müsste. Denn die Handlungen der Menschen
und die sonstigen Geschehnisse in der Welt bilden ein in sich zusammenhängendes
Gewebe, das nirgends einen selbständigen Anfang erkennen lässt,
sondern jeden Teil in seiner Abhängigkeit vom Ganzen zeigt. Der im einzelnen
Menschen und in den einzelnen Dingen sich betätigende Wille dürfte
daher nur als ein Ausfluss des Gesamtwillens anerkannt
werden: er könnte nur das vollziehen, was der Gesamtwille beschließt.
Der göttliche Wille ist indessen
keineswegs ein solcher, im Denken erfassbarer, den ganzen Verlauf des natürlichen Geschehens umspannender Gesamtwille. Und
demzufolge ist auch der menschliche Wille und jeglicher
sonst noch hervortretende Einzelwille keineswegs ein bloßer
Ausfluss des göttlichen Willens, dem keine selbständige
Bedeutung zuerkannt werden könnte.
Dies wird uns deutlich, wenn wir beachten, dass es der Glaube ist, der hier
die Einsicht in dem Ursprung alles Seins und Werdens, allen Entstehens und Vergehens vermittelt. Der Glaube ist aber nicht ein von
der sinnlichen Wahrnehmung zur Begriffsbildung fortschreitendes Erkennen, sondern
eine eigenartige Lebensäußerung, der Sinneswahrnehmung insofern vergleichbar,
als der Gläubige gewissermaßen mit einem neuen Sinne begabt zu sein
scheint, so dass ihm der Inhalt des Glaubens wie eine
unmittelbar erlebte Wirklichkeit sich darbietet, die ebenso wenig wie
die mit den Sinnen wahrgenommene Wirklichkeit in Zweifel gezogen wird.
Eine solche im Zustande des Glaubens erlebte Wirklichkeit liegt vor, wenn der
Mensch, wie Augustin sagt, im Geiste über
die ganze vergängliche Schöpfung sich erhebt und mit Gott vereinigt.
Da wird ihm das Dasein Gottes unmittelbar gewiss, und es wird ihm klar, dass
Gott die ganze Welt, die nicht ist, was er selbst ist, geschaffen hat.
Es ist somit Gott als Schöpfer
der Welt der unbedingte, keinem Einfluss unterliegende, absolute Anfang alles
Geschehens, und außer ihm kann es nicht nochmals einen Anfang schöpferischer
Tätigkeit geben. Nun wird zwar der Schöpfungsakt, aus dem die
Welt hervorging, insofern begreiflich gemacht, als er auf den göttlichen Willen zurückgeführt und durch die Weisheit und durch die Güte oder Liebe Gottes vermittelt gedacht
wird. Es bleibt aber trotzdem ein durchaus unbegreifliches und unvermitteltes,
außerhalb des Raumes und der Zeit sich vollziehendes Entstehen, das der
denkenden Betrachtung keinen Übergang vom Schöpfer
zu den Geschöpfen ermöglicht.
Die geschaffenen Welt ist nicht,
was Gott selbst ist, sagt darum Augustin. Deshalb kann das Wirken des Willens nicht wie das Wirken einer natürlichen
Ursache aufgefasst und dem Wirken der Weltvernunft, das die antike Philosophie
zur Erklärung des Geschehens voraussetzt, gleichgesetzt werden. Die im
Glauben erlebte Gewissheit, dass Gott die Welt erschaffen hat, bedarf keiner
Einsicht in den Vollzug des Schöpfungsaktes, während die Bedeutung
des Vernunftwirkens gerade darin liegt, dass es an Stelle des unbegreiflichen,
den Lauf der Welt lenkenden Schicksals einen begreiflichen, im Denken erfassbaren
Grund des Geschehens setzt.
So kommt es, dass nun, bei der bloß im Glauben erfassbaren Abhängigkeit
der geschaffenen Welt von ihrem Schöpfer, auch für eine gleichfalls
bloß im Glauben erfassbare Unabhängigkeit der Geschöpfe Raum
bleibe. Diese Unabhängigkeit zeigt sich darin,
dass auch die geschaffenen Dinge mit einem Willen
begabt sind.
Die göttliche Allmacht
hat die Welt so geschaffen, wie es ihr gefiel.
»Sie hat«, sagt Augustin,
»den Dingen, die sie aus dem Nichts
schuf, das Sein verliehen, aber nicht im höchsten Maße, wie sie selbst
es hat: sondern sie gab den einen Dingen mehr Sein, den anderen weniger und
ordnete, in gradweiser Abstufung, die Beschaffenheiten der Seinsarten«
(De civitate dei; 1.
XII, c. 2.).
Demgemäß ist jedes Ding mit einem, seinem Sein
entsprechenden Willen begabt, der dieses Sein zu erhalten bestrebt. Und
eben bei diesem Streben, das Sein zu erhalten, besteht die Möglichkeit
zu einem, in dem geschaffenen Dinge selbst liegenden Anfang des Geschehens.
