Heinrich Lang (1826 - 1876)

Deutscher Theologe und Pfarrer, der ab 1844 in Tübingen Theologie bei Ferdinand Christian Baur studierte. 1848 forderte er öffentlich die Einführung der Republik für Deutschland. Einer polizeilichen Verhaftung konnte er sich nur durch die Flucht in die Schweiz entziehen, wo er seine neue Heimat fand und zum Pfarrer examiniert wurde. Lang war ein führender Vertreter des theologischen Liberalismus.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon



 

Inhaltsverzeichnis
Wenn Luther heute noch lebte!
Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt
Gott ist der Geist
Gott und die Weltgesetze (geplant)


Wenn Luther heute noch lebte!

Aus: »M. Luther, ein religöses Charakterbild« 1873.
Wenn Luther heute noch lebte! Aber ich weiß: das ist ein unmöglicher Gedanke. Einen Zwingli könnte man sich ohne viel Mühe als heute lebend denken; nach einem raschen Überblick würde er sich leicht in der Zeit zurechtfinden. Luther nicht; zu tief stehen seine Wurzeln im Boden des Mittelalters (V). Gerade die Zusammenfassung und die gleich starke Betonung zweier verschiedener Weltanschauungen in einer Brust und in einem Kopfe — der Mönch und der Reformator — werden wir als den eigentlichen Grundzug Luthers finden (14). Nicht ein neues Dogma, das überdem ein altes war, die Rechtfertigung aus dem Glauben an das Verdienst eines anderen, sondern der Weg, auf welchem man zu demselben gelangt war, das Ringen des endlichen Geistes mit seinem Gott, bis er ihn ergriffen und verstanden hat — das ist der Anfang des Protestantismus (51).

Bis zur Wartburg hatte Luther seine gewaltigen Schläge gegen den Rückschritt und die Anmaßungen einer freiheitsmörderischen Macht geführt; von jetzt an ist es der Fortschritt und die Freiheit, wogegen er glaubte im Interesse des echten Fortschrittes und der wahren Freiheit Front machen zu müssen (107). Aus einem Helden der ganzen Nation wurde ein Parteihaupt, aus dem Reformator der ganzen Kirche der Stifter einer engen Separatkirche (108). Luthers Geist ist mittelalterlich katholisch, Zwinglis Geist ist modern protestantisch (236). Man kann die Lehre Luthers nicht flicken; man muß sie stürzen; man muß die kirchliche Mythologie, welche die Voraussetzung für das Denken des Erasmus wie Luthers bildete, gänzlich abtun: die Mythologie eines außerweltlichen Gottes, der dem Endlichen als ein allwissendes und allmächtiges Wesen dualistisch gegenübersteht, die Mythologie eines Sündenfalles, durch welchen die ursprünglichen Kräfte der Menschennatur gebrochen sein sollten, die Mythologie eines Gottes, der vom Himmel auf die Erde niedersteigt und Mensch wird, die Mythologie endlich eines Himmels, der anderswo als im menschlichen Gemüt liegt, daher die Ungewißheit über seinen Besitz stets mit sich führt, einer künftigen Seligkeit, die ihre Bürgschaft in etwas anderem sieht als in dem Gefühl des Gegenwärtigen.

Die gesunde Wissenschaft wird beides zu verbinden suchen: die Freiheit, welche Erasmus suchte, und die Religion, deren Interesse Luther vertrat, das Handeln des Menschen aus seinem eigenen Wesen heraus und seine Abhängigkeit von einem Unendlichen (212). Die Autorität der Bibel und die Rechtfertigung aus dem Glauben sind jetzt vollständig zerfallen. Auf den Wegen der freien und ungehinderten Forschung, welche die Reformation jedem Christen zurückgegeben hat, ist die Bibel ein menschliches Buch geworden, wie jedes andere menschliche Buch, aus welchem jeder nimmt, was ihm nach dem Maße seines Gewissens und seiner Vernunft gut und wahr erscheint, um das übrige als unbrauchbare Schale wegzuwerfen. Und unter Rechtfertigung aus dem Glauben, wo man diesen umständlichen Ausdruck noch gebraucht, versteht fast jedermann ungefähr das Gegenteil von dem, was Luther darunter verstand. Man will damit sagen, daß das Heil jedem erwachse aus der frommen Selbsttätigkeit, mit welcher er sich an Gott und die Wahrheit hingebe. Mit einem Worte: von diesen Grundsätzen ist gerade das übriggeblieben, was Luthers weltgeschichtliche Mission ausmachte und wofür jene nur vorübergehende Hilfsmittel waren: der Bruch mit der Priesterherrschaft oder die Freiheit des religiösen Forschens und Lehrens (307)
.
Enthalten in: Textbuch zur deutschen systematischen Theologie und ihrer Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, Band I 1530 – 1934 von Richard H. Grützmacher 4.Auflage, 1955 C. Bertelsmann Verlag Gütersloh (S.245f.)

Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt
Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt (Prediger Salomo 3, 11)

Wie der erste Mensch auf dieser Erde entstanden sei, das bildet eine der Lieblingsfragen der heutigen Wissenschaft. Nach der biblischen Darstellung, welche den Glauben unserer Völker seit zwei Jahrtausenden bestimmt hat, ist der Mensch im Anfang der Dinge unmittelbar aus Gottes Hand selbst hervorgegangen, geformt von Gott aus einem Erdenkloß und angehaucht von seinem Geiste. Gewiss ist diese Darstellung ein schönes Sinnbild für die Doppelnatur des Menschen, der den göttlichen Funken in einer Schale von Ton birgt, der den kostbaren Schatz in gebrechlichen Gefäßen trägt.

Aber die heutige Wissenschaft war nicht im Stande, bei dieser Darstellung sich zu beruhigen; sie schätzt zwar das Tiefsinnige und Schöne in diesem kindlichen Bilde, aber, dem Wunder abgeneigt, kann sie kein unmittelbares Handeln Gottes annehmen, und gestützt auf die Geschichte unserer Erde, die sie aus den Steinen herausgelesen, setzt sie die Entstehung des Menschen um Jahrtausende, vielleicht um Jahrmillionen später, als die Entstehung der Erde, und ist geneigt, den Ursprung des Menschen unmittelbar vom Tierreich herzuleiten und zwar mit Vorliebe gerade von demjenigen Tiergeschlecht, von dem abzustammen den Stolz des Menschen am meisten beleidigt.

Ich kann nicht sehen, dass die Frömmigkeit irgendein Interesse daran habe, wie diese Frage beantwortet werde; denn so wie so bleibt sich die göttliche Schöpferkraft völlig gleich, ob sie ein Stück Erde oder den Organismus eines Tieres zur Grundlage für den Menschen genommen habe, und so wie so bleibt der Mensch ein Gebilde von Gottes Hand, nicht bloß dem Grade, sondern der Art und dem Wesen nach verschieden vom Tiere, und tiefer und schöner kann man das Wesen des Menschen nicht aussprechen, als wie es der alttestamentliche Weise getan hat in dem Wort: Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt. Was heißt das?

Indem wir die Ewigkeit, die Gott dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt hat, näher betrachten, erscheint sie uns

zuerst als die Unruhe der Wahrheit im denkenden Geiste,

zweitens als der Stachel der Heiligung im Gewissen und

drittens als Quell des Trostes und Friedens im Gemüte.

Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen! Der du dein Lob bis in die Himmel erhebest! Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir eine Macht zugerichtet um deiner Widersacher willen, dass du den Feind und Rachgierigen geschweigest. Wenn ich schaue deine Himmel, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, welche du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkest und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig geringer gemacht, als dich selbst, du hast alles unter seine Füße gelegt, die Tiere des Feldes, die Vögel unter dem Himmel und was im Meere seine Wege wandelt. Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen. (Psalm 8)

Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt! Das heißt doch wohl zuerst, Gott hat die Unruhe der Wahrheit in seinen Geist gelegt. Denn was ist diese rastlose Forschen nach Wahrheit, diese süßeste Wonne und dieser herbste Schmerz unseres Geschlechts anderes als der Drang eines Ewigen in uns, das wieder Ewiges sucht außer uns? Die Wahrheit, d. h. die Erkenntnis des Ewigen und Bleibenden in allem Wechselnden und Vergänglichen ist ein ebenso dringendes Bedürfnis unserer menschlichen Natur, wie Speise und Trank und hat sich im menschlichen Geiste gewiss fast ebenso früh geregt, als Hunger und Durst. Warum kann der Mensch nicht bei äußeren Dingen stehen bleiben, wie das Tier? Warum frägt schon das Kind: »wer hat uns gemacht? woher das?« Woher im Menschen diese Ungeduld, all`den Reichtum der Welt und ihrer Erscheinungen zusammenzufassen in eine große Einheit, in Ein Weltbild, das den denkenden Geist befriedigt und dem Herzen Wärme und Licht verleiht? Woher dieses Bedürfnis, auf den ewigen Grund der Dinge zurückzugehen und Alles in Einen großen allumfassenden Zusammenhang zu bringen? – Weil Gott dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt hat.

Was treibt den Forscher, über Länder und Meere zu gehen und Pflanzen und Steine zu suchen mit einer Ausdauer, die keine Gefahren kennt, mit einer Liebe, die beim einsamsten Moose an feuchter Felswand nachdenkend verweilt? Es ist die Ewigkeit in seinem Geiste, die ihn nicht ruhen lässt, bis er in allen Erscheinungen des Himmels und der Erde die Fußstapfen des ewigen, schöpferischen Geistes gefunden, bis er Alles geordnet in Ein vernünftiges Ganze, bis er mit Einem Wort die Ewigkeit auch in den Dingen außer ihm entdeckt hat.

