Hans Leisegang (1890 – 1951)
>>>Gott
Die geheime Offenbarung
Träger der Offenbarung ist Jesus selbst. Was
er aber dem kleinen Kreise der Eingeweihten mitgeteilt hatte und was dadurch
die gnostische Gemeinde an esoterischer Weisheit besaß, musste etwas
anderes, Größeres und Tieferes sein als das Evangelium Jesu, das
die Kirche predigte. Um der allgemein bekannten eine geheime Offenbarung an
die Seite stellen zu können, ließ man Jesus nach seiner Himmelfahrt
noch einmal auf längere Zeit, auf 18 Monate bei den Valentinianern, auf
545 Tage in der Ascensio Jesajae [Himmelfahrt Jesajas],
auf 12 Jahre in der Pistis
Sophia, im Kreise seiner nächsten Jünger und Jüngerinnen
weilen und ihnen die Geheimlehre verkünden, durch
die seine irdische Wirksamkeit erst die rechte Beleuchtung erhielt und außerdem
alles das von ihm selbst ausgesprochen wurde, was sich in den Schriften der
Kirche nicht fand, dem Gnostiker aber so ans Herz gewachsen war, daß er
es auf ihn selbst zurückgeführt sehen wollte. Eine solche nach
der Auferstehung von Jesus gegebene Geheimlehre kennt nicht nur die Pistis Sophia
und der zu ihr gehörende Kreis von koptischen Schriften, sie erscheint
auch in den apokryphen Fragen des Bartholomäus, den Revelationes Bartholomaei,
der »Unterweisung Josephs«, dem Evangelium
Mariae, dem Apocryphon Johannis und der Sophia Jesu Christi. In der Pistis Sophia aber finden wir den Vorgang der geheimen Offenbarung am
ausführlichsten und in besonderer Farbenpracht ausgemalt: ,,Es geschah
aber am Fünfzehnten des Mondes im Monat Tybi, welches ist der Tag, an welchem
der Mond voll wird, an jenem Tage nun, als die Sonne auf ihrer Bahn herausgekommen
war, kam hinter ihr eine große Lichtkraft heraus,
gar sehr leuchtend, und es war kein Maß für
das ihr anhaftende Licht. Denn sie kam aus
dem Lichte der Lichter, und sie kam aus dem letzten Mysterium, welches
ist das vierundzwanzigste Mysterium von innen bis außen, — diese,
welche sich in den Ordnungen des zweiten Raumes des ersten Mysteriums befinden.
Jene Lichtkraft aber kam herab über Jesus und umgab
ihn ganz, während er entfernt von seinen Jüngern saß,
und er hatte geleuchtet gar sehr, und es war kein Maß für das Licht,
welches an ihm war. Und nicht hatten die Jünger Jesus gesehen infolge des großen Lichtes, in welchem er sich befand,
oder welches an ihm war, denn ihre Augen waren verdunkelt infolge des großen
Lichtes, in dem er sich befand, sondern sie sahen nur das
Licht, das viele Lichtstrahlen aussandte. Und nicht waren die Lichtstrahlen
einander gleich, und das Licht war von verschiedener Art, und es war von verschiedener
Form von unten bis oben, indem ein Strahl vorzüglicher war als der andere
... in einem großen unermesslichen Lichtglanze; er reichte von unter der Erde bis hinauf zum Himmel. — Und als die Jünger
jenes Licht sahen, gerieten sie in große Furcht und große
Aufregung. Es geschah nun, als jene Lichtkraft über
Jesus herabgekommen war, umgab sie ihn allmählich ganz; da fuhr
Jesus auf oder flog in die Höhe, indem er gar sehr leuchtend geworden war
in einem unermeßlichen Lichte.
Und die Jünger blickten ihm nach, und keiner von ihnen sprach, bis daß
er zum Himmel gelangt war, sondern sie alle verhielten sich in großem
Schweigen. Dieses nun geschah am Fünfzehnten des Mondes, an dem Tage, an
welchem er im Monat Tybi voll wird. Es geschah nun, als Jesus zum Himmel gelangt
war, nach drei Stunden, da gerieten alle Kräfte der Himmel in Aufregung,
und alle bewegten sich wider einander, sie und alle ihre Äonen und alle
ihre Örter und alle ihre Ordnungen, und die ganze Erde bewegte sich und
alle, die auf ihr wohnen. Und es gerieten alle Menschen
in der Welt in Aufregung und auch die Jünger, und alle dachten: Vielleicht
wird die Welt zusammengerollt werden. Und nicht hatten alle in den Himmeln befindlichen
Kräfte von ihrer Aufregung abgelassen, sie und die ganze Welt, und sie
bewegten sich alle gegeneinander von der dritten Stunde des Fünfzehnten
des Mondes im Monat Tybi bis zur neunten Stunde des folgenden Tages. Und alle
Engel und ihre Erzengel und alle Kräfte der Höhe priesen alle den
Innern der Inneren, so daß die ganze Welt ihre Stimme hörte, ohne
daß sie abgelassen haben bis zur neunten Stunde des folgenden Tages. Die Jünger saßen aber beieinander, fürchteten sich und waren
gar sehr aufgeregt worden, sie fürchteten sich aber wegen des großen
Erdbebens, welches stattfand, und weinten miteinander, indem sie sprachen: »Was
wird denn geschehen? Vielleicht wird der Erlöser alle Örter zerstören«.
Während sie nun dieses sagten und gegeneinander weinten, da taten
sich die Himmel um die neunte Stunde des folgenden Tages auf, und sie sahen
Jesus herabkommen, gar sehr leuchtend, und es war kein Maß für sein
Licht, in welchem er sich befand. Denn er leuchtete mehr als zu der Stunde,
da er zu den Himmeln hinaufgegangen war, so daß die Menschen auf der Welt
das Licht, welches an ihm war, nicht beschreiben konnten, und es sandte sehr
viele Lichtstrahlen aus, und es war kein Maß für seine Strahlen,
und sein Licht war nicht untereinander gleich, sondern
es war von verschiedener Art und von verschiedener Form, indem einige
Strahlen vorzüglicher als andere ... waren; und das
ganze Licht war beieinander, es war von dreierlei
Art, und die eine Art war vorzüglicher als die andere .. .; die
zweite in der Mitte war vorzüglicher als die erste, welche unterhalb war,
und die dritte, welche oberhalb von ihnen allen war, war vorzüglicher als
die beiden, welche unterhalb waren; und der erste Strahl, der unterhalb von
ihnen allen, war ähnlich dem Lichte, welches über Jesus gekommen war, bevor er hinaufgegangen war zu den Himmeln, und
war nur sich gleich in seinem Lichte. Und die drei Lichtweisen
waren von verschiedener Lichtart, und sie waren
von verschiedener Form, indem einige vorzüglicher als andere waren... Es
geschah aber, als die Jünger dieses sahen, fürchteten sie sich sehr
und gerieten in Aufregung. Jesus nun, der Barmherzige und Mildherzige, als er
seine Jünger sah, daß sie in großer Aufregung sich befanden,
sprach er mit ihnen, indem er sagte: »Seid getrost;
ich hin es, fürchtet euch nicht.« Es geschah nun, als die
Jünger dieses Wort gehört hatten, sprachen sie: »O
Herr, wenn Du es bist, so ziehe Deinen Lichtglanz an Dich, auf daß wir
sehen können, sonst sind unsere Augen verdunkelt, und wir sind aufgeregt,
und auch die ganze Welt ist aufgeregt infolge des großen Lichtes, welches
an Dir ist.« Da zog Jesus den Glanz seines Lichtes an sich; und
als dieses geschehen war, faßten alle Jünger Mut, traten vor Jesus,
fielen alle zugleich nieder, beteten ihn an in großer Freude und sprachen
zu ihm: »Rabbi, wohin bist Du gegangen, oder was
war Dein Dienst, in welchem Du gegangen bist, oder warum vielmehr waren alle
diese Erregungen und alle diese Erdbeben, welche stattgefunden haben?«.“
Jesus erklärt nun seinen Jüngern alles, was mit ihm und mit ihnen
in diesen Stunden und in der Zeit seines Erdendaseins vorgegangen ist. Als er
vor den Augen der Jünger gen Himmel fuhr, stieg er auf bis zu dem Orte,
aus dem er einst in die Welt gekommen war. Sein Ab- und Aufstieg wird erst verständlich,
wenn man sich das ganze Weltbild der Pistis Sophia in seinen großen Zügen
vergegenwärtigt. Die ganze Welt hat sich aus Gott entwickelt. Er ist das
letzte und höchste Prinzip, der Unaussprechliche und Unnennbare. Gedacht
ist er auch hier als ein Wesen von doppelter Natur; er ist die in sich selbst
verharrende Lichtsubstanz aber auch die alles aus
sich entlassende und die ganze Welt hervorbringende und durchdringende Gotteskraft.
Symbolisch wird er vorgestellt als Makranthropos mit Haupt und Gliedern. Es
heißt von ihm: »Und die, welche würdig
sind der Mysterien, welche in dem Unaussprechlichen
wohnen, ... sind ... die Glieder des Unaussprechlichen. Und ein jedes existiert
gemäß dem Werte seiner Herrlichkeit; das Haupt gemäß dem
Werte des Hauptes und das Auge gemäß dem Werte der Augen und das
Ohr gemäß dem Werte der Ohren und die übrigen Glieder, so daß die Sache offenbar ist: es sind eine Menge Glieder, aber ein einziger Leib.
Dieses zwar habe ich gesagt in einem Beispiel und Gleichnis und Vergleichung,
aber nicht in einer wahrhaftigen Gestalt, noch habe ich in Wahrheit das Wort
offenbart, sondern das Mysterium des Unaussprechlichen«. — Von ihm soll verkündet werden, »weshalb
er der Unaussprechliche genannt ist oder weshalb
er ausgebreitet mit all seinen Gliedern stand, und wieviel Glieder in ihm sich
befinden und alle seine Einrichtungen ..., nämlich seine Ausbreitungen
und seine Beschreibung, wie er ist, und die Anhäufung aller seiner Glieder,
die zu der Einrichtung des Einzigen, des wahren, unnahbaren Gottes gehören«.
Vielleicht darf man in dieser Schilderung den Anthropos wiedererkennen, den
die Ophiten an die Spitze ihres Systems stellten. Aus dem Unaussprechlichen
geht das »erste Mysterium« hervor,
das von Anbeginn in ihm enthalten war. Sein Verhältnis zum Unaussprechlichen
ist dasselbe wie in anderen Systemen das des Logos zu
Gott. Das erste Mysterium ist der Anfang und Ausgang
aller Emanationen, aller anderen »Mysterien« des ganzen Kosmos. Es ist ein genaues Abbild des Unaussprechlichen selbst und
hat ebenfalls eine Doppelnatur: als Logos blickt es zu Gott hin, als Jesus ist
sein Blick auf die Welt gerichtet. Ihm stehen die Apatores zur Seite, und eine
Fülle von geistigen Wesenheiten, Hypertripneumatoi, Protripneumatoi und
Tripneumatoi, sind in ihm enthalten, aus denen wieder andere hervorgehen.
