Johann Kaspar Lavater (1741 - 1801)

  Schweizerischer philosophisch-theologischer Dichter und Schriftsteller. Nach dreijährigem Theologiestudium in Zürich wurde er 1762 in den geistlichen Stand aufgenommen. 1769 wurde er zum Diakonus an der Züricher Waisenhauskirche berufen, 1778 wurde er Diakonus und 1787 Pfarrer an der St. Peterskirche in Zürich. In der Zeit des »Sturm und Drang« war er eng mit Herder und Goethe befreundet (die Freundschaft mit Goethe zerfiel nach 1785 immer mehr). In J. G. Hamann fand Lavater einen geistesverwandten Briefpartner. — Sein Hauptwerk »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe«, an dem auch Goethe mitgearbeitet hat, gab der Physiognomik bedeutende Anregungen. Die darin dargestellte Lehre von der körperlichen Ausprägung der Seele in Merkmalen des Gesichts und des Schädels ist von dem Genfer Naturforscher und Apologeten Ch. Bonnet beeinflusst. Er befasste sich auch mit dem Mesmerismus. Seine von J. W. L. Gleim und Fr. G. Klopstock beeinflusste Dichtungen behandeln meist religiöse Gegenstände.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Religion
Aussichten in die Ewigkeit
Von der zukünftigen Vollkommenheit der Christen
Physiognom. Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis u. Menschenliebe
Die Würde der menschlichen Natur
  Christus
Maxime 

Religion
Was einmal wahr ist, bleibt immer wahr. Was im Vaterlande Tugend ist, das ist es auch außer demselben. Es ist nur etwas, das in und außer dem Vaterlande ruhig und glücklich macht, etwas, das wir mit uns nehmen können, wir mögen in die Nähe oder in die Ferne gehen, zu Wasser oder zu Lande reisen: das ist die Religion, Glauben an Gott, Gottesergebenheit, Tugend um Gottes willen. Dies allein beruhigt und sonst nichts. Dies allein beruhigt und sonst nichts. Nichts, als der Glaube an Gott in Christo Jesu; nichts, als die lebendige, gegründete, tiefe Überzeugung: es ist ein Gott, so gewiss ich bin; er ist Weisheit, Allmacht, Güte, so gewiss ich Mensch, ein verständiges, moralisches Geschöpf bin. Gott lebt, so gewiß ich lebe, und so gewiss Jesus von den Toten auferstanden ist, werde ich nach dem Tode meines Leibes wieder aufleben. So wenig ich gegen Wahrheit und lüge, Recht und Unrecht, Sanftmut oder Gewalttätigkeit gleichgültig sein kann, so wenig kann’s der, der mich gebildet hat.

Dieser Glaube, diese Überzeugung, o mein Lieber, möchten sie in deinem Herzen immer gegenwärtig und lebendig bleiben! Möchtet du das nie vergessen, was immer vollkommen wahr bleibt, wenn’s auch vollkommen vergessen würde! Möchte kein Geräusch der Welt, keine Leidenschaften dir die Wahrheiten widerlich und ekelhaft machen, die allein das Herz befriedigen und den Menschen in die edelste und seltenste Ruhe und Tätigkeit versetzen können.

Vergiss des Gottes nie, der deiner nie vergessen kann! Er ist dir immer nahe, wenn du auch leichtsinnig und unglücklich genug wärest, dir jeden Gedanken an ihn fernzuhalten. Er ist, ob man an ihn gedenke oder seiner vergesse. Er kennt uns, wenn wir auch noch so unbekannt mit ihm wären. Er ist, so lange eine Sonne am Himmel und so gewiss ein Odem in uns ist. Kein gesunder Mensch kann dran zweifeln, der die Welt und sich selber ansieht. Ein Mensch, der sagen kann: Ich bin, und sagen muss: ich weiß nicht, wie ich bin, muss empfinden: es ist Gott, durch den ich bin.

Empfinden? Ja, wenn das Auge gesund ist, gerade vor sich hinschaut, die Dinge so sieht, wie sie sind, wenigstens, wie sie sich sehen lassen, ja, wenn Werke, die da sind, mehr Eindruck auf uns machen, als Worte, die tönen und vertönen, Werke, deren Ursprung unerforschlich, deren Natur unermesslich wunderbar, deren Endzweck offenbar nützlich und erfreuend und wohltätig ist. Diese Werke oder die Natur mit offenem, gesundem Auge ansehen und den Zusammenhang, die Ordnung und Veränderung dieser Werke, ihre Beziehung und Wirkung aufeinander oder die Regierung aller Dinge betrachten – wer kann es? Sich selber ansehen, wer kann es, ohne dass der Gedanke lebendig, ohne dass er in ihm Empfindung werde: es ist ein Gott, so gewißsseine Welt ist? Freund, man kann über alles lachen und man lacht über alles. Aber keine Wahrheit lässt sich weglachen. So gewiss eine wunder- und ordnungsvolle Welt ist, die sich nicht wegwitzeln lässt, so gewiss ist Gott, der die Welt gemacht hat, Gott, der ist, obgleich Würmer auf Erden, die von Narren »Weise« genannt werden, Staub aufstäuben, beim Gewitter verzagen und, wenn es vorüber ist, tollkühn lästern: Du bist nicht!

Nicht das geringste der göttlichen Werke lässt sich wegspotten, wie viel weniger der, der Millionen Unerforschlichkeiten in ein unermessliches Ganzes zusammenfügte. Wieviel kindlich froher wandelt der Gottmensch durch die Welt, als der Tor, der in seinem Herzen spricht. Es ist kein Gott. Ein solcher Tor spricht zwar auch: ich bin ruhig, aber er lügt. Er stampft heimlich, wenn er öffentlich gelacht hat. Er nimmt die Mienen der Seelenruhe an, aber er wendet sich weg und knirscht mit den Zähnen. Nein, Freund, nicht angenommenes Nachgeschwätz ist es, sondern Wahrheit, die du alle Augenblicke erfahren kannst: nur Religion erfüllt das Herz mit Ruhe und Zufriedenheit. Nur der Glaube an den allbelebenden, allregierenden Gott, nur Freude in ihm ist tiefe, feste, wahre, nie gereuende Freude. O mein Lieber, beobachte dein Herz in allen Lagen, in allen Bewegungen und mache den Versuch, ob dir einmal in deinem Leben so wohl zumute sei, als wenn du den unsichtbaren, allgütigen Gott mit anbetendem Glauben umfassest? Je näher du mit deinen Gedanken und Wünschen dieser Quelle aller Kraft, alles Lebens, aller Freude bist, gewiss um so viel ruhiger und seliger bist du. Je mehr du dich zu Gott nahest, desto mehr wird er sich dir nahen. Du wirst ihn finden allemal nach der Weise, wie du ihn suchen wirst. Unvergesslich sei dir die alle Religion zusammenfassende Wahrheit: Wer mit der Gottheit Gemeinschaft haben will, zu Gott kommen will, der muss glauben, dass er sei, und daß er denen, die ihn suchen, ein Belohner ist. Er kann allerorten gesucht und allerorten gefunden werden. O wie er sich dem naht und offenbart, der ihn sucht! O mein Freund, wer ihn frühe sucht, wird ihn frühe finden; jeder Tag des Aufschubs ist unwiederbringlicher Verlust, jeder Tag des Genusses ist ewig dauernde, nie gereuende Freude.
Aus: J. K. Lavater: Die Jugendzeit dem Herrn geweiht! Freundesstimmen für Jünglinge und Jungfrauen. Herausgegeben von J. Biegler Enßlin & Laiblin Verlagsbuchhandlung, Reutlingen

Aussichten in die Ewigkeit
Mir scheinen wenige Sekunden
Wie tausend neugefühlte Stunden
Der schnell entflohnen Prüfungszeit!
Was einer Welt kaum denkbar wäre,
Es drängen sich Gedankenmeere
In jeden Punkt der Ewigkeit.
Ich seh‘ auf alle Augenblicke,
(So reich floß jeder vor mir hin)
Wie auf Jahrhunderte zurücke!
Heil! Halleluja! da
ss ich bin!

O Zukunft, die ich vor mir sehe!
O Lust, der ich entgegen gehe!
O tiefer Freudenozean!
Fließt Welten weg, gleich Augenblicken,
Unendlich stets bleibt mein Entzücken,
Weil ich nicht mehr vergehen kann!
Ich seh die Reiche mancher Erden
Entstehn und blühn und nicht mehr sein,
Und andre, was sie waren, werden,
Und was sie worden, nicht mehr sein.

Einst seh‘ unter meinen Füßen
Dich ruhig, meine Welt, zerfließen.
Ich bin noch, wenn du nicht mehr bist.
Die, die nach ihr sich wird erheben,
Dich werd ich sehn und überleben,
Wenn auch dein Alter maßlos ist.
Zehntausend, die dir folgen sollen,
Werd‘ ich mit meinen Augen sehn
Centillionen Jahre rollen
Und endlich müde stille stehn.

O Wonne, daß ich bin, zu denken,
Ganz in mein Sein mich zu versenken,
Das ewig kein Gedanke mißt.
Gott, Gott, wie alle Kräfte ringen,
Ein Jubellied dir zuzusingen,
Das meiner Dauer würdig ist.
Doch matt und kalt sind alle Lieder,
Die ein Unsterblicher ergeußt!
Ich bin, bin ewig! Falle nieder,
Fühl und verstumme tief, mein Geist!
S.183
Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp In der Reihe: Klassiker des Protestantismus.
Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen

Von der zukünftigen Vollkommenheit der Christen
Mein Herz schwillt von unaussprechlichen Empfindungen auf, meine ganze Natur fühlt sich mit einer gesättigten Heiterkeit und betet die Religion an, die der Sohn des Unendlichen vom Himmel gebracht hat, wenn sie die allgenugsame Bestimmung des Menschen denkt, die eben diese Religion ihr als Ziel und Kleinod aller ihrer Bestrebungen vorhält. Wie tief bleibt hier die erhabenste Vernunft mit allen ihren kühnsten Forschungen hinter dem zurück, was uns die göttlichen Schriften so einfältig und so bestimmt sagen, und wie sehr nötigt doch eben diese Religion der reinsten und umfassendsten Vernunft ihren ganzen Beifall ab, so bald sie ihr dasselbe vorgelegt hat!

Mit der Freude kann keine auf Erden verglichen werden, die das Herz des Christen durchströmt, wenn er Wahrheit, Erleuchtung, Tugend, Erquickung und Segen um sich verbreiten kann, wenn er hie und da bessere Gesinnungen und mehr Zufriedenheit durch seine Veranstaltungen aufhlühen sieht. Und er kennt eigentlich keinen anderen Schmerz als den, der dar aus entsteht, daß er nicht mehr Gutes tun kann, daß er von so vielen tausend Hindernissen seines Wohlwollens umringt ist und in seiner eigenen irdischen Natur so viele Schwachheiten finden muß, die ihn ermüden und zerstreuen.

Ist etwas in den göttlichen Schriften klar, deutlich, bestimmt und häufig gesagt, so ist es die Lehre von der allmächtigen Kraft des Glaubens und des Gebetes, und insonderheit des Glaubens an Jesum und des Gebetes in seinem Namen. Nun stellen Sie sich, mein Freund, einen Menschen vor, voll der edelsten, uneigennützigsten, menschenliebendsten Gesinnung — einen Menschen, der Christum gleichsam auf Erden verträte, im Glauben an ihn die Werke und noch größere Werke tun könnte, als er getan hat, der im biblischen, nicht im sinnlos mystischen Sinne Eines mit Christo wäre, in welchem Christus lebte, der sich bei allen seinen Handlungen und Gesinnungen steif hielte, ob er den sähe, der unsichtbar ist, nichts suchte und wünschte, als daß Christus, zur Glückseligkeit aller, verherrlicht, geliebt, geglaubt und befolgt würde, und dann sich ebenfalls die Macht Christi zu eigen machte und zu allen guten, moralischen Zwecken als seine eigene Macht brauchen könnte — können Sie sich einen glückseligeren Menschen auf Erden denken? Und darin mein Freund, setze ich das Wesen der künftigen Glückseligkeit der vollendeten Gerechten.

Genau nach dem Maß und der Erhabenheit unserer moralischen Kräfte wird sich das Maß unserer intellektuellen, physischen und politischen Kräfte bestimmen. Wie unaussprechlich luminös wird mir bei dieser Voraussetzung der Grund der zwei großen Gebote, des Glaubens und der Liebe! Welch eine natürliche und gleichwohl so unaussprechlich erhabene Frucht aus diesem kleinen Samen, so natürlich, wie der himmlische Leib aus dem irdischen entspringt, aber ebenso unendlich über die Eingeschränktheit dieses Lebens erhaben, wie dieser über unsere jetzige Staubheit!

Aber vielleicht ist diese Erwartung viel zu träumerisch, vielleicht darf das höchstens für eine dem menschlichen Stolz schmeichelnde, bloß poetische Erfindung angesehen werden? Ich denke anders, mein Freund! Mir kommt es nach den einmütigen Lehren der Schrift unwidersprechlich vor, daß uns diese würdige Seligkeit im Himmel aufbehalten sei. Es wäre allerdings der Gedanke viel zu kühn und der menschlichen Natur zu überlegen, daß wir Christo an Herrlichkeit ähnlich werden sollen, wenn ihn Christus selbst nicht im Namen Gottes laut gepredigt hätte.

Allenthalben wird der Körper Christi herrlich genannt: ihm wird ein Glanz zugeschrieben, der den Glanz der Sonne verdunkelt, den kein menschliches Auge auszuhalten vermag. Ich bin sehr weit davon entfernt, diese Beschreibungen für bloß poetisch zu halten, ich soll Christo ähnlich werden. Ist sein Körper ein Lichtkörper, glänzt er in buchstäblichem Sinn, so mag ich auf einen ähnlichen Glanz nicht Verzicht tun. Die Verklärung Christi auf Tabor ist mir Bürge dafür, daß die Beschreibungen der Schrift von dem Glanze oder der Lichtheit des Körpers Christi nicht bloß poetisch sind. Das Licht, welches Jesum umgab, da er dem Paulus erschien, war ein eigentliches Licht, ein wirklicher Glanz, wovon er erblindete.

Wenn wir die drei Stücke zusammennehmen, daß der verklärte Leib Christi schon auf Erden gleichsam lauter Licht gewesen; daß die Engel, denen wir überhaupt ähnlich werden sollen, in der Gestalt des Blitzes erschienen und nur einem Körper bekleidet sind, dessen Natur der Natur des Lichtes so ähnlich zu sein scheint, daß endlich der Leib Christi und unser künftiger Leib ausdrücklich ein pneumatischer <geistlicher>, epuranischer <himmlischer> Leib genannt
wird, so werden wir nicht mehr sehr weit von der Wahrheit abweichen, wenn wir die Natur des Lichtes zum Leitfaden bei unserer Untersuchung von der Vollkommenheit unseres künftigen Leibes nehmen.

Ich rede aber nicht nur von den Gesichtszügen, wenn ich von der Gestalt unseres künftigen Körpers rede. Ich vermute eine Ähnlichkeit mit der ganzen gegenwärtigen Gestalt. Die ganze menschliche Gestalt ist einer solchen unendlichen Verschönerung fähig, ohne eine wesentliche Veränderung zu erleiden, daß ich mir beinahe nichts Schöneres denken kann, als einen Engel von Guido [Reni] oder einen antiken Apoll, obwohl gewiß auch diese noch schlechte Kopien der schönsten menschlichen Schönheit sein müssen.

Nun werden Sie es merken, mein Freund, warum mir meine Vermutung von der Gestaltsamkeit unseres künftigen himmlischen Körpers ins unendlich Große und ins unendlich Kleine so sehr gefällt. Denn, wenn sie gegründet ist, so können wir nicht nur mit allen unendlich großen und unendlich kleinen vernünftigen Geschöpfen einen vertraulichen Umgang haben, sondern auch alle Werke Gottes, so groß oder klein sie ach immer sein mögen, von innen und außen erforschen und beschauen; wir haben das Bürgerrecht in allen Welten, weil wir das Bürgerrecht im Himmel der Himmel haben. In der Sonne sind wir die schönsten Bürger der Sonne und in den Planeten die vollkommensten und schönsten Bürger der Planeten. Jetzt breiten wir uns aus, daß ganze Sonnensysteme kaum bemerkte Stäubchen in unserer Augen sind; jetzt ziehen wir uns zusammen, daß die Elemente der Körper Welten für uns werden. Bald durchwandeln wir Welten an Welten wie ein Lichtstrahl Sonnenstäubchen durcheilt, und bald besuchen wir die Einwohner eines Samenkorns und ruhen unter dem Schatten seiner Bäume. Für uns ist die ganze Schöpfung offen, und die geheimnisreiche Natur hat keine Geheimnisse mehr für uns. Welch ein unerschöpflicher Gedanke! O mein Freund, mein Freund, was stehet uns bevor? Was wird aus uns werden? Sei voraus für die Herrlichkeit angebetet, o ewiger Vater und menschenliebender Mittler, die du uns bestimmt hast.

Zu den wesentlichen Eigenschaften unseres künftigen himmlischen Körpers rechne ich ferner die Beweglichkeit und Schnelligkeit. Wie unendlich weit wird er das schnellste Sonnenlicht hinter sich zurücklassen. Mehr als hunderttausend Millionen Jahre hätte eine Kanonenkugel, die jede Sekunde 600 Schritt zurücklegen würde, bis zum nächsten Fixstern fortzueilen. Aber in einem Augenblick durcheilt der Engel und der engelgleiche Christ im zukünftigen Leben eine Weite, wogegen die Entfernung des Sirius von dem Mittelpunkt der Erde ein Punkt ist. Ich halte mich immer an den deutlichsten Aussprüchen der göttlichen Offenbarung fest: Unser Leib wird dem Leibe Christi gleichförmig sein (Phil. 3,21). Welche Vollkommenheit! Welche Aussicht!

Ich werde Millionen Meilen
In Einem Augenblick durcheilen,
Wenn ich aus Licht gebildet bin!
Ich überschreite die Planeten,
Geh von Kometen zu Kometen,
Von Sonne schnell zu Sonne hin!
Mir fliehn zehnmal zehntausend Sterne
Zurück, gewehten Funken gleich.
Seid, Freunde, mir unendlich ferne;
Ich will — und bin bei Euch!

Was ist der Mensch — ein Wesen, das dem vollkommensten Wesen in dem unermeßlichen Reiche der Gottheit, dem Gottmenschen, ähnlich werden soll; und ein solches Wesen zu zeugen oder nicht zu zeugen, steht in der Gewalt und in der Freiheit eines Erdenwurms, und seine Hervorbringung ist das Werk eines Augenblicks! Er, dieser Erdenwurm, kann sagen: »Ich will!«, und ein Mensch entsteht, dessen Dasein alle Ewigkeiten durchschneidet.

Ich leite selber tausend Welten,
Mit Einem Wink, wohin ich will;
Und plötzlich stehen auf mein Schelten
Die rollenden Systeme still!
Leicht ist es, sie im Kreis zu führen,
Mir, der ich Geister selbst regieren
Und ihre Körper bilden kann.
Ich zünde hunderttausend Sonnen,
Die auf mein Wort zusammenronnen,
So leicht wie eine Kerze an.
Ich baue Welten und zernichte
Den Bau nach vieler Zeiten Lauf;
Sie brennen aus, und ich, ich richte
Sie neu aus ihrer Asche auf.
Und wenn einst wieder sie veralten,
Schmelz ich in herzlichre Gestalten
Mit meines Mundes Hauch sie um!
Stets wird sich meine Kraft vermehren;
Ich dränge immer neue Sphären
In mein unendlich Fürstentum,
Die ich verwandle und versetze,
Bis mir mein ganzer Plan gelingt,
So leicht ich einen Vers versetze,
Bis er dem Ohr harmonisch klingt.


Denken Sie ja nicht, mein Freund, daß ich auf diese Weise den Menschen Gott gleich mache; nicht nur bleibt er ewig von der Gottheit ganz abhängig; nicht nur ist alle Kraft, die er besitzt, ihr freies Geschenk; nicht nur wird eben dadurch die Ehre der Gottheit um so viel mehr verherrlicht, je mächtiger die Wesen sind, die sie hervorbringt; sondern über dies alles müssen Sie das wohlbemerken, daß alle diese Kräfte immer unendlich geringer sind als die Kraft, den Keim eines einzigen Wurmes oder das kleinste Kügelchen Materie aus Nichts hervorzubringen, und daß hiermit auch die scheinbare Allmacht des verklärten Christen von der dem Schöpfer eigentümlichen Allmacht immer unendlich entfernt bleiben wird.

Es gab Menschen, die Berge aus ihrer Stelle versetzen, Tote wieder lebendig machen, Flüsse zerteilen, dem Donner gebieten, die Sonne selber mit einem Worte stillstellen, den Himmel zu- und wieder aufschließen konnten, sterbliche Menschen, Menschen von derselben Natur, wie wir sind. Daß es solche Menschen gegeben hat, das wissen Sie, das glauben Sie, mein Freund, so gewiß ich es weiß und glaube. Sie waren Depositärs, Haushalter der göttlichen Macht. »Der Herr gehorchte der Stimme eines einzigen Mannes«, heißt es in der Geschichte von der Stillstehung der Sonne (Josua 10,14). Die Allmacht stand ihnen gewissermaßen zu Gebot. Sie hatte ihnen Charte Blanche auf sich selbst gegeben: »Alles, was ihr im Gebete begehren werdet, glaubet nur, und ihr werdet es erlangen« (Matth. 21,22). Es ist also nicht unmöglich, daß der verklärte Mensch mit und in Gott allmächtig sein kann, wodurch abermal der Gottheit so wenig zu nahe getreten wird, als ihr durch die Wunder hei der Stiftung des Christentums, welche alle durch Menschen geschahen, zu nahe getreten ward.

Unaussprechlich glänzende Aussicht, die alle Nerven des Leibes und der Seele mit süßer Entzückung erschüttert! Ich, ich werde einst tun können, was ich tun will. Die Hand, die diese Feder führt, wird, so oft ich es nötig finde, sich über Welten ausbreiten und Sonnen ihre Bahnen weisen. Meines Gottes und Erlösers voll werde ich alle Gedanken meiner Seele denen er seinen Beifall zuwinken wird, wirklich machen, zu gleicher Zeit, in tausend Welten, die verschiedensten Wirkungen mittelbar und unmittelbar hervorbringen können! Pläne, die ganze Weltsysteme umfassen, Jahrtausenden ihr Schicksal bestimmen, können uns nicht mehr erschrecken, nachdem wir uns einmal einer unendlichen Kraft bewußt sind, die uns entweder eingepflanzt ist oder zu Gebot steht. Kurz, alles ist uns möglich; denn wir sind auch in diesem Sinn Mitgenossen und Teilhaber der göttlichen Natur. Ich umarme Sie!
Den 10. Hornung 1769 Lavater
S.184ff.
Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp In der Reihe: Klassiker des Protestantismus.
Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen

Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe
Herr, unser Herrscher! Wie herrlich ist allweit dein Name!
Du, dessen Loblied dort droben schallet über den Himmeln;
Und der sich hier den Mund des Säuglings zur Feste bereitet!
Herr! wenn ich deine Himmel ansehe, deiner Finger Werk,
Den Mond, die Sterne, die du gemacht hast!
Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest,
Des Menschen Sohn, daß du dich also sein annimmst?
Kaum hast du ihn etwas unter die Engel erniedert;
Aber mit Ehre und Schmuck krönest du ihn!
Du hast ihn zum Herrn gesetzt über deiner Hände Werk,
Alles hast du unter seine Füße getan,
Schaf‘ und Ochsen und wilde Tiere,
Vögel in der Luft! Fische im Meer, und was im Meer gehet.
Herr! unser Herrscher! Wie herrlich ist allweit dein Name!
S.190f.
Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp In der Reihe: Klassiker des Protestantismus.
Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen

Die Würde der menschlichen Natur
Und Gott sprach:

Lasset uns Menschen machen, unser Bild,
Gestalt der Ähnlichkeit, die uns gleiche.

Wie hier die Schöpfung stille steht und wartet! Wasser und Luft und Erde und Staub, alles erfüllt, belebt, wimmelnd und wogend! Aber wo ist sinnlicher Zweck des Allen? Einheit? Jedes für sich eine Insel! Jedes ein genießendes Geschöpf auf einem Punkte! Wo etwas, das gewissermaßen alle genieße? Blick, der sie alle sammle? Herz, das sie alle fühle? Die ganze Schöpfung scheint zu trauern, zwecklos zu genießen und nicht genossen zu werden! Wüste! Oder Gewimmel! Der Puls der Schöpfung harret!

Ist‘s möglich ein solches Geschöpf, die Krone, die höchste sinnliche Einheit alles Sichtbaren! Wär‘s, es wäre gleichsam ein Nachbild, ein Repräsentant der Gottheit in sichtbarer Gestalt, ein Untergott, ein Statthalter, ein Herrscher, die Gottheit in seinem Bilde! Welch Geschöpf!

Die Gottheit beratschlagt — noch schlafen die Kräfte dieser neuen Schöpfung! Diese Gestalt im Bilde wäre sodann innig, unendlich schöner und lebender als Fluren, Hain und Gebirg und Elysium! Innig, schöner und lebender als Fisch und Vögel, Gewürm und Tier aller Gattungen und Arten! In ihn gleichsam der Gedanke, die Schöpfers- und Herrschungsgabe des Unsichtbaren gesenkt! Wie würde sein Blick, wie Tat, Leben, Gestalt! Was wäre die ganze Natur gegen diese menschliche Seele! Was wäre ratschlagend wie Er! Schaffend, herrschend, das sichtbare Ebenbild der Gottheit!

Der Ratschlag ist vollendet:
Gott schuf den Menschen, Sein Bild;
Zum Gleichnis Gottes schuf er ihn,
Er schuf sie, Einen Mann! und Ein Weib!


Konnte in aller Welt mehr das Menschengeschöpf geehrt und gleichsam vergöttert werden als durch diese Pause, durch diesen Ratschlag Gottes, durch Prägung zum Bilde Seiner?

Gott schuf den Menschen, Sein Bild!
Er schuf ihn zum Gleichnis Gottes.

Einfältig, edel und aufschließend für die Natur des Menschen!

Siehe da, seinen Körper, die aufgerichtete, schöne erhabene Gestalt! Nur Hülle und Bild der Seele! Schleier und Werkzeug der abgebildeten Gottheit! Wie spricht sie von diesem menschlichen Antlitz in tausend Sprachen herunter! Offenbart sich mit tau¬send Winken, Regungen und Trieben nicht darin, wie in einem Zauberspiegel, die gegenwärtige, aber verborgene Gottheit? So ein unnennbar Himmlisches im menschlichen Auge, das Zusammengesetzte aller Züge und Mienen! So zeichnet sich die unanschauliche Sonne im kleinen trüben Wassertropfen! Die Gottheit in eine grobe Erdgestalt verschattet! Gottheit, wie kräftig und freundlich hast du dich im Menschen offenbart!

Betrachte dies göttliche seelenvolle Menschenantlitz! Mannigfaltigkeit und Einheit! Einheit und Mannigfaltigkeit! Der Gedanke dieser Stirn, Blick des Auges, Hauch des Mundes, Miene der Wange! Wie alles spricht und zusammenfließt! Einklang! alle Farben in Einem Strahl der Sonne! Gemälde des sanftesten, unermeßlichsten Inhaltes
! S.191f.
Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp In der Reihe: Klassiker des Protestantismus.
Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich Carl Schünemann Verlag Bremen