Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716)

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Inhaltsverzeichnis
Jesus am Kreuze, Der Gottesstaat, Nächstenliebe ist Gottesliebe, Erbsünde und Erlösung,
Gott

Jesus am Kreuze
Jesu, dessen Tod und Leiden
Unsre Freud und Leben ist,
Der Du abgeschieden bist,
Auf daß wir nicht von Dir scheiden,
Sondern durch des Todes Tür
Zu dem Leben folgen Dir.

Als der scharfe Speer gedrungen
In die Seite, da das Blut
Und die reine Wasserflut,
Die uns labet, hehr gesprungen,
Läß‘st Du sehen uns Dein Herz
Voll von Lieb und voll von Schmerz.

Deine Arme ausgestrecket
Zeigen Deine Freundlichkeit,
Zu empfangen die bereit,
So Dein Kreuz zu Lieb erwecket;
Wer nicht unempfindlich ist,
Sich in Deine Arme schließt.

Als sich, Herr, Dein Haupt geneiget,
War es, um zu küssen mich,
Da der Geist schon letzet sich,
Noch sich Deine Liebe zeiget.
Selig, wer auch Zeichen gibt,
Daß er bis in Tod Dich liebt.

Lass die matte Seel empfinden
Deiner Liebe süßen Saft.
Wem nicht Deines Leidens Kraft
Kann sein kaltes Herz entzünden,
Jesu, der muß wie ein Stein
Ohne Lieb und Leben sein.

Leibniz für Johann Friedrich Leibniz. 8. April 1684 – Akademie- Ausgabe I, 4. Band, S.667
Auch enthalten in: Leibniz Auswahl und Einleitung: Friedrich Heer (S.161), Fischer Bücherei Band 228

Der Gottesstaat
36. In der Tat sind die Geister diejenigen Substanzen, die der größten Vervollkommnung fähig sind, und ihre Vollkommenheiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich gegenseitig am wenigsten hemmen, oder vielmehr umgekehrt, dass sie einander unterstützen: die Tugendhaftesten allein können auch die vollkommensten Freunde sein. Daraus folgt dann ganz offensichtlich, daß sich Gott, der stets auf die größte allgemeine Vollkommenheit hinaus will, am meisten um die Geister kümmern und ihnen nicht nur im Allgemeinen so viel Vollkommenheit verleihen wird, wie die universale Harmonie nur immer gestattet, sondern auch jedem einzelnen insbesondere. Man kann sogar sagen, daß Gott insofern der Ursprung der Existenzen ist, als er Geist ist; sonst — wenn ihm zur Wahl des Besten der Wille fehlte — bestünde keinerlei Grund dafür, daß e i n Mögliches eher als ein anderes existieren sollte. So geht die Eigenschaft Gottes, selbst Geist zu sein, allen anderen Erwägungen, die er hinsichtlich der Geschöpfe haben kann, vor: nur die Geister sind nach seinem Bilde geschaffen und quasi seines Stammes oder gleichsam Kinder des Hauses, denn sie allein können ihm in Freiheit dienen und wissentlich in Nachahmung der göttlichen Natur handeln: ein einziger Geist wiegt eine ganze Welt auf, denn er drückt sie nicht nur aus, sondern erkennt sie auch und regiert darin in der Weise Gottes sich selbst. Obwohl daher jede Substanz das ganze Universum ausdrückt, ist es doch offenbar, daß die anderen Substanzen mehr die Welt ausdrücken als Gott, daß aber die Geister mehr Gott ausdrücken als die Welt. Und diese so edle Natur der Geister, die sie, soweit das bei bloßen Geschöpfen möglich ist, der Göttlichkeit nähert, hat zur Folge, daß Gott aus ihnen unendlich viel mehr Ruhm gewinnt als aus den übrigen Wesen, oder genauer gesagt: die anderen Wesen geben den Geistern nur Stoff, um ihn zu rühmen. Daher betrifft diese moralische Eigenschaft Gottes, die ihn zum Herrn oder Monarchen der Geister macht, ihn sozusagen persönlich, in einer ganz einzigartigen Weise. Hierin vermenschlicht er sich, hierin will er sich gern Anthropomorphismen gefallen lassen, hierin tritt er in Gemeinschaft mit uns, wie ein Fürst mit seinen Untertanen; und der Gedanke daran ist ihm so teuer, daß ihm der glückliche und blühende Zustand seines Reiches, der in der größtmöglichen Glückseligkeit seiner Bewohner besteht, zum obersten Gesetz wird. Denn für die Personen ist die Glückseligkeit das, was für die Wesen als solche die Vollkommenheit ist. Und wenn das erste Prinzip der Existenz der physischen Welt der Ratschluß ist, ihr so viel Vollkommenheit wie nur möglich zu verleihen, dann muss die erste Absicht bei der moralischen Welt, oder bei dem Staate Gottes, der der vornehmste Teil des Universums ist, die sein, in ihm so viel Glückseligkeit wie nur irgend möglich zu verbreiten. Man darf also nicht daran zweifeln, dass Gott alles so geordnet hat, daß die Geister nicht nur — was unfehlbar richtig ist — immer am Leben bleiben, sondern überdies auch immer ihre moralische Beschaffenheit bewahren, damit sein Staat keine Person verliere, wie die Welt keine Substanz verliert. Infolgedessen werden die Geister stets um sich selbst wissen, sonst könnten sie weder Lohn noch Strafe empfangen, was doch zum Wesen eines Staates gehört, besonders aber des ganz vollkommenen, in dem es an nichts fehlen darf. Da Gott schließlich gleichzeitig der gerechteste und gebefreudigste aller Monarchen ist, und da er nur guten Willen, vorausgesetzt, dass er aufrichtig und ernstlich ist, verlangt, können sich seine Untertanen keine bessere Lebensverfassung wünschen; um sie vollkommen glücklich zu machen, fordert er einzig, dass man ihn liebe.

37. Die Philosophen des Altertums haben diese wichtigen Wahrheiten sehr wenig gekannt: Jesus Christus allein hat sie göttlich ausgedrückt, und zwar auf eine so klare und augemeinverständliche Weise, dass auch die schwerfälligsten Geister sie begriffen haben. Daher hat sein Evangelium das Gesicht der menschlichen Dinge völlig verändert; er gibt uns das Himmelreich oder jenen vollkommenen Staat der Geister, der den Namen des Staates Gottes verdient, dessen bewundernswerte Gesetze er uns entdeckt hat; er allein hat gezeigt, wie sehr Gott uns liebt, und mit welcher Genauigkeit er für alles, was uns angeht, Sorge getragen hat; er hat uns gezeigt, daß Gott, der für die Sperlinge sorgt, die vernünftigen Geschöpfe, die ihm unendlich viel teurer sind, nicht vergessen wird; daß alle Haare auf unserem Haupte gezählt sind; daß eher Himmel und Erde vergehen werden, als daß sich das Wort Gottes und alles, was zur Ordnung unseres Heiles dient, änderte; daß sich Gott um die geringste der verstehenden Seelen mehr kümmert als um die ganze Maschine der Welt; dass wir die nicht fürchten sollen, die den Körper vernichten, aber der Seele nicht schaden können, da ja Gott allein die Seele glücklich oder unglücklich machen kann; daß die Seelen der Gerechten in Gottes Hand sind, sicher vor allen Umwälzungen des Universums, da nichts auf sie wirken kann außer Gott allein; daß keine unserer Taten vergessen bleibt; daß alles angerechnet wird, bis zu den müßigen Worten und bis zu einem recht verwandten Becher Wassers; und endlich, daß alles zum größten Wohle der Guten ausschlagen muss, dass die Gerechten leuchten werden wie die Sonne, und dass weder unsere Sinne noch unser Geist je etwas gekostet haben, was d e r Glückseligkeit nahekäme, die Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.

Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 26, Leibniz, Die Hauptwerke (Metaphysische Abhandlung, S.72-74)
Zusammengefaßt und übertragen von Gerhard Krüger; Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart


Nächstenliebe ist Gottesliebe
Zu allen Zeiten hat die große Masse der Menschen ihre Gottesverehrung in äußere Formen verlegt: die echte Frömmigkeit, d. h. Licht und Tugend, waren niemals ihre Sache. Das ist auch nicht sehr erstaunlich, denn nichts entspricht mehr der menschlichen Schwäche: das Äußere drängt sich uns auf, die inneren Dinge aber verlangen eine Betrachtung, zu der nur die wenigsten fähig sind. Da die wirkliche Frömmigkeit im Gefühl und im Tun besteht, suchen die äußeren Formen der Gottesverehrung sie darin nachzuahmen, und zwar auf zweierlei Art — entweder durch die Pflege zeremonieller Handlungen oder durch die der Glaubensformeln. Die Zeremonien gleichen den Akten der Frömmigkeit, und die Formeln sind ein Schatten der Wahrheit, die sich dem reinen Lichte mehr oder weniger nähern. All diese Formen wären zu loben, wenn sie von denen, die sie erfunden haben, darauf eingerichtet worden wären, das zu bewahren und auszudrücken, was sie nachahmen: wenn die religiösen Zeremonien, die kirchliche Zucht, die Ordensregeln, die menschlichen Gesetze gleichsam wie eine Hecke um das göttliche Gesetz stünden, um uns der Versuchung des Lasters zu entziehen, uns an das Gute zu gewöhnen, uns mit der Tugend vertraut zumachen. Das war das Ziel des Moses und anderer guter Gesetzgeber, der weisen Gründer der religiösen Orden und vor allem Jesu Christi, des göttlichen Begründers der reinsten und aufgeklärtesten Religion. Ebenso verhält es sich mit den Formeln des Glaubens; sie wären erträglich, wenn sie ganz mit der Heilswahrheit übereinstimmten, auch wenn sie nicht die ganze Wahrheit, um die es sich handelt, enthielten. Aber es kommt nur zu oft vor, dass die Gottverehrung in Äußerlichkeiten erstickt, dass das göttliche Licht durch menschliche Meinung verdunkelt wird.

Die Heiden, die vor der Aufrichtung des Christentums die Erde bevölkerten, hatten nur eine Art von Formen: sie hatten Zeremonien in ihrem Kultus aber sie kannten keine Glaubensartikel und hatten nie daran gedacht, ihre dogmatische Theologie in Formeln auszudrücken. Sie wussten nicht, ob ihre Götter wirkliche Personen waren oder nur Symbole der Naturkräfte, etwa der Sonne, der Planeten, der Elemente. Ihre Mysterien bestanden nicht in schwerverständlichen Dogmen, sondern in bestimmten geheimen Gebräuchen, zu denen die Profanen, d. h. die Nicht-Eingeweihten niemals zugelassen wurden. Diese Gebräuche waren meistens lächerlich und absurd, und man muss
te sie geheimhalten, um sie vor Missachtung zu bewahren. Die Heiden waren voll Aberglauben, sie taten sich etwas auf Wunder zugute; alles war bei ihnen erfüllt von Orakeln, Augurien, Weissagungen, göttlichen Eingebungen: die Priester erdachten sich allerlei Zeichen von Zorn oder Güte der Götter und gaben vor, deren Interpreten zu sein. So suchte man die Geister durch Furcht und Hoffnung vor Menschlichem zu regieren; aber die große Zukunft eines anderen Lebens wurde überhaupt nicht ins Auge gefaßt, und man gab sich keine Mühe, den Menschen wahre Ansichten über Gott und die Seele zu vermitteln.

Unter allen Völkern des Altertums kennt man nur die Hebräer, die allgemein anerkannte Dogmen ihrer Religion besaßen. Abraham und Moses richteten den Glauben an den Einen Gott auf, die Quelle alles Guten, den Schöpfer aller Dinge. Die Hebräer reden in sehr würdiger Weise von der höchsten Substanz, und man sieht mit Überraschung, daß die Einwohner eines kleinen Ländchens der Erde aufgeklärter waren als die ganze übrige Menschheit. Die Weisen anderer Nationen haben darüber vielleicht hie und da ebenso viel gesagt, aber sie hatten nicht das Glück, genügend Anhänger zu finden und das Dogma zum Gesetz erheben zu können. Nur hat Moses die Lehre von der Unsterblichkeit der Seelen nicht in seine Gesetze aufgenommen; sie entsprach zwar seinen Anschauungen, wurde auch im kleinen Kreise gelehrt, aber sie war nicht allgemein anerkannt, bis Jesus Christus den Schleier hob und ohne die Macht, aber mit der ganzen Kraft eines Gesetzgebers lehrte, daß die unsterblichen Seelen in ein anderes Leben übergehen, wo sie den Lohn ihrer Taten empfangen sollen. Moses schon hatte seinem Volke die schönen Ideen der Größe und Güte Gottes gegeben, denen heute viel Kulturvölker zustimmen; aber Jesus Christus zeigte erst alle Konsequenzen auf, er lehrte erkennen, daß sich Gottes Güte und Gerechtigkeit in dem, was er den Seelen bereitet, vollkommen offenbaren. Ich will hier nicht auf die andern Punkte der christlichen Lehre eingehen, sondern nur zeigen, wie Jesus Christus die Umwandlung der natürlichen in eine Gesetzesreligion vollzog, wie er ihr die Autorität eines öffentlichen Dogmas verlieh. Er allein tat, was sich so viele Philosophen vergebens zu tun bemühten: und da die Christen endlich die Oberhand im Römischen Reiche gewannen, das den besten Teil der damals bekannten Welt beherrschte, wurde die Religion der Weisen die der ganzen Völker. Mohammed in der Folge entfernte sich nicht von diesen großen Dogmen der natürlichen Theologie; seine Anhänger verbreiteten sie sogar unter den entferntesten Völkern in Asien und Afrika, wohin das Christentum nicht gedrungen war; und sie zerstörten in vielen Ländern den heidnischen Aberglauben, der der wahren Lehre von der Einzigkeit Gottes und der Unsterblichkeit der Seele entgegenstand.

Offenbar hat also Jesus Christus, indem er das Werk des Moses vollendete, gewollt, dass die Gottheit nicht nur Gegenstand unserer Furcht und Verehrung, sondern auch unserer Liebe und Hingabe sei. Das hieß die Menschen schon im voraus glücklich machen, ihnen schon hier auf Erden einen Vorgeschmack der zukünftigen Glückseligkeit geben. Denn es gibt nichts Angenehmeres, als das zu lieben, was der Liebe wert ist. Der Affekt der Liebe ist es, der uns Freude finden läßt an der Vollkommenheit des Geliebten, und es gibt nichts Vollkommeneres, nichts Entzückenderes als Gott. Um ihn zu lieben, genügt es, seine Vollkommenheiten zu betrachten, was sehr leicht ist, weil wir die Ideen seiner Vollkommenheiten in uns tragen. Die Vollkommenheiten Gottes sind auch die unserer Seele, nur dass er sie schrankenlos besitzt: er ist ein Ozean, von dem wir nur einige Tropfen bekommen haben; in uns ist etwas von Macht, von Erkenntnis, von Güte, aber ganz ist dies alles in Gott. Ordnung, Proportionen, Harmonie entzücken uns, Malerei und Musik sind Beispiele dafür: Gott aber ist ganz Ordnung, immer bewahrt er das rechte Maß, er macht die universelle Harmonie aus: alle Schönheit strahlt nur von ihm aus.

Daraus folgt offenbar, dass die wahre Frömmigkeit und selbst die wahre Glückseligkeit in der Liebe zu Gott bestehen, aber in einer aufgeklärten Liebe, deren Glut von Licht begleitet ist. Eine solche Art von Liebe erzeugt jene Freude an den guten Handlungen, die die Tugend auszeichnet und die, indem sie alles auf Gott als den Mittelpunkt bezieht, das Menschliche zum Göttlichen emporhebt. Denn man erfüllt die Anordnungen der höchsten Vernunft, indem man seine Pflicht tut und der Vernunft gehorcht. Man richtet alle seine Bestrebungen auf das Gemeinwohl, das mit dem Ruhme Gottes zusammenfällt; so findet man, daß es kein größeres Sonderinteresse geben kann, als sich dem Gemeinwohl hinzugeben, und man erreicht die eigene Befriedigung, wenn man sich bemüht, zum wahren Vorteil aller Menschen zu wirken. Ob man Erfolg hat oder nicht: man ist zufrieden mit dem, was geschieht, wenn man sich dem Willen Gottes unterwirft in der Überzeugung, daß er das Beste will. Aber bevor er noch seinen Willen durch die Tatsachen selbst kundtut, sucht man ihm entgegenzukommen, indem man das tut, was seinen Befehlen am ehesten zu entsprechen scheint. Wenn wir diese Geisteshaltung erreicht haben, wird uns der mangelnde Erfolg nicht erschrecken, wir bedauern nichts als unsere Fehler; die Undankbarkeit der Menschen wird uns in der Übung des Wohltuns nicht ermatten lassen. Unsere Nächstenliebe ist demütig und maßvoll, sie maßt sich nicht an, zu herrschen; ebenso aufmerksam für unsere eigenen Fehler wie für die Talente der anderen, sind wir geneigt, Kritik an unseren Handlungen zu üben, die der andern aber zu entschuldigen und zu berichtigen; wollen wir doch uns selbst vervollkommnen, niemandem aber Unrecht tun. Es gibt keine Frömmigkeit ohne Nächstenliebe, und man kann ohne Dienstfertigkeit und Wohltun keine aufrichtige Frömmmigkeit bekunden.

Eine gute Naturanlage, eine tüchtige Erziehung, der Umgang mit frommen und tugendhaften Personen können viel dazu beitragen, die Seelen in diese schöne Haltung zu bringen; was sie aber am festesten damit verknüpft, das sind gute Prinzipien. Ich habe es schon gesagt, die Glut muß mit Licht verbunden werden, die Vollkommenheiten des Verstandes müssen denen des Willens erst ihre Vollendung geben. Die Übung der Tugend wie die des Lasters kann die Wirkung einer einfachen Gewohnheit sein: man kann Geschmack daran finden: wenn aber die Tugend vernunftgemäß ist, wenn sie sich auf Gott als den letzten Grund aller Dinge bezieht, ist sie auf Erkenntnis begründet. Man könnte Gott nicht lieben, ohne seine Vollkommenheiten zu kennen, und diese Erkenntnis schließt die P r i n z i p i e n der wahren Frömmigkeit ein. Das Ziel der Religion muß es sein, sie in die Seelen einzuprägen: aber wie soll man es erklären, daß die Menschen, daß die Lehrer der Religion sich so oft weit von diesem Ziel entfernt haben! Gegen die Absicht unseres göttlichen Meisters ist die Frömmigkeit zu bloßen Zeremonien herabgesunken, und die Lehre ist mit Formeln überladen worden. Sehr oft waren diese Zeremonien nicht gerade geeignet dazu, zur Tugendübung anzuhalten, und die Formeln waren manchmal wenig lichtvoll. Sollte man es glauben? es gab Christen, die glaubten, gottesfürchtig sein zu können, ohne ihren Nächsten zu lieben, und fromm, ohne Gott zu lieben; oder man glaubte, seinen Nächsten lieben zu können, ohne ihm zu dienen, und Gott lieben zu können, ohne ihn zu erkennen. Mehrere Jahrhunderte sind hingegangen, ohne daß die Menge sich dieses Irrtums bewußt geworden wäre, und noch ist viel von diesem Reich der Finsternis übrig. Man findet manches Mal Menschen, die laut von Frömmigkeit, Gottesfurcht und Religion reden, die sie sogar lehren, und doch wird man sehen, daß sie überhaupt nicht über die göttlichen Vollkommenheiten unterrichtet sind. Sie machen sich falsche Vorstellungen von der Güte und Gerechtigkeit des Herrschers über das Universum; sie stellen sich einen Gott vor, der es nicht verdient, daß man ihn nachahmt und ihn liebt. Das hat, wie mir scheint, gefährliche Folgen, denn es ist von der größten Bedeutung, daß gerade die Quelle der Frömmigkeit nicht vergiftete wird. Die alten Irrtümer derer, die die Gottheit angeklagt oder gar ein böses Prinzip aus ihr gemacht haben, sind in der Gegenwart hie und da wieder aufgekommen: man bezog sich auf die unwiderstehliche Macht Gottes, wo es vielmehr darauf ankam, seine höchste Güte aufzuzeigen, und argumentierte mit seiner despotischen Macht, wo man eine durch die vollkommenste Weisheit geregelte Macht hätte erkennen sollen. Ich habe bemerkt, daß diese Ansichten, die imstande sind, Unheil anzurichten, sich besonders auf verworrene Begriffe von Freiheit, Notwendigkeit und Schicksal stützen; und ich habe bei Gelegenheit mehr als einmal zur Feder gegriffen. um über diese wichtigen Materien Aufklärung zu schaffen. Schließlich aber sah ich mich genötigt, meine Gedanken über all diese untereinander verknüpften Gegenstände zusammenzufassen und sie der Öffentlichkeit mitzuteilen. Das habe ich in den Studien unternommen, die ich hier über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels vorlege.

Es gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich unsere Vernunft oft verirrt: das eine betrifft die große Frage der Freiheit und der Notwendigkeit, besonders in bezug auf Erzeugung und Ursprung des Bösen; das andere besteht in der Erörterung der Kontinuität und der Indivisiblen
[unteilbaren Größen], die als ihre Elemente erscheinen, wohin auch das Problem des Unendlichen gehört. Die erste Frage bedrängt fast die ganze Menschheit, die andere beschäftigt nur die Philosophen. Vielleicht habe ein anderes Mal Gelegenheit, mich über die zweite Frage auszusprechen und darauf aufmerksam zu machen, daß man auf Grund falscher Vorstellungen über die Natur der Substanz und der Materie falsche Behauptungen gemacht hat, die zu unüberwindbaren Schwierigkeiten führen, welche, recht betrachtet, zur Beseitigung eben dieser Behauptung führen müßten. Wenn aber die Erkenntnis der Kontinuität für die Spekulation wichtig ist, so ist die der Notwendigkeit nicht minder wichtig für die Praxis; und dies wird mit den dazu gehörigen Fragen, nämlich der Freiheit des Menschen und der Gerechtigkeit Gottes, der Gegenstand dieser Abhandlung sein.

Fast zu allen Zeiten haben sich die Menschen durch einen Trugschluß beunruhigen lassen, den man im Altertum den der faulen Vernunft nannte, weil er darauf hinauslief, nichts zu tun, oder doch mindestens sich um nichts zu kümmern und nur dem Hange nach den gegenwärtigen Freuden zu folgen. Denn, sagte man, wenn die Zukunft notwendig ist, so wird geschehen, was geschehen muss, was ich auch tun mag. Die Zukunft ist aber notwendig (sagte man weiter), entweder weil die Gottheit alles voraussieht und es sogar selbst festsetzt, indem sie alle Dinge des Universums regiert, oder weil durch die Verkettung der Ursachen alles mit Notwendigkeit geschieht; oder endlich gemäß dem Wesen der Wahrheit selbst, die bei den Aussagen, die man über die zukünftigen Ereignisse machen kann, bestimmt ist, wie sie es bei jeder anderen Aussage ist, weil die Aussage in sich immer entweder falsch oder wahr sein muß, obwohl wir nicht immer erkennen, wie es hierin mit ihr steht. All diese Gründe der Bestimmung, die verschiedene zu sein scheinen, laufen schließlich doch wie Radien zu einem Mittelpunkt zusammen; denn es gibt eine Wahrheit in dem zukünftigen Ereignis, die durch die Ursachen vorherbestimmt ist, und Gott setzt diese Wahrheit im voraus, indem er die Ursachen setzt.

Die falsch verstandene Idee von der Notwendigkeit hat in der praktischen Anwendung das sogenannte Fatum Mahumetanum entstehen lassen, das Schicksal im türkischen Sinne, weil man den Türken nachsagt, daß sie aus ähnlichen Gründen wie den oben aufgeführten die Gefahr nicht meiden und nicht einmal von der Pest verseuchte Gegenden verlassen. Was man dagegen Fatum Stoicum nennt, war nicht so düster, wie es hingestellt wird: es wandte die Menschen nicht von der Sorge für ihre Angelegenheiten ab, vielmehr strebte es danach, ihnen durch die Betrachtung der Notwendigkeit, die unsere Sorge und unsern Kummer unnütz macht, hinsichtlich der eintretenden Ereignisse Ruhe zu verleihen; somit entfernen sich diese Philosophen der Sache nach nicht ganz von der Lehre unseres Herrn, der diese Sorgen um den nächsten Tag verpönt und sie vergleicht mit der unnützen Mühe eines Mannes, der versuchen wollte, seiner Länge etwas zuzusetzen.

Allerdings vermögen die Lehren der Stoiker (und vielleicht auch einiger berühmter Philosophen von heute) in der Beschränkung auf diese angebliche Notwendigkeit nur eine erzwungene Geduld zu verleihen; dagegen flößt uns unser Herr erhabenere Gedanken ein und lehrt uns das Mittel, Zufriedenheit zu gewinnen, indem er uns versichert, daß Gott in seiner vollkommenen Weisheit und Güte sich um alles kümmert und nicht einmal ein Haar von unserem Haupte vergisst; so sollen wir vollkommenes Vertrauen zu ihm haben, das uns zeigen könnte, wenn wir es nur verstehen würden, dass man auf keine Weise etwas Besseres (absolut genommen wie für uns) wünschen könnte als das, was er tut. Es ist, als wollte man zu den Menschen sagen: Tut eure Pflicht und seid zufrieden mit dem, was daraus werden wird, nicht nur, weil ihr der Vorsehung Gottes nicht widerstehen könntet, auch nicht der Natur der Dinge (was genügen kann, um ruhig, nicht aber, um zufrieden zu sein), sondern auch, weil ihr es mit einem guten Herrn zu tun habt. Das könnte man das Fatum Christianum nennen.

Es zeigt sich indessen, dass die meisten Menschen, und selbst die Christen, ohne es recht zu bemerken, ihre praktischen Anschauungen mit etwas Schicksalsglauben auf türkische Art zubereiten. Zwar sind sie nicht untätig oder nachlässig, wenn offene Gefahren oder wirklich große Hoffnungen sich zeigen; denn sie werden es nicht unterlassen, ein einstürzendes Haus zu verlassen und einen Abgrund zu vermeiden, den sie auf ihrem Weg sehen; sie werden die Erde aufgraben, um einen halb zutage liegenden Schatz herauszuholen, und warten nicht, bis das Schicksal ihn bloßlegt. Aber wenn das Gute oder das Übel noch weit entfernt oder zweifelhaft ist und das Hilfsmittel mühevoll oder wenig nach unserem Geschmack, dann erscheint uns die faule Vernunft richtig: wenn es sich z. B. darum handelt, Gesundheit oder selbst das Leben durch richtige Lebensweise zu erhalten, und man den Leuten dazu einen Rat geben will, so antworten sie sehr oft, dass unsere Tage gezählt seien und dass es sich nicht lohne, gegen das, was Gott uns bestimmt hat, ankämpfen zu wollen. Aber dieselben Menschen greifen nach den lächerlichsten Mitteln, wenn das vernachlässigte Übel sich naht. Ähnlich räsoniert man, wenn der Entschluss ein wenig dornenvoll ist, so z. B. wenn man sich fragt, quod vitae sectabor?
[welchen Weg soll ich im Leben einschlagen?], welchen Beruf man wählen soll; wenn es sich um die Schließung einer Ehe handelt, um einen Krieg, den man unternehmen soll, um eine bevorstehende Schlacht; in solchen Fällen nämlich werden manche geneigt sein, die Mühe der Erwägung zu vermeiden und sich dem Geschick oder der Neigung zu ergeben, als ob die Vernunft nur in einfachen Fällen anzuwenden wäre. So wird man recht häufig auf türkische Art räsonieren (obwohl man das unangebrachterweise »sich der Vorsehung anvertrauen« nennt, was aber im richtigen Sinne nur dann der Fall ist, wenn man seiner Pflicht genügt hat), und man bedient sich mit Berufung auf das unentrinnbare Schicksal der faulen Vernunft, um sich vom richtigen Gebrauch der Vernunft zu dispensieren. Dabei bedenkt man nicht, dass, wenn dieses Räsonieren gegen den Gebrauch der Vernunft zu Recht bestünde, es immer statthaben müsste, sei nun der Entschluss leicht oder nicht. Diese Faulheit ist eine der Quellen der abergläubischen Gebräuche der Zauberer, auf die die Menschen ebenso leicht hereinfallen wie auf den Stein der Weisen, weil sie auf abgekürzten Wegen mühelos zum Glück gelangen möchten.

Ich spreche hier nicht von denen, die sich auf ihr Glück verlassen, weil sie bisher glücklich gewesen sind, als ob es hierin etwas Festes gäbe. Ihre Schlussfolgerung von der Vergangenheit auf die Zukunft ist ebensowenig begründet wie die Prinzipien der Astrologie und anderer Arten der Wahrsagung; sie bedenken nicht, daß es im Glück gewöhnlich Flut und Ebbe gibt, ana marea, wie die Italiener beim Pharaospiel zu sagen pflegen; sie machen darüber besondere Beobachtungen, denen zuviel Vertrauen zu schenken ich aber niemandem raten möchte. Doch vermag das Vertrauen auf das Glück den Menschen oft Mut zu geben, besonders den Soldaten, und verschafft ihnen in der Tat das Glück, das sie sich zuschreiben, wie Voraussagungen oft das eintreten lassen, was vorausgesagt war, und wie man auch sagt, dass die Anschauung der Mohammedaner über das Geschick sie entschlossen macht. So haben selbst die Irrtümer manchmal ihren Nutzen, aber gewöhnlich doch nur, um anderen Irrtümern abzuhelfen, und so ist die Wahrheit absolut besser.

Vor allem aber mißbraucht man diese angebliche Notwendigkeit des Schicksals, wenn man sich ihrer bedient, um unsere Laster und Ausschweifungen zu entschuldigen. Ich habe oft junge, aufgeweckte Leute, die sich etwas als Freigeister auf spielen wollten, sagen hören, daß es unnütz sei, die Tugend zu predigen, das Laster zu brandmarken, Hoffnung auf Belohnung und Furcht vor Strafe zu wecken, da man ja doch vom Buche des Geschickes sagen könne, daß, was geschrieben, geschrieben sei, und daß unser Verhalten daran nichts ändern könne; so sei das beste, seiner Neigung zu folgen und sich nur bei dem aufzuhalten, was uns in der Gegenwart befriedigen könne. Sie machten sich dabei keine Gedanken über die eigenartigen Folgerungen dieses Argumentes, das zu viel beweisen würde: z. B. dass man ein angenehm schmeckendes Getränk zu sich nehmen müsste, auch wenn man wüsste, dass es vergiftet ist. Denn mit derselben Begründung (wenn sie etwas taugte) könnte ich sagen: wenn es in dem Buche der Parzen geschrieben steht, daß das Gift mich jetzt töten oder mir Schaden zufügen wird, so wird das geschehen, auch wenn ich dies Getränk nicht zu mir nehme; ist es aber nicht geschrieben, so wird es nicht eintreffen, auch wenn ich dieses selbe Getränk trinke; folglich könnte ich ungestraft meiner Neigung, das Angenehme zu nehmen, folgen, so verderblich es auch sei: was offenbar eine Absurdität bedeutet. Dieser Einwand machte sie etwas stutzig, aber sie kamen immer wieder auf die verschiedenste Weise auf ihr Räsonnement zurück, bis man ihnen begreiflich machte, worin der Fehler ihres Trugschlusses bestand. Es ist nämlich falsch, daß das Ereignis eintreffen wird, was man auch tue; es wird geschehen, weil man das tut, was es herbeiführt; und wenn es geschrieben steht, dass das Ereignis geschehen wird, so steht die Ursache, die es herbeiführen wird, auch geschrieben. So dient die Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen — weit davon entfernt, die Lehre einer das praktische Handeln schädigenden Notwendigkeit zu stützen, — vielmehr dazu, sie zu zerstören.