Die
Freiheit des bösen Willens
Der geschaffene Wille ist nämlich keineswegs
die unmittelbare Wirkung des göttlichen Willens, der ja überhaupt nicht als Ursache natürlicher Weise wirkt.
Er ist vielmehr in der Tat ein Wille, der seinem Wesen
nach frei ist. Seine Freiheit besteht darin, dass er bei seinem Wirken ebenso
wohl im Zusammenhang mit dem göttlichen Willen beharren, wie auch von dem
göttlichen Willen sich loslösen kann. Löst er sich von
dem göttlichen Willen los, so wird er der Teilnahme
an dem ewigen, göttlichen Lichte beraubt. Er verliert das
Gute, das er hatte; und der Mangel des Guten, der nun eintritt, heißt das Böse,
das nichts Wesenhaftes, sondern ein bloßer Mangel, ein Versagen ist. Diese
Abkehr ist die freie Tat der Geschöpfe, die ihnen zugerechnet wird. Augustin
sagt:
»In demjenigen, in dem ein böser Wille entsteht,
geschieht etwas, was nicht geschehen würde, wenn er nicht gewollt hätte,
und darum folgt dem keineswegs notwendigen, sonder gewollten Abfall die gerechte
Strafe« (De civitate dei; 1. XII, c. 8.).
In dieser Betätigung des geschaffenen Willens liegt somit in der Tat ein
Anfang des Geschehens vor. Es ist der Anfang des Bösen,
das durchaus nicht zu Gott in Beziehung gebracht werden kann und doch in überaus
wirksamer Weise die ganze Weltentwickelung beeinflusst. Es besteht ja der ganze
Inhalt der Weltgeschichte in der Überwindung des Bösen, das so zur
Entfaltung und Verherrlichung des Guten führt. Der
Abfall von Gott erzeugt nämlich Feindschaft wider Gott, die jedoch nicht
Gott, sondern nur die gefallenen Geschöpfe schädigt.
Denn – so sagt Augustin (De
civitate dei; 1. XII, c. 18.) - »wie
Gott der beste Schöpfer guter Naturen ist, so ist er auch der gerechteste
Ordner böser Willensrichtungen, so dass zwar diese die guten Naturen zum
Bösen missbrauchen, er selbst aber auch den bösen Willen zum Guten
gebraucht« Gott wusste, dass Böses entstehen würde, er wusste
aber auch zugleich, wie er es in den Dienst des Guten stellen könne, »um
so die Anordnung der Weltzeiten wie ein prächtiges Gedicht gewissermaßen
mit Antithesen zu schmücken«.
Das Böse ist somit die freie Tat der Geschöpfe – das Gute ist das von Gott selbst gewirkte Tun. Darum hat das
Gute in Gott seinen Ursprung;
das Böse aber hat in den Geschöpfen seinen Ursprung.
Es geht aus dem Willen der Geschöpfe hervor.
Wie der böse Wille wirkt, bleibt indessen
nicht minder unbegreiflich wie das Wirken des guten Willens. Ist nämlich
der gute Wille in seiner Schöpfertätigkeit der für das natürliche
Denken und Erkennen unfassbare Anfang der aus dem
Nichts hervorgehenden Wirklichkeit, so ist der böse Wille der Geschöpfe
der gleichfalls unbegreifliche Anfang für das Aufhören und Versagen
des ursprünglich guten, durch Gott erschaffenen Zustandes. In diesem Aufhören
und Versagen besteht der sündhafte Abfall von Gott, der keinen wirksamen, im Denken fassbaren Grund hat. Wollte man einen
wirksamen Grund für das Böse suchen, so wäre dies, sagt
Augustin, ebenso wie man die Finsternis sehen und die Stille hören
wollte.
Und er fügt hinzu: »Niemand verlange daher
von mir zu wissen, von dem ich weiß, dass ich es nicht weiß; wenn
nicht etwa, um zu lernen, dass er das nicht wisse, von dem man wissen muss,
dass man es nicht wissen kann«(De
civitate dei; 1. XII, c. 7. 1.).
Der Mensch ist demnach, soweit er Gutes tut, lediglich
der Vollstrecker des göttlichen Willens; und nur soweit er Böses tut,
handelt er aus eigenem Ermessen. Er ist frei oder gebunden, je nachdem
das Böse oder das Gute in ihm herrscht. Die Herrschaft des Guten kann aber
mit der Herrschaft des Bösen nicht zusammen bestehen; denn das Gute kann
nur von Gott im Menschen bewirkt werden. Es setzt die Vereinigung mit Gott,
die Hingabe des eigenen Willens voraus. Und dies schließt das Wirksamwerden
des eigenen Willens, der Böses tut, aus. Somit ist
der Wille des Menschen entweder böse und zugleich frei oder gut und zugleich
gebunden; es gibt keine Verwebung von Freiheit und Gebundenheit beim Vollzug
einer und derselben Handlung.
Wir dürfen daher den Kern oder das Wesen des Menschen nicht in dem Willen,
der gut oder böse sein kann, suchen, wenn wir die Verwebung von Freiheit
und Gebundenheit, die das Handeln des Menschen charakterisiert, uns begreiflich
machen wollen.
Die Lehre vom Wirken des Willens zeigt uns nur die Möglichkeit
des Schwankens zwischen Gut und Böse, zwischen
Gebundenheit und Freiheit, indem der Mensch zu der beseligenden
Vereinigung mit Gott gelangt, in der er sich vor dem Bösen geborgen
fühlt, und dann wieder in der Entfremdung von Gott
seine eigenen Wege geht, die ihn in die Sünde verstricken,
bis ihn die göttliche Gnade wieder erlöst.
Und dieses Schwanken zwischen Gut und Böse,
zwischen Gebundenheit und Freiheit kann überdies nur dann als möglich
gelten, wenn auf ein Begreifen der Wirksamkeit des guten Willens und des bösen
Willens Verzicht geleistet wird. Denn nur die, dem natürlichen Denken und
Erkennen unüberbrückbare Kluft zwischen dem
Schöpfer und seinen Geschöpfen macht es möglich, neben
dem lediglich in dem göttlichen Schöpferwillen gegründeten Anfang
des Guten einen im geschaffenen menschlichen Willen begründeten Anfang
des Bösen anzuerkennen.
Dazu kommt, dass die Annahme einer freien Betätigung
des Willens im Menschen augenscheinlich nur dem Bedürfnis entspringt,
das Vorhandensein des Bösen, das in der Erfahrung des Lebens wie eine feindselige
Macht empfunden wird, auf den Willen des Menschen als seine Ursache zurückzuführen.
Das Böse verflüchtigt sich jedoch dem Schöpferwillen Gottes gegenüber
zu einem bloßen Versagen, zu einem bloßen Mangel, der nur dazu dient,
das Gute umso wirkungsvoller hervortreten zu lassen. Und mit dem Bösen
tritt auch die Betätigung des Willens im Menschen in den Dienst des Guten.
Der
unfreie Wille
Es bedarf daher nur einer noch stärkeren Betonung der Abhängigkeit
des Menschen von der Allmacht Gottes, um auch in dem Wollen und Handeln,
das böse zu sein scheint, das Wirken des göttlichen Willens zu finden.
Dann kann aber der Wille des Menschen in keiner Weise als frei gelten.
Zu dieser Einsicht führte in der Tat die Weiterbildung und Vertiefung des
Glaubenslebens, die sich im Wesentlichen in der Mystik des Mittelalters vollzog
und schließlich in den Bestrebungen der Reformation zur Geltung kam. Unter
den Reformatoren ist es aber besonders Luther, der
in so entschiedener Weise den Glauben als die im Fühlen und Wollen sich
kundgebende Grundstimmung des menschlichen Herzens hervorhebt, dass er geradezu
als der Vollender der von
Augustin begründeten Auffassungsweise bezeichnet werden muss. Ist
doch für Luther, wie er selbst (in der Vorrede zum Römerbrief) sagt, der Glaube »ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und gebiert aus Gott«;
ein »lebendig, geschäftig, tätig, mächtig
Ding«, das ohne Unterlass Gutes wirkt; eine »Zuversicht und Erkenntnis
göttlicher Gnade«, die »fröhlich,
trotzig, und lustig macht gegen Gott und alle Kreaturen«.
Je stärker aber das Wirken der göttlichen Gnade empfunden wird, um
so lebendiger wird das Gefühl der Gebundenheit, um so deutlicher wird die
Erkenntnis, dass – wie Luther in der Schrift
»de servo arbitio« (vom unfreien Willen)
sagt - »Gottes Gnade alles tue und unser Wille nichts
wirke, sondern nur dulde«, dass Gott »mit unveränderlichem,
ewigem, unfehlbarem Willen alles vorhersieht und sich vorsetzt und tut«, woraus unverbrüchlich folgt, »dass alles, was wir tun, und alles,
was geschieht, wenn es auch nicht unabänderlich, sondern zufällig
zu geschehen scheint, doch notwendig und unabänderlich geschieht, sobald
wir auf den Willen Gottes achten«. »Denn der
Wille Gottes ist wirksam; er kann nicht gehindert werden, da er die Macht Gottes
selbst ist. Er ist auch weise, so dass er nicht getäuscht werden kann«.
Dies fordert der Glaube. »Denn wir glauben, dass
Gott alles vorher weiß und vorher bestimmt, so kann Gott in seinem Vorherwissen
und in seiner Vorherbestimmung nicht getäuscht und auch nicht gehindert
werden kann. Daher geschieht nichts ohne Gottes Willen«. Dies einzuräumen
zwingt uns die Vernunft, »so dass nach dem Zeugnis unserer Vernunft weder
in einem Menschen, noch in einem Engel, noch sonst einem geschaffenen Wesen
ein freier Wille sein kann«.
Der Mensch insbesondere erweist seine Unfreiheit durch sein Unvermögen,
von sich aus, ohne die Kraft des göttlichen Geistes, die Fesseln zu lösen, in die ihn die Sünde verstrickt hat. Er vermag
nichts aus eigener Kraft. Er muss auf das Wirken der göttlichen Gnade hoffen.
Darum fügt er sich in den unerforschlichen Ratschluss Gottes, der seine
Gnade walten lässt, wie es ihm gefällt. Diese gottergebene Gesinnung
findet in dem Spruche ihren Ausdruck, der aus dem 13. Jahrhundert in der »Bescheidenheit
des Freidank« und überliefert ist:
Warum ein Mensch sei verloren,
Der andre sei zur Gnad erkoren,
Wer dies fragt, der tut zu viel.
Gott mag und soll tun, was er will.
Was Gott mit seinen Geschöpfen tut,
das soll uns alles dünken gut.
Wir unsererseits müssen uns aber fragen, ob überhaupt mit dieser,
so entschieden zutage tretenden Unfreiheit die Annahme sich verträgt, dass
es der Wille ist, der das Tun und Lassen des Menschen und alles Geschehen in
den Dingen hervorbringt.
Ursprünglich war nämlich, wie wir (S.28) gesehen
haben, die Ansicht maßgebend, dass die Seele des Menschen »durch
sich selbst« in allen ihren Regungen und Bewegungen hin und her
getrieben werde. Und diese in der Seele des Menschen entstehenden Regungen und
Bewegungen wurden als Äußerungen des Willens aufgefasst, der somit
einen Anfang des Geschehens begründet und als frei gelten muss.
Die
menschliche Freiheit und der Urgrund des Geschehens
Ein ähnlicher Anfang des Geschehens durch die freie Betätigung des
Willens wurde sodann in allen Geschöpfen vorausgesetzt, obwohl kein zwingender
Grund bestand, die Zustandsänderungen, die wir an den Dingen wahrnehmen,
ebenso wie die menschlichen Handlungen dem Willen zur Last zu legen. Wir erhielten
auch – was wir als einen Mangel empfinden müssen – keine Aufklärung
darüber, wie wir uns die Abstufung der Willenstätigkeit zu denken haben, die in Anbetracht der Verschiedenartigkeit der Dinge
vorauszusetzen ist. Als jedoch schließlich der Wille auch für das
Schaffen der Gottheit in Anspruch genommen wurde, musste der schöpferisch
tätige Wille für das Vorhandensein und ebenso für die Betätigung
des geschaffenen Willens in den Geschöpfen verantwortlich gemacht werden.
Es führt demnach in der Tat die Annahme des göttlichen
Schöpferwillens zur Aufhebung der freien Betätigung
des Willens in den Geschöpfen. Ohne eine freie Betätigung kann
aber der Wille, der seinem Wesen nach »durch sich
selbst« sich bewegt, nicht bestehen; ein abhängiger Wille
ist ein offenkundiger Widerspruch. Dem göttlichen Schöpferwillen gegenüber
kann sich daher der Wille in den geschaffenen Dingen nicht behaupten: es
muss ein willenloses Geschehen, dessen Eigenart erst noch klarzustellen
ist, vorausgesetzt werden.
Es ist bei der Annahme des Willenswirkens ebenso wie bei der Annahme des Vernunftwirkens
seitens der antiken Philosophen: die im Menschen selbst der ursprünglichen
Vorstellung gemäß von sich aus, in vollkommener Freiheit tätige
Vernunft wurde in allen Dingen vorausgesetzt und zuletzt als der Urgrund des
Geschehens erkannt. Demzufolge musste das Wirken der Vernunft im Menschen und
in den sonstigen Dingen als ein unselbständiger, in das gesamte Geschehen
eingegliederter Ausfluss der Weltvernunft anerkannt werden, der nicht mehr als
ein freies Vernunftwirken gelten konnte.
Hiernach vermag weder die Annahme des Vernunftwirkens
noch die Annahme des Willenwirkens die beim menschlichen Handeln zutage tretende
Verwebung von Freiheit und Gebundenheit begreiflich zu machen. Wir sehen
uns vielmehr in beiden Fällen vor einen unlösbaren Widerspruch gestellt.
Aber dieser Widerspruch ist unvermeidlich. Es muss nämlich überhaupt
jede Bestimmung des menschlichen Wesens, die dem Menschen eine freie, in ihm
selbst ihren Anfang nehmende Betätigung zuerkennt, zur Aufhebung der menschlichen
Freiheit führen, sobald dieselbe Bestimmung zugleich für das Geschehen
insgesamt als gültig angesehen wird. Denn zu der Gesamtheit aller Geschehnisse
der Welt gehören auch die Handlungen des Menschen, die innerhalb der Gesamtheit
nur noch im Zusammenhang mit dem Ganzen zur Geltung kommen und somit keinen
für sich bestehenden, von jenem Zusammenhang losgelösten Anfang bilden
können. Es kann sich daher die ursprünglich
als selbstverständlich angenommene Freiheit des menschlichen Willens ebenso
wenig wie die nicht minder als selbstverständlich betrachtete Freiheit
der menschlichen Vernunft behaupten, sobald der Wille ebenso wie die Vernunft
bei allem, was geschieht, als wirksam vorausgesetzt und schließlich für
den Urgrund alles Seins und Werdens gehalten wird.
Es hindert hingegen nichts, als Grund der menschlichen
Freiheit die willenstarke Vernunft oder den vernunftbegabten Willen festzuhalten,
wenn wir darauf verzichten, als Grund des gesamten Weltgeschehens, zu dem auch
das menschliche Handeln gehört, wiederum die Wirksamkeit der Vernunft oder
des Willens in Anspruch zu nehmen. Denn der Grund der
Freiheit kann nicht zugleich der Grund der Gebundenheit sein. Wir werden
jedoch verlangen müssen, dass die Auffassung von der Welt und dem Menschen,
die uns das menschliche Handeln in das gesamte Weltgeschehen eingegliedert zeigt,
es zugleich begreiflich macht, dass der Mensch mit Notwendigkeit dazu kommt,
sich nicht nur als ein Glied des Weltganzen aufzufassen, sondern auch in sich
einen, von den übrigen Geschehen sich lösenden und in seiner Selbständigkeit
sich behauptenden Anfang des Handelns zu erblicken, den er auf das
Wirken der Vernunft oder des Willens, oder der Vernunft und des Willens, in
unauflösbarer Verknüpfung miteinander, zurückzuführen
geneigt ist. S.26-37
Aus: Das Problem der Willensfreiheit. Volkshochschulvorträge von G. F.
Lipps. Druck und Verlag von B. G. Teubner in Leipzig 1912
Zurechnung
und Strafe
Mit der Erkenntnis, dass uns bei der Betätigung unseres Lebenstriebs nicht
– wie wir in unserem naiven Verhalten annehmen – ein vernunftbegabter
freier Entscheidung fähiger Wille zur Verfügung steht, verknüpft
sich ein Wandel in der Bewertung unseres Handelns, der bedenklich erscheinen
kann, weil er lieb gewordene und mit Zähigkeit festgehaltene Vorurteile
zerstört. Es bleibt uns daher noch die Aufgabe über die Folgerungen
Klarheit zu gewinnen, die aus unserer Lösung des Problems der Willensfreiheit
für die Bewertung unseres Handelns sich ergeben.
Die Bewertung unseres Handelns scheint nämlich an das Walten eines freien,
mit vernünftiger Überlegung handelnden Willens gebunden. Sie gründet
sich auf die Annahme, dass das, was wir tun, nicht notwendig geschieht, sondern
auch unterbleiben könnte. Und dies setzt die Betätigung eines vernunftbegabten
Willens voraus. Denn der Wille ist es, der sich für die Tat entscheidet,
der aber auch für das Unterlassen der Tat sich entscheiden könnte.
Darum werden wir für all unser Tun und Lassen verantwortlich gemacht. Weil
man uns einen zu freier Entscheidung befähigten Willen zuschreibt, wird
von uns gefordert, dass wir die aus den Gewöhnungen des Lebens hervorgehenden
Regeln, die zu Sitten und Gebräuchen, zu Geboten und Gesetzen werden, beachten
und zur Richtschnur unseres Handelns machen.
Mögen diese Anordnungen und Verpflichtungen auf göttliche Offenbarung
oder auf menschliche Satzung zurückgeführt werden, sie gelten in dem
einen wie in dem anderen Falle als verbindlich. Jede Abweichung wird als eine
Tat betrachtet, die, weil sie freiwillig geschah, hätte unterbleiben können
und, weil sie die bestehende Vorschrift missachtete, hätte unterbleiben
sollen.
Darum erfolgt die Strafe als eine Vergeltung. Denn die Übertretung ist
ja nicht unvermeidlich. Sie geht aus einer freien Entscheidung des Willens hervor
und erregt deshalb Unwillen und Zorn, zu dessen Besänftigung Sühne
und Opfer zu leisten sind. Wir aber die Übeltat gesühnt, so wird auch
der Übeltäter von den Folgen seiner Tat erlöst. Er beschwichtigt
durch Sühne und Opfer den Unwillen und Zorn, und darin besteht seine Erlösung.
An dieser auf dem Glauben an eine freie Willensbetätigung beruhenden Auffassung
unseres Handelns können wir jedoch nicht festhalten, wenn wir zur Einsicht
in die ausnahmslose Gesetzlichkeit und Bedingtheit unseres Tuns und Lassens
gelangen. Dies hebt indessen den Wert unseres Handelns nicht auf. Denn die Gewöhnungen,
die in der Betätigung unseres Lebenstriebs ihren Grund haben und an das
immer wiederkehrende Aufleben und Wirksambleiben des Vergangenen gebunden sind,
bleiben nach wie vor in Kraft. Und aus den Gewöhnungen entwickeln sich
Sitten und Gebräuche, geschriebene und ungeschriebene Gesetze: Gesetze,
die immer gelten, wo Menschen gesellig zusammenleben, weil sie in der Natur
des gesellschaftlichen Lebens ihren Grund haben; und Gesetze, die nach Zeit
und Ort sich ändern, weil sie den durch die jeweiligen Verhältnisse
bedingten Bedürfnissen des Gemeinwesens Rechnung tragen.
Aber diese Sitten und Gebräuche, diese geschriebenen und ungeschriebenen
Gesetze gehen aus dem Zusammenleben der Menschen hervor. Sie sind Äußerungen
des gesellschaftlichen Lebens. Sie bestimmen das Verhalten, an das die Erhaltung
und Entwicklung des Gemeinwesens gebunden ist. Sie stellen daher die Regeln
dar, die innerhalb eines bestehenden und sich entwickelnden Gemeinwesens tatsächlich
Beachtung finden, so dass mit ihnen die Handlungsweise jedes einzelnen, dem
gesellschaftlichen Verbande angehörenden Gliedes verglichen wird. Und der
Wert, der den Handlungen beigemessen wird, hängt nach wie vor von der Übereinstimmung
mit den zur Geltung kommenden Regeln ab.
Diese Regeln erleiden indessen mit derselben Notwendigkeit, mit der sie entstehen,
auch Ausnahmen. Es werden Handlungen vollzogen, die bei der Vielgestaltigkeit
und Veränderlichkeit der Einflüsse, denen die einzelnen Glieder des
Gemeinwesens unterliegen, Abweichungen von der als Regel geltenden Handlungsweise
darstellen. Und wir müssen diese Abweichungen für ebenso begründet
ansehen, wie die der Regel entsprechenden Handlungen. Denn die Handlungen, die
der naiven Betrachtungsweise als Äußerungen eines mit Freiheit sich
betätigenden Willens erscheinen, haben in gleicher Weise wie alles sonstige
Geschehen als notwendig zu gelten. Ob sie überhaupt, für sich betrachtet,
als Äußerungen eines vernunftbegabten Willens aufgefasst werden können,
kann dahingestellt bleiben. Es genügt, dass sie im Zusammenhang mit der
Gesamtheit alles Geschehens notwendig sind. Sie erschienen daher, wie alles
sonstige Geschehen auch als vernünftig, soweit wir die Notwendigkeit einsehen
und begreifen, so dass in diesem Sinne das, was wirklich ist, in der Tat, wie
Hegel sagt, vernünftig ist.
Die Erkenntnis der Notwendigkeit hindert jedoch keineswegs die Verurteilung
einer Handlung, die den bestehenden Sitten und Gesetzen zuwiderläuft. Sie
macht ja die Abweichung von der auf Sitte und Gesetz beruhenden Regel nicht
geringer. Es wäre nur töricht, von Vergeltung von Sühne und Opfer
zu reden. Denn wir wissen, dass die Abweichungen im Zusammenleben der Menschen,
im Zusammenschluss zu einer Lebensgemeinschaft ihren Grund haben. Und mit der
Verurteilung einer Handlung bleibt auch die Bestrafung bestehen. Sie ist ihrerseits
eine im gesellschaftlichen Leben wohlbegründete Handlungsweise.
Die so sich ergebende Veränderung in der Auffassung des menschlichen Handelns
wird nun vollkommen klar und einleuchtend, wenn wir darauf achten, dass Kinder
und auch Erwachsene, die wie Kinder sich verhalten, leicht sich dazu hinreißen
lassen, sogar unbelebte Gegenstände – etwa einen Stuhl oder Tisch,
an dem sie sich gestoßen haben – ihren Unwillen fühlen zu lassen.
Da erhält wohl der Stuhl oder Tisch einen energischen Stoß oder Schlag.
Wer über eine solche naive Zurechnung der Übeltat eines unbelebten
Gegenstandes hinausgewachsen ist, wird immer noch den Stuhl oder den Tisch für
die Ursache des unangenehmen Vorfalls halten. Er wird also immer noch dem Dinge
das Geschehnis zurechnen, insofern er in ihm die Ursache desselben sieht. Er
wird auch auf Abhilfe bedacht sein, indem er den Stuhl oder Tisch aus der bedrohlichen
Nähe entfernt oder sonstwie Vorsorge trifft. Er wird aber über den
Gegenstand nicht zornig sich entrüsten. Er wird keine Vergeltung üben
und keine Sühne verlangen. – In gleicher Weise werden wir auch einem
Menschen gegenüber, der eine böse Tat begangen hat, auf Vergeltung,
auf Sühne und Opfer verzichten.
Diese veränderte Auffassungsweise hat sich hinsichtlich der Bestrafung
von Vergehen und Verbrechen innerhalb der menschlichen Gesellschaft in der Tat
bereits angebahnt, wenn sie auch nicht als vollzogen angesehen werden darf.
In der Strafrechtslehre, die mit den aus angeblich freier Willensentschließung
hervorgehenden Gesetzesübertretungen sich zu befassen hat, ist auf den
notwendigen Zusammenhang alles Geschehens sich stützende Auffassungsweise
bereits zum Durchbruch gekommen.
Franz von Liszt beispielsweise betrachtet das Verbrechen
einesteils »als ein Ereignis im Leben des einzelnen
Menschen, das aus der Eigenart, aus der Individualität dieses einzelnen
Menschen heraus erklärt werden muss.« Er will andernteils
das Verbrechen auch als ein Ereignis im Leben der Gesellschaft aufgefasst und
aus den gesellschaftlichen Verhältnissen heraus erklärt wissen. Und
er sieht den Anfang zu dieser Betrachtungsweise eben in der, auch von uns in
den Vordergrund gerückten Erforschung der Gesetzmäßigkeiten
in den scheinbar zufälligen Ereignissen des menschlichen Lebens, die uns
die Geburten und Todesfälle der in einer Stadt oder in einem Lande zusammenlebenden
Menschen, aber auch die scheinbar willkürlichen Handlungen, wie Mord und
Diebstahl und alle sonstigen Verbrechen und Vergehen, vor Augen stellen. Demgemäß bezeichnet er das Verbrechen als »das Produkt aus
der Eigenart des Verbrechers einerseits und den, den Verbrecher im Augenblick
der Tat umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits«.
Und er nennt diesen Grundsatz »den Grund und Eckstein
seiner ganzen kriminalpolitischen Auffassungsweise.«
Darum verlangt von Liszt in erster Linie vorbeugende
Maßregeln, nämlich eine Verminderung schädlicher Einflüsse
auf die Glieder der Gesellschaft. Sind z. B. die heranwachsenden Kinder in Gefahr,
einer sittlichen, geistigen und körperlichen Verwahrlosung anheim zu fallen,
so muss eine staatlich überwachte Erziehung der sittlich verwahrlosten
Kinder und jugendlichen Personen eintreten.
Neben diesen vorbeugenden Maßregeln findet jedoch von Liszt auch die Strafe
selbst, zum Schutze der menschlichen Lebensinteressen, unentbehrlich. Die Strafandrohung
wirkt warnend und abschreckend. »Dem rechtlich gesinnten Bürger zeigt
sie in eindringlicher Form, welchen Wert der Staat seinem Befehle beilegt; weniger
feinfühligen Naturen stellt sie als Folge ihres rechtswidrigen Verhaltens
ein Übel in Aussicht, dessen Vorstellung als Gegengewicht den verbrecherischen
Hang niederhalten soll.« Aber die wesentlichste Bedeutung gewinnt der
Strafvollzug selbst, durch den der Staat weitgehend in Leben, Freiheit, Ehre,
Vermögen der Bürger eingreift und den Verbrecher nicht nur Tage lang,
Wochen lang, Monate lang, , sondern auch Jahre und Jahrzehnte lang maßregelt.
Die Bedeutung des Strafvollzugs besteht nämlich darin, dass er
1. Gelegenheitsverbrecher abschreckt;
2. angehende, aber noch nicht völlig verdorbene, mithin besserungsfähige
und besserungsbedürftige Gewohnheitsverbrecher bessert;
3. unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher auf möglichst lange Zeit unschädlich
macht.
Im Sinne der Auffassungsweise der Strafe liegt die Forderung, die
von Liszt stellt, dass der Gesetzgeber keine zur Erreichung des Zwecks
der Strafe völlig untauglichen Strafmittel zur Anwendung bringen dürfe;
dass er also insbesondere die kurzzeitige Freiheitsstrafe, die weder bessert,
noch unschädlich macht, möglichst durch andere Maßregeln ersetzt.
Es empfiehlt sich daher insbesondere die sogenannte bedingte Vorurteilung, die
den Strafvollzug aufschiebt, als ein Mittel zur Einschränkung der Freiheitsstrafen
von kurzer Dauer.
Bloß aus Gründen der Zweckmäßigkeit, zum Schutze der Lebensinteressen,
hat also nach dieser strafrechtlichen Auffassungsweise die Strafe zu erfolgen.
Die Strafe ist somit nicht als eine Sühne, die gewissermaßen die
begangene böse Tat wieder gut macht, anzusehen, sondern als eine im gesellschaftlichen
Leben begründete, den Schutz der Gesellschaft anstrebende Gegenwirkung
gegen das Verbrechen.
Wir sehen so die der naiven Betrachtungsweise eigentümliche Ansicht von
der Vergeltung durch die auf die Verkettung des Menschen mit der menschlichen
Gesellschaft Rücksicht nehmende, kritische Betrachtungsweise gemildert
und berichtigt.
Ebenso wie die einzelne strafbare Handlung muss nun aber auch die ganze Kette
von Handlungen, die das Leben des Menschen ausmacht, als ein notwendiges Geschehen
anerkannt werden. Denken wir uns die, das ganze Leben des Menschen überschauende
und bis in alle Einzelheiten erfassende Gottheit als Richter, so kann bei dem
vollkommenen Einblick in den gesetzmäßigen Zusammenhang aller Handlungen
noch viel weniger als bei der Aburteilung über eine einzelne Straftat von
einem zornerfüllten, Sühne und Opfer heischenden Verhalten die Rede
sein. Wir dürfen daher nicht in der Ansicht beharren, dass der sündige
Mensch einer Erlösung bedürftig sei, die durch Opferleistungen bewirkt
werden könne. Der Glaube an die Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit
alles Geschehens, der mit dem Glauben an das Walten der göttlichen Vorsehung
gleichbedeutend ist, gewährt die Erlösung, deren der Mensch tatsächlich
bedarf. Es ist dies die Erlösung von der schrecklichen, verzweiflungsvollen
Vorstellung, dass der Mensch anders hätte handeln können als er in
Wirklichkeit gehandelt hat.
Die Belehrung über die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit alles
Geschehens beseitigt indessen nicht mit einem Schlage das im Menschen festgewurzelte
und immer sich regende Bedürfnis nach Vergeltung und Sühne: nach Vergeltung
für die Verbrechen und Vergehen, die im Rechtstaate geahndet werden; und
nach Sühne für alle sündhaften Werke, Worte und Gedanken, über
die kein Mensch, sondern nur Gott zu richten hat. Diesem Bedürfnis nach
Vergeltung und Sühne, das eine in der Natur des Menschen wohlbegründete
und durchaus berechtigte Lebensäußerung darstellt, werden wir unser
Verständnis nicht versagen. Wir werden in ihm jedoch nicht die höchste
Stufe in der Entwicklung des sittlichen Lebens erblicken. Wir werden vielmehr
daran festhalten, dass es ein Zeichen naiven Verhaltens und ein Beweis mangelnder
kritischer Besonnenheit ist, wenn man an die Zauberwirkung vergeltender Strafe
und sühnender Opferhandlung glaubt.
Gelangt aber die Einsicht in die unverbrüchliche Gesetzmäßigkeit
alles Geschehens bei der Auffassung unseres Handelns zur Geltung, so finden
wir in der Erkenntnis, dass alles so kommen musste, wie es kam, zwar nicht die,
vielleicht sehr erwünschte Loslösung von den Folgen unserer Tat, nicht
die, vielleicht heiß ersehnte Möglichkeit eines neuen Anfangs, der
mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun hat; wir finden aber doch eine Erlösung:
nämlich die Befreiung von der Selbstanklage und von der vernichtenden Vorstellung,
dass all unser Tun und Lassen auch anders sich hätte gestalten können.
Und diese Erlösung befreit uns zugleich von der Selbstherrlichkeit unseres
Ich, das vermeintlich für sich besteht und von sich aus zu handeln glaubt.
Sie führt uns zu der bescheidenen Einordnung in den Zusammenhang der Lebensgemeinschaft,
der wir angehören, und in den Zusammenhang mit dem gesamten Weltgeschehen.
Sehen wir uns in diesen Zusammenhang gestellt, so wird uns klar und deutlich,
was Goethe als das Ziel der
menschlichen Entwicklung, als das Wesen aller Bildung und Erziehung in
Wilhelm Meisters Wanderjahren hingestellt hat. Die Eingliederung in die uns umschließende Lebensgemeinschaft
und in den Lauf der uns umgebenden Welt erfüllt uns nämlich mit dem
Gefühl der Ehrfurcht, »worauf alles ankommt,
damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei.« Es erfüllt
uns die Ehrfurcht »vor dem, was über uns ist«, was ordnend und regelnd, wie die Vorschriften von Eltern, Lehrern und Vorgesetzten,
in unser Leben eingreift. Es erfüllt uns auch die Ehrfurcht »vor dem, was uns gleich ist«, vor unseren Mitmenschen und
der ganzen Menschheit, an die wir durch unser Leben beherrschenden und durch
das gesellige Zusammenleben bedingten, im einzelnen Falle undurchschaubaren
und nur im Durchschnitt vieler Fälle sich bekundenden Regelmäßigkeiten
geknüpft sind. Ja selbst »das, was unter uns
ist«, erfüllt uns mit Ehrfurcht, wenn wir unseren Zusammenhang
mit der Erde erfassen, die »unsägliche Freuden«
gewährt, aber auch »unverhältnismäßige Leiden«
bringt; wenn wir lernen, alles, was uns an die Erde kettet, »auch Niedrigkeit
und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich
anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern
als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen.« -
Und wenn wir zuletzt erkennen, dass all das, was Ehrfurcht gebietend uns entgegentritt,
von uns in unserem Vorstellen und Denken erfasst wird und in unserem Geiste
Gestalt gewinnt, so entspringt daraus »die oberste
Ehrfurcht«, die Ehrfurcht vor uns selbst,
so dass wir, wie Goethe sagt, zum
Höchsten gelangen, was wir zu erreichen fähig sind, dass wir uns selbst
für das Beste halten dürfen, was Gott und Natur hervorgebracht haben,
ja dass wir auf dieser Höhe verweilen können, ohne durch Dünkel
und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden. S.98-104
Aus: Das Problem der Willensfreiheit. Volkshochschulvorträge von G. F.
Lipps. Druck und Verlag von B. G. Teubner in Leipzig 1912