Unter diesem ersten Mysterium erstrecken sich vierundzwanzig weitere Mysterien,
die als aus den Apatores hervorgehende Emanationen pneumatischer Lichtwesen
gedacht sind. Dann kommt der große »Lichtschatz«
oder das »Lichtland«
mit seinen zwölf »Erlösern«
und neun »Wächtern« an den drei
Toren dieser Region. Die Wesen, die den Lichtschatz bevölkern, haben die
Aufgabe, die Seelen zu sammeln, die die Mysterien empfangen haben. Ihre gesammelten Lichtkräfte bilden den eigentlichen Lichtschatz:
»Es gibt kein Mysterium, das vorzüglicher ist,
als diese Mysterien, nach welchen ihr fragt, indem es eure Seele zu dem
Licht der Lichter, zu den Örtern der Wahrheit und der Güte,
zum Orte des Heiligen aller Heiligen führen wird, zu dem Orte, in dem es
weder Frau noch Mann gibt, noch gibt es Gestalten an jenem Orte, sondern ein beständiges, unbeschreibbares Licht«.
Dieses Lichtland ist durch »Vorhänge«
von den unteren Sphären getrennt. Von den drei Toren wird das linke
nach dem dreizehnten Äon zu geöffnet, wenn die »drei
Zeiten« vollendet sind, die Sophia befreit
und damit die Welt erlöst werden soll.
In unendlicher Entfernung vom Lichtschatz liegt der »Ort
der Rechten«. Sechs große Fürsten herrschen über
ihn: Jeû, der Wächter des großen Lichtes, die beiden großen Anführer, Melchisedek,
der große und gute Sabaoth. Sie haben die
Aufgabe, alles Licht aus den Äonen, dem Kosmos und
den in ihnen wohnenden Wesen zu sammeln und dem Lichtschatz wieder zuzuführen. Sabaoth bewacht das »Tor
des Lebens«, erlöst die Seelen von den Qualen, die sie durch
die Archonten des Ortes der Mitte zu erdulden haben, und ermöglicht ihnen
den Wiedereintritt in das irdische Leben.
Durch das Tor des Lebens gelangt man zum »Ort der
Mitte«, der wieder in unendlicher Entfernung
vom Orte der Rechten liegt. Über ihn herrscht
der große und gute Iao. Neben ihm stehen
der »kleine Iao, der
Gute« und der »kleine Sabaoth,
der Gute« mit ihren Engeln. Die Hauptperson dieses Reiches aber
ist die Lichtjungfrau. Sie ist die Seelenrichterin,
die über die Seelen das Urteil ihrer Verdammnis oder ihrer ewigen Seligkeit
ausspricht und sie prüft, ob sie die Mysterien des Lichtes und die Siegel
der Taufen empfingen. Die, welche die Weihen empfangen haben, werden
von ihr versiegelt, die, welche sie nicht empfingen, aber doch rein sind, werden
ins Erdenleben zurückgeschickt, die, welche gefrevelt haben, verstößt
sie in die äußerste Finsternis, wo sie zugrunde gehen.
Unter der Lichtwelt liegt der »Ort
der Linken«. Er umfasst zunächst den dreizehnten Äon,
der den Kerasmos, die Welt des Untergangs, umschließt. Hier regiert der große Unsichtbare oder
Prepator mit der Barbelo und den drei dreimal
Gewaltigen.
Dann kommen die zwölf Äonen, in denen sich stufenweise die Materie
mit dem Lichte mischt. Die Heimarmene-Sphäre trennt die zwölf Äonen von der irdischen Welt.
Auf die Unterscheidung der Richtungen »rechts«
und »links«, das heißt: des Ostens
und des Westens, sind wir schon bei der Darstellung der valentinianischen Gnosis
gestoßen. Hier gehörte das Seelische auf die rechte, das Materielle
auf die linke Seite. Ebenso trafen wir bei den Ophiten auf den Gedanken, dass
der große Okeanos von rechts nach links im Kreise strömt; fließt
er aufwärts nach rechts, so werden Götter geboren, fließt er
abwärts nach links, so entstehen irdische Menschen. Hier tritt zu den Ortsbezeichnungen
»rechts« und »links« die in der Mitte
thronende Lichtjungfrau als Seelenrichterin
und die Heimarmene hinzu, die die irdische Welt
von der himmlischen trennt. S.355-363
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 32, Hans Leisegang, Die Gnosis . ©1985 by Alfred Kröner Verlag
in Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit
freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart