Gustave Le Bon (1848 – 1931)
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Französischer Arzt, Soziologe und Begründer
der Massenpsychologie. Sein Verdienst besteht im wesentlichen darin , dass es ihm in geistvoller und anregender
Weise gelungen ist, einem breiteren Publikum die »Struktur der Massenseele« zu beschreiben. Le Bon bekämpfte aufs entschiedenste den »Gleichheitsaberglauben« der Menschennatur. Die Ungleichheit ist naturbedingt, weil die persönliche
Veranlagung entscheidend durch das von den Triebkräften der Natur im
Laufe der Zeit entwickelte Erbgut bestimmt wird: Alle Einwirkungen der Umwelt,
wie sie auch immer geartet sind, könnten diesen »Geburtszufall« nicht wettmachen. Siehe auch Wikipedia |
Die religiösen
Formen, die alle Überzeugungen der Masse annehmen
Wir haben gesehen, dass die Massen nicht überlegen, dass sie
Ideen in Bausch und Bogen annehmen oder verwerfen, weder Auseinandersetzung
noch Widerspruch dulden, und dass die Einflüsse, die auf sie wirken,
den Bereich ihrer Vernunft gänzlich erfüllen und danach streben, sich
sogleich in die Tat umzusetzen. Wir haben gezeigt, dass die entsprechend
beinflussten Massen bereit sind, sich für das Ideal zu opfern, das
man ihnen suggeriert hat. Wir haben schließlich festgestellt, dass sie nur heftige und extreme Gefühle kennen. Die Zuneigung wird bei ihnen
schnell zur Anbetung, und kaum geborene Abneigung wandelt sich in Hass.
Diese allgemeinen Merkmale lassen uns die Art ihrer Überzeugungen ahnen.
Die nähere Untersuchung der Überzeugungen der Masse, sowohl in den
Zeiten des Glaubens, als in den großen politischen Erhebungen, wie etwa
im vorigen Jahrhundert, ergibt, dass diese Überzeugungen stets eine
besondere Form aufweisen, die ich nicht besser zu bezeichnen weiß als
mit dem Namen religiösen Gefühls.
Dies Gefühl besitzt sehr einfache Kennzeichen: Anbetung eines vermeintlichen
höheren Wesens, Furcht vor der Gewalt, die ihm zugeschrieben wird, blinde
Unterwerfung unter seine Befehle, Unfähigkeit, seine Glaubenslehren zu
untersuchen, die Bestrebung, sie zu verbreiten, die Neigung, alle als Feinde
zu betrachten, die sie nicht annehmen. Ob sich ein derartiges Gefühl auf
einen unsichtbaren Gott, auf ein steinernes Idol, auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet — sobald es die angeführten
Merkmale aufweist, ist es immer religiöser Art. Das Übernatürliche und das Wunderbare ist überall darin wiederzuerkennen. Die Massen umkleiden
das politische Bekenntnis oder den siegreichen Anführer, der sie für
den Augenblick zur Schwärmerei hinreisst, mit derselben geheimnisvollen
Macht.
Nicht nur dann ist man religiös, wenn man eine Gottheit anbetet, sondern
auch dann, wenn man alle Kräfte seines Geistes, alle Unterwerfung seines
Willens, alle Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens
weiht, das zum Ziele und Führer der Gedanken und Handlungen wird.
Mit dem religiösen Gefühl sind gewöhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus
verbunden. Sie sind unausbleiblich bei allen, die das Geheimnis des irdischen
und himmlischen Glückes zu besitzen glauben. Die beiden Eigenschaften sind
bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wiederzufinden, wenn irgendein
Glaube sie erhebt. Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religiös
wie die Katholiken der Inquisition, und ihr grausamer Eifer entsprang der gleichen
Quelle.
Die Überzeugungen der Massen nehmen die Eigenschaften der blinden Unterwerfung,
der grausamen Unduldsamkeit und dcs Bedürfnisses nach Verbreitung an, die
mit dem religiösen Gefühl verbunden sind, so dass man also sagen
kann, alle ihre Überzeugungen haben eine religiöse Form. Der Held,
dem die Masse zujubelt, ist in der Tat ein Gott für sie. Napoleon war es
fünfzehn Jahre lang, und keine Gottheit hat eifrigere Anbeter gehabt; auch
sandte keine die Menschen leichter in den Tod.
Die Heiden- und Christengötter übten niemals eine vollkommenere Herrschaft
über die Seelen aus.
Alle Stifter religiöser und politischer Glaubensbekenntnisse haben sie
nur dadurch begründet, dass sie es verstanden, den Massen jene Gefühle
des religiösen Fanatismus einzuflößen, die bewirken, dass
der Mensch sein Glück in der Anbetung findet, und ihn dazu treiben, sein
Leben für sein Idol zu opfern. So war es zu allen Zeiten. In seinem schönen
Buch über das römische Gallien macht Fustel de Coulanges darauf aufmerksam,
dass das römische Kaiserreich sich keineswegs durch seine Kraft, sondern
durch die religiöse Bewunderung erhielt, die es einflößte. »Es
wäre in der Geschichte ohne Beispiel,« sagt er mit Recht, »dass
eine Regierung, die von der Bevölkerung verabscheut wird, fünf Jahrhunderte
gewährt ....... Es wäre unerklärlich, dass dreissig
Legionen des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam zwingen konnten.«
Sie gehorchten aber nur, weil der Kaiser, der die Größe Roms verkörperte,
einmütig als Gott verehrt wurde. Im kleinsten Flecken des Reiches besass
der Kaiser seine Altäre. »In jener Zeit sah man von einem Ende des Reiches
bis zum andern in den Seelen eine neue Religion entstehen, deren Gottheiten
die Kaiser selbst waren. Einige Jahre vor dem christlichen Zeitalter errichtete
ganz Gallien, welches durch sechzig Städte vertreten wurde, dem Augustus gemeinsam einen Tempel bei Lyon... Seine Priester, die von der Gesamtheit der
gallischen Städte gewählt wurden, waren die ersten Persönlichkeiten
des Landes ... Man kann unmöglich dies alles der Furcht und der knechtischen
Unterwerfung zuschreiben. Ganze Völker sind nicht knechtisch und sind es
nicht drei Jahrhunderte lang. Nicht allein die Höflinge verehrten den Fürsten,
sondern Rom; und nicht Rom allein, auch Gallien, Spanien, Griechenland und Asien.«
Heutzutage besitzen die meisten großen Seeleneroberer keine großen
Altäre mehr, wohl aber Statuen oder Bilder, und der Kultus, den man mit
ihnen treibt, ist von dem früheren nicht erheblich verschieden. Man fängt
an, die Philosophie der Geschichte ein wenig zu verstehen, wenn man diesen Angelpunkt
der Psychologie der Massen recht begriffen hat. Für die Massen muss man entweder ein Gott sein oder man ist nichts.
Das sind nicht nur abergläubische Anschauungen einer anderen Zeit, die
die Vernunft endgültig verscheucht hat. In seinem ewigen Kampf mit der
Vernunft wurde das Gefühl nie besiegt. Zwar wollen die Massen die Worte
Gottheit und Religion, von denen sie so lange beherrscht wurden, nicht mehr
hören, aber zu keiner Zeit sah man sie so viele Bibelwerke und Altäre
errichten, wie seit einem Jahrhundert. Die Volksbewegung, die unter dem Namen
Boulangismus bekannt wurde, hat bewiesen, wie leicht die religiösen Instinkte
der Massen der Erneuerung fähig sind. Damals gab es kein Dorfwirtshaus,
in dem nicht das Bild des Helden zu finden war. Man schrieb ihm die Macht zu,
allen Ungerechtigkeiten, allen Übeln abzuhelfen, und Tausende von Menschen
hätten ihr Leben für ihn hingegeben. Welchen Platz hätte er in
der Geschichte eingenommen, wenn sein Charakter mit der Legende Schritt gehalten
hätte!
Auch ist es eine überflüssige Banalität, zu wiederholen, die
Massen bedürften einer Religion. Denn alle politischen, religiösen
und sozialen Glaubenslehren finden bei ihnen nur Aufnahme unter der Bedingung,
dass sie eine religiöse Form angenommen haben, die sie jeder Auseinandersetzung
entzieht. Wenn es möglich wäre, die Massen zu bewegen, den Atheismus anzunehmen, so würde er ganz zum unduldsamen Eifer eines religiösen
Gefühls und in seinen äußeren Formen bald zu einem Kultus werden.
Ein merkwürdiges Beispiel bietet uns die Entwicklung der kleinen positivistischen
Sekte. Sie gleicht jenem Nihilisten, dessen Geschichte der tiefgründige
Dostojewski uns erzählt. Vom Geiste erleuchtet, zerbrach er eines Tages
die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen, die den Altar seiner Kapelle schmückten,
löschte die Kerzen aus und ersetzte, ohne einen Augenblick zu zögern,
die zerstörten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen;
dann zündete er pietätvoll die Kerzen wieder an. Der Gegenstand seines
religiösen Glaubens war ein andrer geworden, aber kann man behaupten, dass
sich seine religiösen Gefühle geändert hatten?
Ich wiederhole noch einmal: gewisse historische Ereignisse, und zwar gerade
die wichtigsten, kann man nur verstehen, wenn man die Form, welche die Überzeugungen
der Massen stets annehmen, in Rechnung stellt. Viele soziale Erscheinungen sollten
lieber von Psychologen als von Naturforschern studiert werden. Unser großer
Historiker Taine hat die Revolution nur als Naturforscher studiert, und so ist
ihm die wirkliche Entwicklung der Ereignisse recht oft verborgen geblieben.
Er hat die Tatsachen vorzüglich beobachtet, aber da er die Massenpsychologie
nicht genügend erforscht hatte, konnte sie der berühmte Schriftsteller
nicht immer aus den Ursachen erklären. Da die Tatsachen ihn durch die religiösen Formen der Massenüberzeugungen ihre Blutigkeit und
Wildheit und ihren Anarchismus erschreckten, so erschienen ihm die Helden in
dem großen Epos nur als eine Horde epileptischer Wilder, die sich zügellos
ihren Trieben hingaben. Die Gewalttaten der Revolution, ihre Metzeleien, ihr
Bedürfnis nach Verbreitung, ihre Kriegserklärung an alle Könige
sind nur zu erklären, wenn man bedenkt, daß sie zur Befestigung eines
neuen religiösen Glaubens dienten. Die Reformation, die Bartholomäusnacht,
die Religionskriege, die Inquisition, die Schreckenstage sind Erscheinungen
derselben Art unter dem Einfluss dieser religiösen Gefühle, die
notwendig dazu führen, mit Feuer und Schwert alles auszurotten, was sich
der Einführung des neuen Glaubens entgegenstellt. Das Verfahren der Inquisition
und der Schreckenstage ist das aller wahrhaft Überzeugten; sie wären
keine Gläubigen, wenn sie anders verführen. Umwälzungen gleich
jenen, die ich erwähnte, sind nur möglich, wenn die Massenseele sie
ins Leben ruft. Die unumschränktesten Gewaltherrscher könnten sie
nicht entfesseln. Die Historiker, die uns die Bartholomäusnacht als das
Werk eines Königs zeigen, kennen die Psychologie der Massen ebensowenig
wie die der Könige. Solche Kundgebungen können nur der Massenseele
entspringen. Die unumschränkteste Macht des eigenmächtigsten Herrschers
reicht kaum weiter als zu einer geringen Beschleunigung oder Verzögerung
des Zeitpunktes. Nicht die Könige haben die Bartholomäusnacht, die
Religionskriege verursacht, und nicht Robespierre, Danton oder Saint-Just waren
die Urheber der Schreckenstage. Hinter solchen Ereignissen findet man immer
wieder die Seele der Massen.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 99, Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, S.55-60)
Mit einer Einführung von Professor Dr. Walther Moede
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis
des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart