Liä
Dsi bzw. Liä-Tse (6. - 5. Jahrhundert v. C.)
Chinesischer Mystiker
und Philosoph, der dem Taoismus nahe stand. Die nachfolgenden Textauszüge,
die aus der im 4. Jahrhundert vor Christi entstandenen Textsammlung
»Das wahre Buch vom quellenden Urgrund« stammen und von Richard
Wilhelm aus dem Chinesischen ins Deutsche übertragen wurden, sind nicht
selbst von Meister Liä verfasst. Sie sind
jedoch aus seiner Schule hervorgegangen, wobei bei der Entstehung insbesondere
die Philosophen Liä Yü Kou und Yang
Dschu, die innerhalb des Taoismus zwei gegensätzliche Pole vertreten,
eine bedeutende Rolle gespielt haben dürften.
Siehe auch Wikipedia
Das wahre Buch vom quellenden Urgrund
Offenbarungen der unsichtbaren
Welt (Buch I)
1. Vom Ding an sich
2. Weltentstehung
3. Das Ewige im Endlichen
4. Die Totengebeine: Kreislauf des
Lebens
5. Gründe der Zufriedenheit
(Der Alte vom Taischanberg)
6. Verschiedene Wertung von Leben
und Tod (Der alte Lin Le)
7. Im Grab ist Ruh (Dsi
Gung und der Meister)
8. Von der irdischen Pilgerschaft
9. Die Leere
10. Das Gleichgewicht der Kräfte
(Stetige Wandlung)
11. Weltuntergang
12. Eigentum
13. Zweierlei Räuber
Schein und Sein
Sammlung des Geistes (Buch
II)
Die Lehre vom Schein (Buch
III)
Magie (Buch
III)
Wachen und Traum (Buch
III)
Offenbarungen der
unsichtbaren Welt (Buch I)
1. Vom Ding
an sich
Meister Liä Dsi wohnte in einem Garten zu Dscheng vierzig Jahre lang, und
niemand kannte ihn. Vor den Augen des Landesfürsten und der hohen Würdenträger
war er wie einer aus der Menge des Volkes. Es entstand aber Mangel im Lande,
und er machte sich auf, aus seiner Heimat nach We zu ziehen. Da sprachen seine
Schüler: »Meister, du gehst, und deine Rückkehr
ist unbestimmt, darum wagen wir Schüler um etwas zu bitten, worüber
uns du, Meister, belehren mögest: Hast du, Meister, nicht die Reden des
Hu Kiu Dsi Lin gehört«?
Meister Liä Dsi lächelte und sprach: »Ja,
was hat denn Meister Hu gesagt? Immerhin; der Meister unterhielt sich oft mit
Be Hun Wu Jen, und was ich gehört, wenn ich daneben stand, will ich versuchen,
euch zu sagen. Seine Reden lauteten also:
Es ist ein Zeugendes, das nicht erzeugt ist; es ist ein
Wandelndes, das sich nicht wandelt. Das Unerzeugte hat Freiheit, Zeugendes zu
zeugen, das Unwandelbare hat Freiheit, Wandelndes zu wandeln. Das Erzeugte muß
aber notwendig weiter zeugen, das Wandelbare muß notwendig sich weiter
wandeln. Darum ist es immer im Zeugen und Wandeln begriffen. Das immer im Zeugen
und Wandeln Begriffene hört niemals auf, zu zeugen und sich zu wandeln;
so verhält es sich mit Licht und Finsternis, so verhält es sich mit
den vier Jahreszeiten.
Das Unerzeugte ist vermutlich einzig. Das Unwandelbare
wallt im unendlichen Raum hin und her, ohne daß es in seinem Pfade an
eine Grenze käme.
Im Buch des Herrn der gelben Erde steht:
Der Geist der Tiefe stirbt nicht.
Er ist das Ewig Weibliche.
Beim Ausgang des Ewig Weiblichen
Liegt die Wurzel von Himmel und Erde.
Endlos drängt sich‘s und ist doch wie beharrend.
Der es wirkt, bleibt ohne Mühe.
Darum ist das, was alle Wesen erzeugt, unerzeugt; was
alle Wesen wandelt, unwandelbar. Von ihm geht in Freiheit alles Zeugen aus,
von ihm alle Wandlung, von ihm alle Form, von ihm alle Farbe, von ihm alle Erkenntnis,
von ihm alle Stärke, von ihm alle Abnahme, von ihm alle Ruhe. Wollte
man es aber als Zeugen, Wandlung, Form, Farbe, Erkenntnis, Stärke, Abnahme,
Ruhe bezeichnen, so wäre das falsch.«
2. Weltentstehung
Meister Liä Dsi sprach: »Die alten Weisen nahmen das Lichte und das
Finstere als Grundursache der Welt. Aber alles Körperliche entsteht aus
Unkörperlichem; so muß doch auch die Welt einen solchen Ursprung
haben. Darum sage ich: Es gibt eine Urwandlung, einen
Uranfang, ein Urentstehen, eine Urschöpfung.