Aber ohne böse und leichtfertige Absichten zu hegen, kann man die seltsamen Folgen einer Notwendigkeit des Schicksals auf andere Weise ansehen, indem man bedenkt, daß sie die Freiheit der Wahl, die für die Moralität der Handlung so wesentlich ist, zerstören würde; weil Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Lob und Tadel, Strafe und Belohnung bei notwendigen Handlungen nicht statthaben könnten und man niemand würde nötigen können, das Unmögliche zu tun oder das absolut Notwendige nicht zu tun. Man wird diese Überlegung nicht missbrauchen wollen, um ein ungeordnetes Leben zu verteidigen, aber man wird durch sie manchmal in Verlegenheit kommen müssen, wenn es sich darum handelt die Handlungen anderer zu beurteilen, oder vielmehr auf die Einwände zu antworten, von denen einige sich sogar auf die Handlungen Gottes beziehen, wovon ich nachher sprechen werde. Und da eine unüberwindliche Notwendigkeit der Gottlosigkeit Tür und Tor öffnen würde, sei es wegen der Straflosigkeit, die man daraus ableiten könnte, sei es, weil es unnütz wäre, gegen einen alles mit sich reißenden Sturzbach Widerstand leisten zu wollen, so ist es von Bedeutung, die verschiedenen Grade der Notwendigkeit zu vermerken und zu zeigen, dass es solche gibt, die nicht schaden können, dagegen andere, die man nicht zulassen kann, ohne bösen Konsequenzen stattzugeben.

Manche gehen noch weiter: sie begnügen sich nicht damit, sich des Vorwandes der Notwendigkeit zu bedienen, um zu beweisen, dass Tugend und Laster weder Gutes noch Böses bewirken; sie haben die Kühnheit, die Gottheit selbst zum Mitschuldigen ihrer Verkehrtheiten zu machen, und ahmen die alten Heiden nach, die den Göttern die Ursache für ihre Verbrechen zuschrieben, als ob eine Gottheit sie dazu triebe, Übles zu tun. Die Philosophie der Christen, die besser als die der Alten die Abhängigkeit der Dinge von ihrem ersten Urheber und seine Mitwirkung bei allen Handlungen der Geschöpfe erkennt, schien die Schwierigkeit noch zu vergrößern. Einigen geschickten Zeitgenossen ist es gelungen. Den Geschöpfen jede Handlung abzusprechen, und Herr Bayle, der etwas zu dieser außergewöhnlichen Ansicht neigte, hat sich ihrer bedient, um das gestürzte Dogma der zwei Prinzipien oder der zwei Götter, eines guten und eines bösen, wieder aufzurichten, als ob dieses Dogma den Schwierigkeiten beim Ursprung des Bösen besser gewachsen wäre. Übrigens gibt Herr Bayle zu, dass dies eine unhaltbare Ansicht ist, und dass die Einheit des Prinzips unbestreitbar auf Gründen a priori beruht; er möchte aber daraus den Schluss ziehen, dass unsere Vernunft in Verwirrung gerät und den Einwänden nicht begegnen kann, und dass man deshalb nicht davon lassen soll. sich fest an die offenbarten Dogmen zu halten, die uns die Existenz eines einzigen Gottes von vollkommener Güte, vollkommener Macht und vollkommener Weisheit lehren. Doch möchten viele Leser, von der Unlösbarkeit seiner Einwände überzeugt, sie für mindestens so stark wie die Beweise für die Wahrheit der Religion halten und verderbliche Folgerungen daraus ziehen.

Es besteht die Hoffnung, all diese Schwierigkeiten zu beheben. Es wird gezeigt werden, dass die absolute Notwendigkeit, die man auch die logische und metaphysische, manchmal auch die geometrische nennt, und die allein zu fürchten wäre, im freien Handeln nicht vorkommt, und daß so die Freiheit nicht nur des Zwanges, sondern auch der wahren Notwendigkeit ledig ist. Es wird gezeigt werden. daß Gott selbst, obwohl er immer das Beste wählt, doch durchaus nicht nach einer absoluten Notwendigkeit handelt und daß die Gesetze der Natur, die Gott ihr vorgeschrieben hat und die sich auf die Angemessenheit, zwischen den absolut notwendigen geometrischen Wahrheiten und den willkürlichen Ratschlüssen die Mitte halten; was Herr Bayle und andere neuere Philosophen nicht genügend verstanden haben. Dann wird gezeigt werden, daß in der Freiheit eine gewisse Indifferenz liegt, weil weder für die eine noch für die andere Seite irgendeine absolute Notwendigkeit besteht; daß aber dennoch niemals eine Indifferenz im Sinne eines vollkommenen Gleichgewichtes besteht. Es soll auch gezeigt werden, daß im freien Handeln eine vollkommene Spontaneität herrscht, die weit über das hinausgeht, was man sich bisher davon vorgestellt hat. Schließlich wird sich das Urteil ergeben, daß die hypothetische und die moralische Notwendigkeit, die im freien Handeln verbleiben, nichts Störendes enthalten, und daß die faule Vernunft ein ausgesprochener Trugschluss ist.

Was aber den Ursprung des Bösen in bezug auf Gott betrifft, so wird eine Apologie seiner Vollkommenheit folgen, die ebenso seine Heiligkeit, Gerechtigkeit und Güte wie seine Größe, Macht und Unabhängigkeit hervorhebt..

Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 26, Leibniz, Die Hauptwerke (Vorwort zur Theodizee, S.156-168)
Zusammengefasst und übertragen von Gerhard Krüger, Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart


Erbsünde und Erlösung
Aber selbst wenn Gott bei Handlungen nur in allgemeiner Weise, oder, wenigstens bei den schlechten Handlungen, überhaupt nicht mitwirkt, so genügt dies (sagt man), um ihm die Schuld zu geben und ihn zur moralischen Ursache zu machen; denn nichts geschieht ohne seine Erlaubnis. Er weiß — ganz abgesehen von dem Fall der Engel — alles was geschehen wird, wenn er den Menschen nach seiner Erschaffung in diese und jene Lagen bringt; und dennoch unterläßt er es nicht. Der Mensch wird einer Versuchung ausgesetzt, der er, das weiß man genau, unterliegen muß, und von da an datieren jene schrecklichen Übel ohne Ende. Von diesem Sturz wird das ganze Menschengeschlecht in Mitleidenschaft gezogen und in eine Art notwendige Sündhaftigkeit verstrickt, die man als Erbsünde bezeichnet. Die Welt wird so in eine merkwürdige Verwirrung gebracht: Tod und Krankheit sind hierdurch entstanden und mit ihnen tausendfaches Unglück und Elend, das Gute und Böse in gleicher Weise trifft; die Schlechtigkeit regiert, die Tugend wird hienieden unterdrückt, und es gewinnt den Anschein, als gäbe es keine alles lenkende Vorsehung mehr. Noch ärger ist es mit dem zukünftigen Leben: dort wird es nur eine kleine Anzahl Geretteter geben: alle andern sind ewiger Verderbnis verfallen; ganz abgesehen davon, daß die zum Heil bestimmten Menschen durch eine grundlose Auslese der verdorbenen Masse enthoben sind: ob man nun sagt, Gott hätte bei ihrer Auswahl auf ihre zukünftigen guten Handlungen, auf ihren Glauben oder auf ihre Werke gesehen, oder ob man annimmt, gerade weil sie zur Seligkeit bestimmt sind, habe er ihnen diese guten Eigenschaften und diese Handlungen zuerteilen wollen.

Wenn es auch in dem gemäßigten System heißt, Gott habe alle Menschen retten wollen, oder wenn man sich in den anderen, allgemein anerkannten Systemen darüber einig ist, daß Gott seinem Sohne Menschennatur gab, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen, und daß alle errettet werden, die an ihn aus vollem Herzen und ohne Zagen glauben, so bleibt es immer noch wahr, daß dieser Herzensglaube eine Gottesgabe ist, daß wir, allen guten Werken abgestorben, einer vorgreifenden Gnade bedürfen, um unseren Willen aufzustacheln, und daß Gott uns das Wollen und Gelingen gibt. Mag diese Gnade nun durch sich selbst wirksam sein, d. h. durch eine innerliche, göttliche Bewegung unseren Willen völlig zu dem von uns getanen Guten bestimmen, oder mag es nur eine zureichende Gnade geben, die uns dennoch unaufhörlich beeinflußt und vermittels der inneren und äußeren Umstände, worin der Mensch sich befindet und worein ihn Gott versetzt hat, auf uns wirkt: immer wieder muß man sagen, Gott ist der letzte Grund des Heiles, der Gnade, des Glaubens und der Erlösung durch Jesum Christum. Mag Gott die Absicht gehabt haben, durch die Erlösung den Glauben zu gewähren, oder mag dieser Glaube die Erlösung verursacht haben: es bleibt desungeachtet wahr, daß er den Glauben oder das Heil nach seinem Gutdünken gibt, ohne scheinbar einen Grund für seine Wahl zu haben, und daß diese nur auf eine kleine Zahl Menschen fällt.

Es ist ein fürchterliches Urteil, daß Gott, der seinen einzigen Sohn für die ganze Menschheit hergab und alleiniger Schöpfer und Herr des menschlichen Heils ist, dennoch so wenige errettete, alle anderen seinem Feinde, dem Teufel, zur ewigen Qual preisgab, und sie, die doch allzumal zur Verbreitung und Offenbarung seiner Güte, Gerechtigkeit und seiner anderen Vollkommenheiten geschaffen sind, dazu trieb, ihren Schöpfer zu verfluchen: dieser Ausgang ist um so schrecklicher, als diese ganzen Menschen für alle Ewigkeit unglücklich sind, nur weil Gott ihre Voreltern in eine Versuchung führte, der sie, wie er wußte, nicht widerstehen konnten; weil diese Sünde den Menschen anhängt und ihnen angerechnet wird. bevor ihr Wille daran beteiligt ist; weil diese Erbsünde ständig ihren Willen zur Sünde treibt, und weil eine Unzahl Menschen, Kinder wie Erwachsene, die niemals etwas von Jesus Christus, dem Erretter der Menschheit, gehört oder ihn nicht genügend verstanden, dahinsterben, bevor sie die nötige Hilfe zur Flucht aus diesem Sündenstrudel erhalten haben und nun zur ewigen Auflehnung wider Gott verurteilt und mit den schlimmsten aller Kreaturen in das schrecklichste Elend geworfen sind. Im Grunde sind doch diese Menschen nicht schlechter als andere und mehrere von ihnen sind vielleicht weniger schuldig als ein Teil jener kleinen Schar Auserwählter, die durch eine grundlose Gnade errettet sind und sich dadurch einer ewigen, unverdienten Glückseligkeit erfreuen.
S.97ff.
Aus: Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, Übersetzung von Artur Buchenau, Philosophische Bibliothek Band 71, Verlag von Felix Meiner Verlag