Die Urwandlung ist der Zustand, da die Kraft noch nicht
sich äußert. Der Uranfang ist der Zustand, da die Kraft entsteht.
Die Urentstehung ist der Zustand, da die Form entsteht. Die Urschöpfung
ist der Zustand, da der Stoff entsteht. Den Zustand, da Kraft, Form und Stoff
noch ungetrennt durcheinander sind, nennt man Dasein. Dasein bedeutet den Zustand,
da die Dinge miteinander und durcheinander sind und noch kein gesondertes Fürsichsein
haben.
>Schaut man darauf, so sieht man nichts, horcht man
danach, so hört man nichts, verfolgt man es, so erhält man nichts;
darum heißt es das Wandelbare.< Als das Wandelbare hat es keine
Schranke der Form.
Dieses Wandelbare wechselt und wird zur Eins. Die
Eins wechselt und wird zur Sieben. Die Sieben wechselt
und wird zur Neun. Die Neun ist der Endpunkt dieses
Wechsels. Aber sie wechselt noch einmal und wird wieder
zur Eins. Diese Eins ist die Entstehung der wechselnden
Formenwelt. Das Reine und Leichte steigt empor und wird (zur unsichtbaren
Welt) zum Himmel. Das Trübe und Schwere senkt sich herab und wird (zur
sichtbaren Welt) zur Erde. Das, wovon die einigende Kraft
ausstrahlt, wird zum Menschen. Darum enthalten Himmel und Erde den Samen, aus
dem alle Dinge durch Wandlung erzeugt werden.«
3. Das Ewige
im Endlichen
Meister Liä Dsi sprach: »Himmel und Erde sind nicht vollkommen, der
berufene Mensch ist nicht allmächtig, und die Geschöpfe sind nicht
durchaus verwendbar. Denn des Himmels Funktion ist, zu zeugen und zu schirmen,
der Erde Funktion ist, zu gestalten und zu tragen, des Berufenen Funktion ist,
zu lehren und umzugestalten, der Geschöpfe Funktion ist, ihrer Art zu entsprechen.
Nun aber gibt es Beziehungen, wo der Himmel der Erde gegenüber im Rückstand
ist, und der Berufene den Geschöpfen gegenüber begrenzt ist. Wie kommt
das? Das Zeugend-Schirmende vermag nicht gestaltend zu tragen, das Gestaltend-Tragende
vermag nicht beleh¬rend umzugestalten. Der Belehrend-Umgestaltende vermag
nichts wider die Natur der Dinge. Das Naturgesetzlich-Bestimmte verläßt
nicht seine Stellung. Darum ist der Lauf der Welt beschränkt auf den Wechsel
von Licht und Finsternis, die Lehre des Berufenen beschränkt auf Liebe
und Pflicht, die Art der Geschöpfe beschränkt auf Weichheit und Härte.
Jedes folgt seiner Art und kann über seine Stellung nicht hinaus.
Nun aber gibt es außer dem Vorgang des Zeugens noch etwas,
wodurch das Zeugen zum Zeugen wird; außer dem Vorgang des Gestaltens
noch etwas, wodurch das Gestalten zum Gestalten
wird; außer dem Vorgang des Tönens noch etwas, wodurch das Tönen
zum Tönen wird; außer dem Vorgang der Farbenentstehung noch
etwas, wodurch die Farbe zur Farbe wird; außer dem Vorgang der
Geschmackserzeugung noch etwas, wodurch der Geschmack
zum Geschmack wird.
Was durch das Zeugen erzeugt wird, ist der Tod; aber das,
wodurch das Zeugen zum Zeugen wird, ist noch nie zu Ende gekommen. Was
durch das Gestalten gestaltet wird, ist die Masse; aber das,
wodurch das Gestalten zum Gestalten wird, ist noch nie ins Dasein getreten.
Was durch das Tönen erzeugt wird, sind die Gehörsempfindungen; aber
das, wodurch das Tönen zum Tönen wird, ist noch nie herausgekommen.
Was durch die Farben erzeugt wird, sind bunte Gesichtseindrücke; aber das,
wodurch die Farbe zur Farbe wird, ist noch nie sichtbar geworden. Was
durch das Schmecken geschmeckt wird, sind Geschmacksempfindungen; aber
das, wodurch das Schmecken zum Schmecken wird, hat sich noch niemals
dargeboten.
Das alles sind die Wirkungen des Nichtseienden.
Es vermag in sich die Gegensätze zu vereinen: das
Trübe und Lichte, das Weiche und Harte, das Kurze und Lange, das Runde
und Eckige, das Leben und den Tod, Hitze und Kälte, Schwimmen und Untersinken,
Grundton und Sekunde, Erscheinen und Verschwinden, Dunkles und Gelbes, Süßes
und Bitteres, Übelriechen und Duften: Es hat kein Wissen und kein Können
und ist doch allwissend und allmächtig.«
4. Die Totengebeine:
Kreislauf des Lebens
Der Meister Liä Dsi ging nach We. Er aß unterwegs. Seine Jünger
sahen hundertjähriges Totengebein. Sie bogen das Gestrüpp zurück
und zeigten es ihm. Er wandte sich und sprach zu seinem Jünger Be Feng:
»Ich und dieser da: wir beide haben erkannt, daß
es etwas gibt, das noch nie gezeugt und noch nie gestorben ist: das ist jenseits
von aller Nahrung, jenseits von aller Freude.«
Der Lebenskeim (das Plasma) hat Metamorphosen. Er wandelt
sich in Pflanzen und Tiere, je nach den Bedingungen, die er vorfindet. Auch
der Mensch erscheint im Lauf dieser Metamorphosen und kehrt wieder in diesen
Kreislauf zurück. Alle Geschöpfe kommen
aus diesem Kreislauf hervor und gehen wieder in
diesen Kreislauf zurück.
Im Buche des Herrn der gelben Erde steht: »Wirkt
die Form, so entsteht nicht Form, sondern Schatten; wirkt der Ton, so entsteht
nicht Ton, sondern Echo; wirkt das Nichtsein, so entsteht nicht Nichtsein, sondern
Sein.« Die Form ist etwas, das notwendig endet; Himmel und Erde
werden vergehen, zusammen mit uns vergehen. Ob es dann ganz zu Ende ist? Wir
wissen es nicht. Wie sollte der Sinn des Weltgeschehens enden, da er doch seinem
Wesen nach ohne Anfang ist? Wie sollte er an eine äußerste Grenze
kommen, da er doch seinem Wesen nach jenseits des zeitlichen Daseins ist? Was
Leben hat, kehrt wieder zum Nichtleben; was Form hat, kehrt wieder zum Formlosen.
Dieses Nichtlebende ist aber nicht seinem Wesen nach jenseits des Lebens; dieses
Formlose ist aber nicht seinem Wesen nach jenseits der Formenwelt. Alles Lebendige
muß nach notwendigen Gesetzen endigen. Es ist etwas, das endigt und nicht
anders kann als endigen, ebenso wie das Erzeugte nicht anders kann als leben.
Wer sein Leben bewahren möchte und seine Ende verhindern, der irrt sich
in den Naturverhältnissen. Was geistig ist, ist Teil des Himmels, was leiblich
ist, ist Teil der Erde. Was dem Himmel angehört, ist rein und flüchtig;
was der Erde angehört, ist trübe und haftend. Wenn der Geist die Form
verläßt, so kehrt beides zurück zu seinem wahren Wesen. Darum
heißen sie die Heimgegangenen. »Heimgegangene«
kommt von »heimgehen«, heimgehen in seine wahre Behausung.
Der Herr der gelben Erde sprach:
»Der Geist geht ein zu seinen Toren,
Der Leib kehrt heim zu seiner Wurzel,
Wie soll das Ich da dauern können?«
Der Mensch macht von seiner Geburt bis zu seinem Ende vier große Wandlungen
durch: Kindheit, Jugend, Alter, Sterben. In der Kindheit ist die Lebenskraft
gesammelt, der Wille einheitlich, der innere Friede ist auf seinem Höhepunkt.
Die Außenwelt schadet nicht, das Wesen ist in sich vollkommen. In der
Jugend wallt die Lebenskraft des Blutes; Wünsche und Sorgen erheben sich,
die Außenwelt stürmt ein, daher reibt sich das Wesen auf. Im Greisenalter
werden Wunsch und Sorge schwach. Der Leib sucht Ruhe, die Welt tritt zurück.
Wohl ist die Völligkeit der Kindheit nicht erreicht, doch ist ein Abstand
von der Jugendzeit. Im Sterben, da geht es zur Ruhe und kehrt zu seinem Anfang
zurück.
5. Gründe
der Zufriedenheit (Der Alte vom Taischanberg)
Meister Kung wanderte im Taischangebirge. Da sah er den Yung Kiki auf den Wiesen
von Tscheng umhergehen im Rehpelz und mit einem Strich gegürtet. Er schlug
die Laute und sang.
Meister Kung fragte und sprach: »Was ist es, worüber
Ihr fröhlich seid?«
Er erwiderte: »Meiner Freuden sind viele. Unter
allen Geschöpfen, die der Himmel erzeugt, ist der Mensch das edelste. Und
mir ist es zuteil geworden, Mensch zu sein: das ist meine erste Freude. Der
Unterschied zwischen Mann und Weib ist, daß der Mann geehrt, das Weib
gering ist; darum gilt der Mann für edler. Nun ist es mir zuteil geworden,
daß ich ein Mann bin: das ist meine zweite Freude. Unter den Menschen,
die geboren werden, gibt es solche, die weder Sonne noch Mond erblicken, die
nicht den Arm der Wärterin verlassen. Nun wandere ich schon 90 Jahre umher:
das ist meine dritte Freude. Armut ist das beständige Los des Gelehrten,
der Tod ist das Ende aller Menschen. Wenn man in dieser beständigen Lage
verweilend das Ende erreicht: Worüber sollte man da traurig sein?«
Meister Kung sprach: »Wohl dem, der so sich selbst
befreien kann.«
6. Verschiedene
Wertung von Leben und Tod (Der alte Lin
Le)
Lin Le (Waldmensch) war wohl hundert Jahre alt. Es war Frühlingszeit, und
er war noch in Pelz gehüllt und las zurückgelassene Ähren auf
den abgeernteten Feldern auf und sang im Gehen. Meister Kung, auf seiner Reise
nach We, erblickte ihn auf dem Feld. Er sah nach seinen Jüngern um und
sprach: »Der Alte da ist jemand, mit dem sich‘s
lohnt zu reden. Versuche es doch einer, hinzugehen und ihn zu fragen«!
Dsi Gung bat, gehen zu dürfen.
Er holte ihn ein auf einem Hügel, sah ihm gerade ins Gesicht und sagte
seufzend: »Alter, tut Euch nichts leid, daß
Ihr so singend umhergeht und Ähren leset?«
Lin Le hielt nicht ein im Gehen und hörte nicht auf zu singen. Dsi Gung
drang unablässig in ihn. Da wandte er sich ihm zu und antwortete: »Was
sollte mir denn leid tun?«
Dsi Gung sprach: »Ihr wart in der Jugend nicht strebsam;
als Ihr erwachsen wart, habt Ihr nicht mit der Zeit gekämpft; jetzt seid
Ihr alt und habt nicht Weib noch Kind, und die Zeit des Todes naht heran. Was
habt Ihr da noch Grund zur Freude, daß Ihr beim Ährenlesen singt?«
Lin Le lächelte und sprach: »Was ich für
Freude achte, können alle Menschen haben, aber sie halten es für Leid.
Weil ich in der Jugend nicht gestrebt und als Erwachsener nicht mit der Zeit
gekämpft, darum habe ich es auf ein so hohes Alter gebracht. Weil ich im
Alter nicht Weib noch Kind habe, und es kommt der Tod heran, darum kann ich
so fröhlich sein.«
Dsi Gung sprach: »Hohes Alter ist etwas, das nach
dem Gefühl der Menschen gut ist; aber der Tod ist etwas, das die Menschen
hassen: wie könnt Ihr denn den Tod für Freude achten?«
Lin Le sprach: »Sterben und Leben ist ein Gehen
und Zurückkehren. Darum, wer hier stirbt: wer weiß, ob er nicht dort
geboren wird? Ich weiß nur, daß beides einander nicht gleich ist.
Wie kann ich wissen, ob einer, der mit Müh‘ und Not sein Leben sucht,
nicht am Ende betrogen ist? Wie kann ich wissen, ob heute mein Tod nicht etwas
Besseres ist als früher mein Leben?«
Dsi Gung vernahm es, aber verstand nicht, was er meinte. Er ging zurück,
um es dem Meister zu sagen. Der Meister sprach: »Ich
wußte, daß er einer ist, mit dem sich‘s lohnt zu reden, und
richtig war es so. Wahrlich, er hat es erfaßt, aber nicht erschöpft.
«
7. Im Grab
ist Ruh (Dsi Gung und der Meister)
Dsi Gung war des Lernens müde und sagte zu Dschung Ni (Konfuzius):
»Ich möchte Ruhe finden.«
Dschung Ni sprach: »Das Leben hat keine Ruhe«.
Dsi Gung sprach: »Dann gibt es also keine Ruhe für
mich?«
Dschung Ni sprach: »O ja; sieh dort im Brachfeld
alle die Gräber, so weißt du, wo es Ruhe gibt. «
Dsi Gung sprach: »Wahrlich, groß ist der Tod;
die Edlen bringt er zur Ruhe, die Gemeinen zur Unterwerfung.«
Dschung Ni sprach: »Si, du hast es erkannt. Die
Menschen im allgemeinen wissen nur, daß das Leben eine Freude ist, aber
nicht, daß es auch bitter ist. Sie wissen nur, daß das Alter hinfällig
ist, aber nicht, daß es auch friedlich ist. Sie wissen nur, daß
der Tod ein Übel ist, aber nicht, daß er auch Ruhe gibt«.
8. Von der
irdischen Pilgerschaft
Meister Yän sprach: »Wie schön dachten die Alten vom Tode! Die
Guten bringt er zur Ruhe, die Schlechten bringt er zur Unterwerfung.
Der Tod ist die Rückkehr des Wesens. Die Alten nannten die Verstorbenen
Heimgegangene. Wenn man von den Verstorbenen als von Heimgegangenen redet,
dann sind die Lebenden Wanderer. Wer wandert und weiß nicht wohin, ist
heimatlos. Wenn ein einzelner Mensch seine Heimat verloren hat, so hält
das die ganze Mitwelt für unrecht. Nun aber die ganze Welt ihre Heimat
verlor, ist niemand der es unrecht finde.
Wenn ein Mensch aus seiner Heimat wegläuft, seine Verwandten verläßt,
sein Vermögen verprasst und in alle Himmelsrichtungen wandert und nicht
heimkehrt, wahrlich: was ist das für ein Mensch! Die Welt hält ihn
sicher für einen Verlorenen. Da ist ein anderer Mensch, der das äußere
Leben wichtig nimmt, geschickt ist sich einen Namen zu machen und großartig
auftritt in der Welt und keine Grenzen kennt, wahrlich: was ist auch der für
ein Mensch! Aber die Welt hält ihn sicher für einen weisen und klugen
Herrn. Aber beide sind Verlorene. Doch die Welt billigt den einen und verwirft
den anderen, und nur der Berufene weiß, was zu billigen und was zu verwerfen
ist.«
9. Die Leere
Es sagte jemand zu Meister Liä Dsi: »Wie kann
der Meister die Leere so hochschätzen!«
Liä Dsi sprach: »Die Leere braucht keine Hochschätzung.
Es kommt nicht auf den Namen an. Nichts kommt der Stille, nichts der Leere gleich.
Durch Stille, durch Leere findet man die Heimat, durch Nehmen und Geben verliert
man seinen Ort. Wenn eine Sache verdorben und zerstört ist, und man fuchtelt
nachher herum mit Liebe und Pflicht, so kann man sie nicht wieder gut machen.«
10. Das Gleichgewicht
der Kräfte (Stetige Wandlung)
Yü Hiung sprach: »Der Kreislauf hört nicht
auf. Wer aber merkt die verborgenen Veränderungen von Himmel und Erde?
Denn wenn die Dinge auf der einen Seite verringert werden, so werden sie auf
der anderen Seite vermehrt; wenn sie hier voll werden, so nehmen sie dort ab.
Verringerung und Vermehrung, Vollwerden und Abnehmen werden fortwährend
erzeugt und hören fortwährend auf, ihr Gehen und Kommen ist miteinander
verbunden durch unsichtbare Übergänge. Wer merkt es wohl? Überall
nimmt eine Kraft nicht plötzlich zu, nimmt eine Form nicht plötzlich
ab, darum bemerkt man auch ihr Vollwerden und ihr Abnehmen nicht. Es ist wie
bei dem Menschen, der von der Geburt bis zum Alter im äußeren Aussehen
und im Stand seiner Erkenntnis sich täglich ändert: Haut, Nägel
und Haare werden fortwährend erzeugt und fallen fortwährend ab. Nicht
gibt es ein Stillstehen auf der Stufe der Kindheit ohne Wandlung. Die Übergänge
sind unmerklich; erst hinterher erkennt man es.«
11. Weltuntergang
Im Reiche Gi lebte ein Mann, der war in Sorgen, daß Himmel und Erde untergehen
könnten, so daß für seine Person keine Stätte mehr sein
würde. Und er schlief nicht mehr und aß nicht mehr. Und da war ein
anderer Mann, der war in Sorgen über die Sorgen jenes Menschen. Und er
ging hin, ihn aufzuklären.
Er sprach: »Der Himmel ist die Ansammlung der Luft.
Es gibt keinen Raum ohne Luft. Zusammenziehen und Ausdehnen, Einatmen und Ausatmen
wechselt täglich im Himmelsraum ab. Warum sollte man besorgt sein, daß
er einfallen könnte?«
Der andere sprach: »Wenn wirklich der Himmel die
Ansammlung der Luft ist: können dann aber nicht Sonne, Mond und Sterne
herunterfallen?«
Der Aufklärer sprach: »Sonne, Mond und Sterne
sind nur Lichterscheinungen in dieser Luftansammlung. Laß sie nur herunterfallen:
auch dadurch kann niemand verletzt werden«.
Der andere sprach: »Ja, aber was dann, wenn die
Erde entzweigeht?«
Der Aufklärer sprach: »Die Erde ist die Ansammlung
der festen Teile, mit denen der ganze leere Raum ausgestopft ist. Es gibt keinen
Raum ohne feste Teile. Täglich geht und tritt man fortwährend darauf
herum: warum sollte man besorgt sein, daß sie entzweigeht?«
Da ließ jener seine Sorgen und hatte eine große Freude, und der
Aufklärer ließ auch seine Sorgen und hatte auch eine große
Freude.
Der Gelehrte Dschang Lu hörte das, machte sich über ihn lustig und
sprach: »Regenbogen, Wolken und Nebel, Wind und
Regen und die klimatischen Vorgänge: das sind die Bestandteile der Luft,
die in ihrer Zusammensetzung den Himmel bilden. Berge und Täler, Flüsse
und Meere, Metalle und Gesteine, Feuer und Holz: das sind die Elemente der Form,
die in ihrer Zusammensetzung die Erde bilden. Wenn man nun weiß, daß
sowohl die Luft als auch die feste Masse etwas Zusammengesetztes ist, wie kann
man dann noch meinen, daß das nicht zugrunde geht?
Was wir Himmel und Erde nennen, ist nur ein winziges Teilchen im leeren Raum.
Es ist freilich unbestreitbar, daß diese Dinge, die größten
innerhalb des uns bekannten Seins, nicht leicht ein Ende nehmen und sich erschöpfen.
Und es ist ferner unbestreitbar, daß es nicht leicht zu berechnen und
erkennen ist. Das, worüber jener sich Sorgen machte: daß sie untergehen,
liegt allerdings in weiter Ferne. Aber das, was der andere sagte: daß
sie nicht untergehen, ist auch nicht richtig. Himmel und Erde werden unvermeidlich
untergehen und sich in ihre Bestandteile auflösen, und wer gerade zur Zeit
ihres Unterganges lebt, der hat gewißlich Grund zur Sorge.«
Meister Liä Dsi hörte es und sprach lächelnd: »Wer
behauptet, daß Himmel und Erde untergehen, ist im Irrtum; wer behauptet,
daß sie nicht untergehen, ist ebenfalls im Irrtum. Ob sie untergehen oder
nicht, ist etwas, das wir nicht wissen können. Und doch behauptet der eine
dies und der andere das. Das Leben versteht den Tod nicht, und der Tod versteht
das Leben nicht. Die Zukunft versteht die Vergangenheit nicht, und die Vergangenheit
versteht die Zukunft nicht. Warum also sollte ich mir darüber Gedanken
machen, ob Himmel und Erde untergehen oder nicht untergehen?«
12. Eigentum
Schun (der große Herrscher) fragte den Dscheng und sprach: »Kann
man den Sinn des Weltgeschehens sich zu eigen machen?«
Der sprach: »Nicht einmal dein Leib ist dein Eigentum,
wie willst du da den Sinn zum Eigentum dir machen?«
Schun sprach: »Wenn mein Leib nicht mein Eigentum
ist, wessen Eigentum ist er denn dann«?
Jener sprach: »Er ist die Form, die Himmel und Erde
dir zugeteilt. Dein Leben ist nicht dein eigen, es ist das Gleichgewicht der
Kräfte, das Himmel und Erde dir zugeteilt. Deine Natur und dein Schicksal
sind nicht dein eigen, sie sind der Lauf, den Himmel und Erde dir zugeteilt.
Deine Söhne und Enkel sind nicht dein eigen, sie sind die Überbleibsel,
die Himmel und Erde dir zugeteilt. Darum: wir gehen
und wissen nicht wohin, wir bleiben, und wissen nicht wo, wir essen und wissen
nicht warum: das alles ist die starke Lebenskraft von Himmel und Erde: wer kann
die sich zu eigen machen?«
13. Zweierlei
Räuber
In Tsi lebte ein Mann namens Guo, der war sehr reich. In Sung lebte ein Mann
namens Hiang, der war sehr arm und ging von Sung nach Tsi, um den Mann Guo um
sein Geheimnis zu bitten.
Dieser sagte zu ihm: »Ich bin tüchtig im Rauben.
Nachdem ich Räuber geworden, da hatte ich im ersten Jahre schon etwas,
im zweiten Jahr schon genug, im dritten Jahr schon ein großes Stück
Land. Von da an ging es weiter, bis zum Besitz von ganzen Dörfern und Markungen.«
Der Mann namens Hiang war hoch erfreut. Er hatte wohl die Rede vom Räubersein
verstanden, aber nicht den Sinn, in dem jener Räuber war. So fing er denn
an, über Mauern zu klettern und in Häuser einzubrechen, und nahm alles,
was ihm unter die Hände und vor Augen kam. Nicht lange, da wurde er wegen
des angehäuften Raubs bestraft und verlor so noch all seine frühere
Habe dazu.
Er dachte, der Mann Guo habe ihn zum besten gehabt, ging hin und machte ihm
Vorwürfe.
Guo sprach: »Wie hast du denn das Räuberhandwerk
betrieben?«
Hiang erzählte nun, wie es ihm gegangen.
Da sagte Guo: »Ei, daß du den Sinn des Räuberseins
so mißverstehen konntest! Nun will ich ihn dir erklären: Ich habe
sagen hören, daß der Himmel seine Zeiten und die Erde ihre Gaben
hat. Ich habe des Himmels Zeiten und der Erde Gaben geraubt, die Feuchtigkeit
von Wolken und Regen, die Fruchtbarkeit von Berg und Tal, um mein Korn zu erzeugen
und mein Getreide fett zu machen, um meine Mauern zu bauen und meine Häuser
zu zimmern. Zu Lande raubte ich Vögel und Tiere, zu Wasser raubte ich Fische
und Schildkröten. Alles war Raub. Denn Korn und Getreide, Erde und Holz,
Vögel und Tiere, Fische und Schildkröten sind alle vom Himmel erzeugt
und keineswegs mein Eigentum. Aber ich beraubte den Himmel und hatte deshalb
kein Unglück. Gold aber und Edelsteine, Perlen, Kostbarkeiten, Lebensmittel,
Reichtümer und Waren sind Dinge, die sich andere Menschen schon genommen
haben, nicht freie Gaben des Himmels. Wenn man das raubt und wird dafür
bestraft, wer kann sich darüber beklagen?«
Der Mann Hiang kam in große Zweifel und meinte, Guo wolle ihn zum zweitenmal
betrügen. Da begegnete er dem Herrn Dung Go, und fragte ihn, wie das sei.
Der Herr Dung Go sagte: »Ist doch schon der Gebrauch
deines Leibes ein Raub. Du raubst das Gleichgewicht der beiden Weltkräfte,
damit dein Leben wird und deine Gestalt besteht. Wie viel mehr sind alle äußeren
Dinge Raub! In Wirklichkeit sind Himmel und Erde und alle Geschöpfe untrennbar
verbunden; die die aufhäufen und besitzen wollen, sind alle im Irrtum.
Der Mann namens Guo ist Räuber in selbstlosem Sinn, darum traf ihn kein
Unglück; du warst Räuber aus Selbstsucht, darum wurdest du bestraft.
Wer ein selbstloses Selbst hat, ist auch ein Räuber, ebenso wie der, der
kein selbstloses Selbst hat, ist auch ein Räuber, ebenso wie der, der kein
selbstloses Selbst hat, ein Räuber ist. Daß aber Selbstlosigkeit
auf Selbstlosigkeit trifft und Selbstsucht auf Selbstsucht, ist das Wesen von
Himmel und Erde. Wer das Wesen von Himmel und Erde kennt: wer ist für den
ein Räuber und wer ist kein Räuber?«
S.33ff.
Aus: Liä Dsi, Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Die Lehren der Philosophen
Liä Yü Kou und Yang Dschu. Aus dem Chinesischen übertragen und
erläutert von Richard Wilhelm.
Diederichs Gelbe Reihe Band 28
Schein und Sein
Sammlung
des Geistes (Buch II)
Liä Dsi fragte den Guan Yin und sprach: »Die
Adepten gehen durch Gegenstände ohne Hindernis hindurch, sie treten auf
Feuer und werden nicht heiß, sie wandeln über der Welt dahin und
zittern nicht. Darf ich fragen, wodurch man diese Stufe erreichen kann?«
Guan Yin sprach: »Es ist das die Bewahrung der reinen
Kraft, nicht Weisheit, Gewandtheit, Entschlossenheit oder Wagemut. Setz‘
dich: ich will mit dir darüber reden. Alles
was Gestalt, Klang und Farbe hat, ist ein Ding. Ein Ding ist von dem andern
nicht räumlich entfernt, ein Ding ist dem andern nicht zeitlich voran:
das alles ist nur Erscheinung. Die
Dinge entstehen jenseits der Form und enden jenseits des Wandelbaren. Wer das
erreichen und ergründen könnte — der könnte wohl Vollkommenheit
erlangen. Der würde weilen im Maß ohne Lüste und würde
sich bergen in spurloser Zeit. Er wandelt umher, da wo alle Dinge beginnen und
enden. Er macht seine Natur einheitlich, er nährt
seine Kraft, er hält sein WESEN zusammen, um durchzudringen zur Entstehung
der Dinge. Wer also ist, dessen Geist wahrt völlige Geschlossenheit, dessen
Seele ist ohne Mangel, wo könnten da die Dinge in ihn eindringen?
Nimm einen Betrunkenen, der vom Wagen fällt. Fällt
er auch heftig, er stirbt nicht daran. Seine Knochen sind wie die der andern
Leute, aber er bleibt von deren Beschädigung ver¬schont. Das macht:
seine Seele ist in sich abgeschlossen. Er merkt weder, wie er fährt noch
wie er fällt. Leben und Tod, Schrecken und Furcht dringen nicht in seine
Brust, darum braucht er die Dinge, die er begegnet, nicht zu fürchten.
Wenn nun dieser Mensch im Wein eine solche völlige Abge¬schlossenheit
erlangt! Der Berufene ist geborgen im Geist, darum können ihm die Außendinge
nicht schaden.« S.51f.
Aus: Liä Dsi, Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Die Lehren der Philosophen
Liä Yü Kou und Yang Dschu. Aus dem Chinesischen übertragen und
erläutert von Richard Wilhelm.
Diederichs Gelbe Reihe Band 28
Die Lehre
vom Schein (Buch III)
Lau Tscheng Dsi wollte bei Meister Yin Wen die Lehre vom Schein erlangen. Aber
der teilte ihm drei Jahre lang nichts mit. Da bat Lau Tscheng Dsi um Aufklärung
über seine Fehler und Entlassung. Meister Yin Wen machte ihm eine Verbeugung
und führte ihn in sein Gemach.
Nachdem er die Leute seiner Umgebung entfernt hatte, sprach er also zu ihm:
»Als vor Zeiten Lau Dan (Laotse)
nach Westen ging, wandte er sich zu mir und sprach:
>Die Kraft, die zu Zeugungen führt, die Form,
die zu Gestaltungen führt, sind beide nur Schein. Was durch Schöpfung
und Wandlung begonnen wird, was durch die beiden Weltkräfte verändert
wird, heißt Zeugung, heißt Tod. Was die Bestimmung bedingt, die
Veränderungen durchdringt, die Gestaltungen verursacht, den Wechsel veranlaßt,
heißt Wandlung, heißt Schein. Die Macht, die die Welt erschuf, ist
geheimnisvoll in ihrem Wirken, tief in ihrem Walten, darum ist sie unerschöpflich
und unendlich. Die Macht, die die Einzelgestaltungen verursacht, ist offenbar
in ihrem Wirken und flach in ihrem Walten, darum wechselt bei ihnen Entstehen
und Vergehen. Wer erkennt, daß Schein und Wandlung dasselbe ist wie Zeu¬gung
und Tod, der erst kann die Lehre vom Schein erlangen. Ich und du sind auch Schein,
was braucht man ihn also erst noch zu erlernen!<«
Lau Tscheng Dsi kehrte heim und dachte über die Worte des Meisters Yin
Wen tief nach, drei Monate lang. Da hatte er die freie Herrschaft über
Sein und Nichtsein. Er konnte die vier Jahreszeiten vertauschen, im Winter Donner
und im Sommer Eis machen, die Vögel zu Lauftieren und die Lauftiere zu
Vögeln machen. Aber sein Leben lang offenbarte er nicht sein Geheimnis,
darum ward es in der Welt nicht überliefert.
Magie (Buch
III)
Meister Liä Dsi sprach: »Der gute Magier gebraucht
seine geheimen Kräfte im Verborgenen, und seine Werke gleichen (nach außen
hin) denen der anderen Menschen. Die großen Taten der heiligen Männer
der Vorzeit sind nicht notwendig durch die Stärke besonderer Weisheit und
Muts vollbracht; vielleicht benützten sie zu ihrer Vollendung die Magie.
Wer vermag das zu ergründen?«
Wachen
und Traum (Buch III)
Im Wachsein gibt es acht Erfüllungen. Im Traumleben gibt es sechs Vorbedeutungen.
Die acht Erfüllungen sind: Absicht, Handlung, Erlangen, Verlieren, Trauer,
Freude, Geburt, Tod. Diese acht Erfüllungen werden durch die Körperlichkeit
bedingt. Die sechs Vorbedeutungen sind: der rechte Traum, der Warnungstraum,
der Sehnsuchtstraum, der Wachtraum, der freudige Traum, der Angsttraum. Diese
sechs Vorbedeutungen werden durch den Geist eingegeben.
Wer die Entstehung der bedingten Veränderungen nicht kennt, der wird, wenn
ein Fall eintritt, über seine Ursachen im unklaren sein. Wer die Entstehung
der bedingten Veränderungen kennt, der wird, wenn ein Fall eintritt, seine
Ursachen erkennen. Wer die Ursachen erkennt, der bleibt frei von aller Verwirrung.
Jeder einzelne Körper steht mit seiner Fülle
und Leere, seiner Not und Ruhe in durchgehendem Zusammenhang mit der ganzen
Welt und steht in Wechselwirkung mit allen Dingen. Darum, wenn die Kraft
des Trüben mächtig ist, so träumt man vom Durchschreiten großer
Wasser und von Beängstigung; wenn die Kraft des Lichten mächtig ist,
so träumt man vom Durchschreiten großer Feuer, von Hitze und Helle.
Ist das Trübe und Lichte beides mächtig, so träumt man von Geburt
und Tod. Ist man gesättigt, so träumt man vom Spenden; ist man hungrig,
so träumt man vom Nehmen. Darum, wer an Leichtblütigkeit (Manie) leidet,
der träumt von Ausdehnung; wer an Schwermut (Melancholie) leidet, der träumt
vom Ertrinken. Wer mit umgebundenem Gürtel schläft, der träumt
von Schlangen. Von wem fliegende Vögel ein Haar im Schnabel halten, der
träumt vom Fliegen. Naht man dem Trüben, so träumt man von Feuer,
vor einer Krankheit träumt man von Essen. Nachdem man Wein getrunken, ist
man traurig; nachdem man gesungen und getanzt, weint man.
Der Meister Liä Dsi sprach: »Was dem Geist
von außen her begegnet, zeigt sich als Traum, was dem Körper von
außen her begegnet, zeigt sich als Begebenheit. Daher sind die Vorstellungen
des Tages und die Träume der Nacht äußere Einwirkungen auf Körper
und Geist. Darum, wessen Geist in sich fest geworden, für den verschwinden
ganz von selbst Vorstellungen und Träume. Darum ist es kein leeres Gerede,
daß die wahren Menschen des Altertums im Wachen ihr Selbst vergaßen
und im Schlafen keine Träume hatten.« S.75ff.
Aus: Liä Dsi, Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Die Lehren der Philosophen
Liä Yü Kou und Yang Dschu. Aus dem Chinesischen übertragen und
erläutert von Richard Wilhelm.
Diederichs Gelbe Reihe Band 28