Warum haben alle Völker Religion, von den niedrigsten und gröbsten bis zu den höchsten und reinsten Formen? Warum begnügen sie sich nicht, Straßen anzulegen, Handel zu treiben, Häuser zu bauen, Reichtümer zu sammeln? Warum sind sie nicht zufrieden mit Brot und Spielen? Weil in der Religion der Trieb der Ewigkeit, den Gott ihnen in’s Herz gelegt hat, zum Ausdruck kommt! Weil die Völker in ihrer Religion den Sonntag ihres Lebens feiern.

Warum hängen die Völker so zäh an ihrer Religion? Warum vertauschen sie dieselbe nicht an den Zweifel oder an eine Aufklärung oder Bildung, und wäre sie noch so fein und edel, sondern nur an eine gebildetere, aufgeklärtere, reiner Religion vielleicht, aber nur an Religion? Weil die Ewigkeit im Herzen nur zur Ruhe kommt in der Berührung mit dem Ewigen, mit Gott, nur in der Religion. Warum erhitzen sich denn die Menschen der Gegenwart so um den alten und den neuen Glauben? Woher diese Leidenschaft des Kirchenstreits in diesen Tagen? War man denn nicht längst fertig mit diesen theologischen Sachen? War man nicht längst hinaus über alles Kirchliche? Woher auf einmal diese unheimlichen gewappneten Geister, deren Schwerterschlag die Luft bewegt? Predigt nur die Gleichgültigkeit, verkündet nur den Indifferentismus als das wahre Antlitz der Zeit, als das Kennzeichen der Bildung! –

Die Völker werden nicht indifferent werden, sie werden immer kämpfen für die Schätze ihres Glaubens, für die Heiligtümer ihres Gemütes und die alten Fragen werden wieder auf den Plan treten, denn Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in’s Herz gelegt.

Sehet da die Ewigkeit als die Unruhe der Wahrheit im denkenden Geiste. Sie macht das Menschenauge zum Spiegel des Weltalls, wie im Tautropfen der Nacht sich die Sonne spiegelt; sie unterhält die heißen Kämpfe der Völker um die Kleinodien ihrer Religion, sie begeistert den Denker, die vergänglichen Formen zu zerbrechen, in welche die Wahrheit sich gefasst hat, und bessere neue zu suchen, auch wenn es ihm das Leben kostet; denn die Ewigkeit ist dem Menschen in`s Herz gelegt.

Aber lernet zweitens diese Ewigkeit auch als den Stachel der Heiligung im Gewissen des Menschen kennen. Warum muss der Mensch im Streite liegen auf Erden gleich dem Tagelöhner, der sich nach dem Schatten sehnt? Warum darf er nicht tun, was seinem Herzen gelüstet und seinem Auge wohlgefällig ist? Woher dieser Kampf zwischen Geist und Fleisch, zwischen Sinnentrieb und Vernunft, zwischen Selbstsucht und Liebe? Woher jene Tränen der Reue auf dem Auge des Sünders, jene Gedanken, die sich unter einander anklagen und entschuldigen? Jene Ängste des Gewissens und alle die Versuche, dieser Angst los zu werden? Sie stammen aus dem Quell der Ewigkeit, der im Herzen fließt. In allen Zonen und zu allen Zeiten seht ihr die Menschheit auf den Knieen vor einem Ewigen und Heiligen, das im Gewissen sich ankündigt bald als ein verzehrendes Feuer, bald als eine wohltuende Flamme. –

Steht der Mensch mit seinen Neigungen und Bestrebungen im Widerspruch mit diesem Ewigen, das in sein Herz gelegt ist, dann empfindet er es wie einen Sturmwind, der die Seele mit Angst und Zagen erfasst, wie ein Erdbeben, das die harten Felsen spaltet, wie ein Feuer, das nicht löscht, und es quillt aus seinem Herzen in Tönen der Klage und des Schmerzensrufes: »Wehe! Wer wird mich erlösen aus dem Leibe dieses Todes? Das Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen finde ich nicht. Das Gute, das ich will, hasse ich, und das Böse, das ich hasse, übe ich. Gott sei mir Sünder gnädig!« Und die Altäre erheben sich und die Priester stehen da und beten für die Seelen der Menschen und die Kirche sucht Trostgründe für das unruhige Gewissen.

Wo aber der Mensch mit seinen Gelüsten und Empfindungen im Einklang steht mit der Ewigkeit, die in sein Herz gelegt ist, da hört er die Stimmen: Gehe hin in Frieden, dein Glaube hat dir geholfen, das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu geworden. Da hat sich Gott selbst dem Menschen in`s Herz gelegt als der Vater, der Wohnung macht in seinen Kindern, als heiliger Geist, der sich ausgegossen hat in Strömen über das Gemüt, als die Liebe, die sich selbst mitteilt und überschwänglich glücklich macht, und beglückt und gesegnet wandelt nun der Mensch froh und freudig seine Straße; alles Gemeine und Niedrige widerstrebt ihm jetzt; es ist ihm zur anderen Natur geworden, gut zu sein; er kann nicht mehr wider den Stachel ausschlagen; er wandelt nun von Kraft zu Kraft, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit! Die Himmel sind geöffnet über ihm und die Engel Gottes steigen auf und nieder auf des Menschen Sohn und eines Gottesstimme tönt hernieder auf seinen Erdenweg: »das ist mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.« Das ist die Kraft der Ewigkeit, die als ein Stachel der Heiligung dem Menschen in’s Herz gelegt ist.

Lasset uns endlich drittens die Ewigkeit kennen lernen als die Quelle des Trostes und Friedens im Gemüte unter aller Lust der Welt und unter allem Leid der Erde.

In aller Lust der Welt! Oder woher kommt es denn, dass den Menschen kein irdisches Gut befriedigt? Woher die Erfahrung, dass jedes Gut uns reizt, solange wir es erstreben, unsere Einbildungskraft bezaubert und alle Sehnen des Gemütes spannt, aber erlangt, einförmig wird und über sich hinaustreibt? Warum darf des Menschen Sohn in der Welt nicht haben, wohin er sein Haupt hinlege? Warum ist es Keinem vergönnt, zum Augenblicke zu sagen: du bist so schön! Verweile doch? Warum hat jener große Dichter mitten unter Allem, was da Leben schön und reizend macht doch gesungen:

Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest?
Ach, ich bin des Treibens müde,
Was soll` all der Schmerz und Lust,
Süßer Friede!
Komm`, ach komm’ in meine Brust!


Warum ist über das Leben aller edleren und tieferen Menschen bei aller Frische ihres Geistes und bei aller Freudigkeit ihres Schaffens doch etwas, wie Melancholie, wie ein stilles Leidtragen ausgebreitet?

Weil Gott dem Menschen die Ewigkeit in`s Herz gelegt hat und darum kein endlich Gut sein Sehnen ganz zu stillen vermag.
Die Erde hat so viele schöne und verlockende Perlen: Kunst und Wissenschaft, Geselligkeit, eigener Herd, selbst erworbenes Besitztum und als Gipfel des Glückes die Liebe zu einer anderen Kreatur. Aber alle diese Perlen stillen die Sehnsucht der ruhelosen Menschen nicht; vom Himmel fordert er die schönsten und von der Erde jede höchste Lust; alle Näh`und Ferne befriedigt nicht die tiefbewegte Brust – bis er die Eine Perle gefunden, die alle anderen ersetzt, die Perle des Gottesreiches, die Ewigkeit im Herzen, die nicht bloß den rechten Gebrauch aller anderen lehrt, sondern auch die Kraft verleiht, sie alle, wenn es sein muss, hinzugeben und sich doch noch reich und selig zu fühlen.

Die Ewigkeit im Herzen eine Quelle des Friedens und Trostes in aller Lust der Welt. Aber auch in allem Leid der Erde.
Wenn die teuersten Wünsche sich zerschlagen am harten Fels des Schicksals, wenn unsere edelsten Hoffnungen getäuscht werden und dahinsinken, wenn der Freund stirbt, und der Arm, der uns zur Stütze diente, im Grabe ruht, so ist es der Mensch, der kraft der Ewigkeit, die in ihm ist, sagen kann: »dennoch bleibe ich stets bei dir. Ich bin frohen Muts in Ängsten, in Nöten, in Verfolgungen, in Hunger und Blöße. Wenn ich schwach bin, so bin ich stark. Wenn der äußere Mensch abnimmt, so wird der innere erneuert von Tag zu Tag. Die leichte und vorübergehende Trübsal schafft in uns eine gewichtige ewige Herrlichkeit, in uns, die wir nicht schauen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar, das ist zeitlich, was unsichtbar ist, das ist ewig.« Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in`s Herz gelegt! O! was ist dieser Mensch, dass Gott seiner gedenkt und des Menschen Kind, dass Gott sich seiner annimmt? Wenn ich betrachte die Sonne, den Mond und die Sterne – was sind sie in ihrer Pracht und Herrlichkeit gegen ihn, dem Gott die Ewigkeit in`s Herz gelegt hat?

Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in`s Herz gelegt. Lasset uns aber auch das andere betonen: Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in`s Herz gelegt. In`s Herz, nicht wie Viele immer noch meinen, wenn sie das Wort Ewigkeit aussprechen hören, in einen fernen Himmel, in`s Jenseits, in eine Welt über den Sternen, in unermessliche Fernen. Die Erde ist der Schauplatz der Ewigkeit so gut, als jeder andere Teil der Welt; sie ist die Werkstatt göttlicher Gedanken und ein Acker voll himmlischer Schätze, die es gilt zu sehen und zu heben.

Wohl wird es sich das Menschenherz ohne Zweifel niemals nehmen lassen, einen Blick über das Grab hinaus zu wagen und diese Grenze der Endlichkeit mit seinem Ahnen und Sehnen irgendwie zu überschreiten. Und nimmermehr werden wir zugeben, dass der Glaube an die Unsterblichkeit, der einen Bestandteil der Religion fast aller Völker bildet, nur oder wenigstens vorherrschend aus den sinnlich selbstsüchtigen Trieben unserer Natur hervorgegangen sei, wie vielfach auch sinnlich eigennützige Beweggründe demselben in allen Religionen sich beigemischt haben. Vielmehr hat dieser Glaube seine Quelle eben in der Ewigkeit, die Gott dem Menschen in`s Herz gelegt hat.

Es liegt ja so nahe, zu schließen: wenn die Ewigkeit in uns die Unruhe der Wahrheit ist, die von Gesetz zu Gesetz, von Grund zu Grund treibt, unser Wissen hienieden aber stets Stückwerk bleibt, ein Schauen durch einen unvollkommenen und getrübten Spiegel; wenn die Ewigkeit in uns der Stachel der Heiligung ist, der nie zu Ruhe kommt, weil wir niemals fertig sind, weil wir in keinem Augenblick unseres Lebens das Bekenntnis von uns abweisen können: nicht dass ich`s schon ergriffen habe oder vollkommen sei; wenn endlich die Ewigkeit in uns die Quelle des Friedens und des Trostes in Lust und Leid der Erde ist, die aber nie so ungetrübt fließt, dass das Gefühl der Seligkeit nicht wieder unterbrochen würde durch Angst und Schmerz – so wird es über das Grab hinaus Entwicklungsstufen geben, die uns zu voller Wahrheit, zu höherer Heiligung, zu ungetrübterer Seligkeit führen werden.

Dieser Schluss liegt so nahe, aber vergessen wir nicht: sobald der Verstand dieses Ahnen und Sehnen des Herzens deuten will, sobald das Denken in diese Welt der Bilder eindringt, welche die Einbildungskraft auf dem Grunde des ahnenden und suchenden Herzens aufbaut, so fängt das Wolkentreten an, so türmt sich Widerspruch auf Widerspruch, so drängt sich Unmöglichkeit an Unmöglichkeit, und so wird doch am Ende, »mitten in der Endlichkeit Eins zu werden mit dem Unendlichen und ewig zu sein in jedem Augenblick« (Schleiermacher, Reden über die Religion. S.175), das erste und letzte Wort der Religion in dieser Religion in dieser Sache bleiben, und je mehr wir uns im Leben dessen erinnert haben, dass Gott uns die Ewigkeit in`s Herz gelegt hat, desto geringer wird im Tode der Kummer sein, den uns die Frage nach dem Jenseits bereitet.

Es ist ein schönes Wort, wenn das neue Testament einmal von Solchen redet, welche sich des ewigen Lebens für würdig halten: O haltet euch wert des ewigen Lebens! Pfleget diese Ewigkeit in euch als die edle Unruhe der Wahrheit, als den herben Stachel der Heiligung, als die süße Quelle des Trostes und des Friedens! Denn sie ist`s doch allein, die euch zu Menschen macht, sie ist der Schmerz und die Wonne unseres Geschlechts. S.313ff.
Heinrich Lang, Religiöse Reden gehalten im St. Peter zu Zürich Mitte 1871 bis Mitte 1872, Caesar Schmidt (Schablitz`sche Buchhandlung), Zürich 1873

Gott ist der Geist
Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und der Wahrheit anbeten (Johannes 4, 23f.)

… in der Tat! Dieses Wort ist

die Richtschnur für alle menschliche Gotteserkenntnis,

der Keim einer umfassenden Weltanschauung und der

Wegweiser einer gesunden praktischen Frömmigkeit
.

Der du alle Dinge erforschest, auch die Tiefen der Gottheit, der du uns, wo wir nicht beten können, wie sich’s gebührt, vertrittst mit unaussprechlichen Seufzern, erweise dich stark, o Geist, in unserer Schwachheit, und ergänze, was menschliche Rede mangelhaft lässt, durch deine Kraft in den Herzen.

1. Gott ist der Geist! Lasset uns dieses Wort zuerst betrachten als die Richtschnur für unsere Gotteserkenntnis. Gott ist der Geist! Das stellt ja an unsere Gotteserkenntnis stets von Neuem die Forderung, die schon in den ersten Anfängen des Monotheismus so scharf und bündig aufgestellt worden ist:

»du sollst dir von Gott keinerlei Bildnis oder Gleichnis machen weder dessen, was über der Erde, noch unter der Erde ist.«

Haben wir den Ernst und die Tragweite der Forderung schon erkannt und überschaut? Meinen wir, es sei ihr schon ein Genüge geschehen, wenn wir nur vor keinem aus Holz oder Stein gemachten Bild der Gottheit knien und anbeten? Aber man kann auch in seinen Gedanken und Begriffen sich ein Bildnis von Gott schnitzen aus dem, was in der Welt ist. Seitdem Israel vernommen hatte: »höre, Israel, der Herr unser Gott ist ein einiger Herr und du sollst dir von ihm kein Bildnis oder Gleichnis machen«, verschwanden wohl alle die Bilder, vor denen zuvor die Völker sich niedergeworfen hatten, und die Tempel der Anbetung öffneten sich dem Unsichtbaren, der Himmel und Erde erfüllte, den Dichter und Propheten in den reinsten und erhabensten Tönen verkündigten; aber das Volk machte sich doch wieder ein Bild von Gott in seinen Gedanken und Begriffen nach der Ähnlichkeit des Menschen. Gott war ja »der Herr«, der im Himmel thront,

ein menschenähnlicher Herr, der sich von den Empfindungen des Hasses, der Liebe, der Reue bewegen ließ,

ein bedürftiger Herr, welcher der Opfer und Gebete der Menschen bedurfte und sich durch die Vorstellungen, welche Menschen ihm machten, in seinem Handeln bestimmen ließ,

ein willkürlicher Herr, der Gnade und Ungnade an äußerliche, zufällige Bedingungen hing, an die Abstammung von Abraham und das Zeichen der Beschneidung, der den Tempel in Jerusalem zum Orte seiner Gnade und seines Segens machte, der seine Auserwählten und seine Verworfenen, seine Lieblinge und Verstoßenen hatte; also mit Einem Worte:

ein Gott nach dem Bilde des Menschen gemacht.


Und unsere christlichen Völker, denen das Vermächtnis Mose`s in flammenden Buchstaben erneuert und übergeben worden ist, dass sie es treuer bewahrten, als es sein Volk vermocht hat – haben sie jemals Ernst gemacht mit der Erkenntnis: Gott ist der Geist? Ich will nicht reden von denen, welche den Unsichtbaren und Ewigen fast verdrängt haben durch eine erdgeborene Himmelskönigin, an die sie ihre Gebete richten, und durch unzählbare Heilige, zu deren Bildern sie sich betend wenden, ja die den sichtbaren Gott, in ein Stückchen Brot gehüllt, in feierlichen Umzügen unter Kniebeugungen durch die Hallen der Kirche tragen – das geht hinter das Judentum zurück, das gehört zu den schwachen und bedürftigen Anfangsgründen der Religion, von denen Paulus im Galaterbriefe spricht. Aber ich rede von den Begriffen, welche sich die christlichen Kirchen überhaupt, die Theologen und das Volk von Gott gebildet haben. Was ist ihr Gott? Ein Wesen, das droben im Himmel wohnt an einem außer- und überweltlichem Ort, das von dort aus Notiz von der Welt und je nach dieser Kenntnisnahme bald die Dinge ihrem natürlichen Verlauf überlässt, bald da und dort allmächtig und wundertätig eingreift in den Lauf der Welt und die Geschicke der Menschen, das sogar in einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte seinen Himmelsthron verlassen hat und auf der Erde gewandelt ist in allen Schranken und Nöten der Zeitlichkeit. Ist das nicht ein Gott, der dem Menschen nachgebildet? Ist das der Geist, den aller Himmel Himmel nicht fassen, der die Säume der Morgenröte und die Tiefen des Abgrundes erfüllt, von dem der Dichter sagt:

Gott ist der Überall,
Gott ist der Ohnegrund,
Schneller als Licht und Schall,
Tiefer, als Meeresgrund?


Welches ist der Gott der Kirchen? Ein Wesen, das Tempeldienste und Gebete fordert, das Stunden und Zeiten bestimmt, da das Geschöpf ihm die Ehre erweist, das vom Menschen erfahren muss, was in jedem Augenblick zu tun sei, oder wenn es auch weiß, was wir bedürfen, ehe wir bitten, doch diese Bitten verlangt, um nach ihnen sein Handeln einzurichten. Ist das der Geist, von dem gesagt wird, dass er als Herr des Himmels und der Erde nicht wohne in Tempeln, von Menschenhänden gemacht, dass er auch nicht von Menschenhänden gepflegt werde, als ob er Jemandes bedürfte, da er doch selbst Allen Leben und Atem und Alles gibt.

Gott ist der Geist,
nicht ein Geist neben anderen Geistern, wenn auch höher, doch im Wesen gleichartig mit ihnen. Was hat die Zahl zu schaffen mit dem, von welchem der Dichter singt:

Gott ist der Ohnezahl,
Vor dem die Zahl vergeht,
Der durch den Sternensaal
Sonnen wie Flocken weht?


Gott ist nicht ein Wesen, das Geist hat, wie andere geistbegabte Wesen, es ist nicht eine Person, die denkt und will und handelt, ähnlich wie Menschen denken und wollen; er ist die Vernunft selbst, die ihre Gedanken und ihren Willen in den ewigen Ordnungen des Weltalls ausführt; er ist der Gedanke, der in der Welt des Stoffes und Geistes allwirksam schafft und Allem, was ist, nicht bloß Leben und Atem, sondern auch Zweck und Gesetz verleiht. Er hat nicht ein Herz, um zu lieben, wie die Menschen lieben, er ist die Liebe selbst, von der Alles ausströmt, was im Menschenherzen von Liebe ist, von der alle menschliche Liebe nur ein schwacher, trüber Abglanz ist.

Ich weiß wohl, dass wir von ihm, dem Unsagbaren und Unbegreifbaren, immer in Bildern reden werden. Die Sprache der Religion ist nicht die Sprache der Philosophen. In der Religion redet das Herz mehr, als der Verstand. Das Gemüt zwängt die überwallenden Erfahrungen, die es im Verkehr mit dem Ewigen macht, nicht in die Regeln der Logik.

Indem wir von dem Schrankenlosen sprechen, bannen wir es in die Schranken des menschlichen Wortes;

indem wir von dem ewig Gestaltlosen reden, fassen wir es in die Laute einer Sprache, die ihre Klänge der Anschauung des Sichtbaren entlehnt hat.

Wenn wir sehen, wie in den Geschicken der Einzelnen wie der Völker sich Gottes Gesetze lohnend oder strafend vollziehen, so sprechen wir: Gott hat seinen Stuhl aufgerichtet zum Gericht unter den Völkern, obwohl wir wissen, dass der Richter ein Bild ist, das wir menschlichen Verhältnissen entlehnt haben.

Wenn wir das Vorsorgliche, Freundliche, Segnende der Weltordnung bezeichnen wollen, so sagen wir Vater! obwohl wir wissen, dass wir damit ein menschliches Lebensverhältnis auf Gott übertragen, und

wenn wir die Erhabenheit Gottes über alles Enge, Drückende und Unreine, was der Endlichkeit anhängt, ausdrücken sollen, so fügen wir hinzu: Vater, der du bist in den Himmeln; denn in allen Sprachen und unter allen Zonen ist der Himmel in der Unbegrenztheit und Unendlichkeit, in welcher er dem Auge erscheint, das Sinnbild der Erhabenheit und Reinheit des Geistes.

Indem wir in unseren Gedanken über Raum und Zeit hinwegfliegen und von allem Endlichen und Sichtbaren uns erheben zu Gott, sondern wir unwillkürlich denjenigen, der Alles erfüllt mit seiner Gegenwart, von den Dingen der Welt und reden mit ihm, wie der Mensch mit dem Menschen, die Person mit der Person redet; wir fassen den Geist, der doch überall ist und nirgends, auf Einem Punkte, auf dem wir ihn festhalten, betrachten, genießen können, und beschränken ihn so.

Wohl uns, wenn wir das nie vergessen! Wenn wir dessen eingedenk bleiben, dass es Bilder sind, in welchen wir das Göttliche anschauen! Wehe uns, wenn wir das Bild mit der Sache verwechseln! Denn wir überreden uns, eine lautere und vollkommene Gotteserkenntnis zu haben, während wir mit Bildern spielen; wir machen, was als Ausdruck des frommen Gemütes an seinem Orte recht und schön ist, wie es alle echte Poesie ist, zu einer kalten Regel des Wissens und Erkennens; wir machen die Gottheit zum Gespötte der Weisen und die Wissenschaft zur Feindin des Glaubens und nähren den Wahn der Massen, die in trauriger Verwechslung des Bildes mit der Sache noch jedesmal diejenigen als Gottesleugner verschrien und verfolgt haben, welche ihrem geistlosen Götzenbild einen Arm oder Fuß abgeschlagen und Ernst gemacht haben mit dem Worte: Gott ist der Geist.

Gott ist der Geist. Sehet da die Richtschnur für alle unsere Gotteserkenntnis. Wenn man von ihr abweicht, entsteht Schaden für die Religion. Weicht man von ihr ab zur Linken, indem man an die Stelle des Geistes die blindschaffende Naturkraft setzt, so entsteht der Unglaube oder die Gottesleugnung. Weicht man von ihr ab zur Rechten, indem man den Geist herabzieht in die Bilder des Endlichen und Sinnlichen, so entsteht der Aberglaube, das Zerrbild des Glaubens.

2. Lasset uns zweitens, was sich als Richtschnur erwiesen hat für alle Gotteserkenntnis, zugleich als den fruchtbaren Keim einer umfassenden Weltanschauung kennen lernen!

Ist Gott der Geist, so ist ja der Geist das Wesen der Welt. Die Welt ist eine Offenbarung des Geistes, von der Vernunft und auf die Vernunft angelegt, ein Reich lichter Gedanken und klarer Gesetze, ein Schmuck des Geordneten, daher aufgeschlossen dem denkenden Geiste des Menschen, der ihre Rätsel löst und in ihre Geheimnisse eindringt und die Wahrheit findet, weil Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann. Daher ist sie dem Geiste dienstbar für das Werk der Vernunft und Freiheit, das er auf ihrem Boden aufrichten will; bald erscheint sie ihm als Lehrerin und Zuchtmeisterin, die ihm allerlei Hindernisse in den Weg legt, wodurch sie seinen Verstand schärft und seinen Willen stählt, gleich als wenn Einer kurzweilig mit einem Würmlein spielt und ihm etwa ein Rütlein oder Sträuchlein vorwirft, dass es nicht könne fortkriechen, wohin es gern wollte, sondern muss sich mancherlei Weise hin und her wenden und an allen Orten versuchen, wie es doch endlich davon kommen möchte; bald legt sie sich biegsam und geschmeidig zu seinen Füßen und horcht auf seine Befehle, sobald er ihre Listen gemerkt und ihre geheimen Kräfte entdeckt hat. Darum spricht sie so zu Geist und Gemüt. Sie fordert den Geist zu staunender Betrachtung auf, gewährt dem heißen Gemüte Trost und Frieden an ihrem Busen und ihre heiligen Hallen erfüllen die Seele mit Andacht und Anbetung.

Ist Gott der Geist, dann ist der Geist insbesondere das Wesen des Menschen. Dann wird der Wert des Menschen durch kein endliches sichtbares gut, nicht durch Geburt oder Geschlecht, nicht durch Gold oder Silber, nicht durch Volk oder Farbe, nicht durch Höhe oder Niedrigkeit, sondern nur durch dasjenige bestimmt, was er innerlich ist, was er durch die Tat des Geistes aus sich macht. Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Herr noch Sklave, hier ist nicht Mann noch Weib, im Geiste sind sie Alle Eines. Dann hat jede Menschenseele einen unendlichen Wert.

»Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme Schaden an seiner Seele«? »Eine Menschenseele vom Verderben erretten, bedecket der Sünden Menge«. »Im Himmel ist Freude über jeden Sünder, der Buße tut«. »Wehe dem, der Eines dieser Kleinsten ärgert«. »Was ihr Geringsten Einem getan habt, das habt ihr mir getan«.

Daher ist die Forderung der Nächstenliebe eine unbegrenzte und schrankenlose.

Daher ruht auch das Glück des Menschen nicht in dem, was außen und sichtbar ist, sondern nur im Geist, in den unsichtbaren Gütern des Gemütes, in den Schätzen des Himmels, die für Jeden erreichbar sind, in den Kräften des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, die in jedem Herzen liegen.
Daher ist auch die sittliche Aufgabe des Menschen nur im Geiste zu suchen. Er ist nicht da, um zu genießen, um Reichtümer anzusammeln, um sein Leben äußerlich freundlich und behaglich zu gestalten, sondern um ein Wesen nach dem Bilde Gottes, des Geistes, ein Mensch nach dem Herzen Gottes zu werden. Die Welt ist für ihn ein Gebiet der Pflichten, der Arbeit, der Aufgaben. Daher dieses unerbittliche Soll, welches aus dem Reich des Einen ewigen Geistes hereinklingt in die Welt des endlichen Geistes. Daher die Forderung der Buße, der Selbstverleugnung, der Weltentsagung, der Wiedergeburt, die alle nichts Anderes sagen wollen, als dass der Mensch aus seiner Sinnlichkeit und Natürlichkeit sich emporringe zu dem, was sein wahres Wesen ausmacht, zum Geiste. Daher die Freiheit des Willens eine Tatsache der inneren Erfahrung; denn sie sagt nichts Anderes aus, als dass der Mensch die Kraft habe, aus der ganzen äußeren Welt mit ihren Reizen und Schrecken, aus all’ den Antrieben der sinnlichen Begierde zurückzugehen in die unergründlichen Tiefen der Geistigkeit, die in ihm liegen, um hier durch Überlegung und Abwägung diejenigen Beweggründe für seinen Willen zu suchen, welche seinem Wesen angemessen sind.

Ist Gott der Geist, dann ist die Geschichte der Menschen, die Weltgeschichte, ein Werk des Geistes, nicht ein Tummelplatz des Zufalls, der Unvernunft, der Leidenschaft, nicht ein ewiger Kreislauf, nicht eine geistlose Wiederholung dessen, was schon da gewesen war.

»Die Weltgeschichte ist das Weltgericht«,
in welchem die Gesetze des Geistes sich lohnend und strafend vollziehen in den Geschicken der Völker.

»Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«
, eine Schule der sich bildenden Vernunft, eine fortschreitende Erziehung unseres Geschlechts durch den ewigen Geist, der sich ihm immer reichlicher offenbart und immer voller aufschließt, aus der Unmündigkeit zur Freiheit, aus der Sinnlichkeit zur Geistigkeit, aus der Nacht zum Licht.

Ist Gott der Geist, dann hat endlich die Welt, wenn auch kein Ende – weil der Geist ewig ist und immer schafft und nur in einem Äußeren sich offenbaren kann, doch ein Ziel, einen Zweck. Sie ist kein Absteigen zum Nichts, sondern ein Aufsteigen zu immer höheren, vollkommeneren Formen, bis Gott nach dem Ausspruch des großen Apostel Alles in Allem sein wird, er, der Geist, von dem, durch den, , in dem wir Alle sind, der über uns und in uns Allen ist.

Sehet da die Grundlinien einer umfassenden Weltanschauung, wie sie in dem Worte. Gott ist der Geist, vorgezeichnet sind. Ich hoffe, das sei immer noch eine Weltanschauung, die sich sehen lasse dürfe neben den mannigfaltigen Versuchen der Gegenwart, die Welt zu erklären, welche sich oft so geräuschvoll ankündigen und das Ende der christlichen Weltanschauung ausrufen.

3. Lasset uns endlich das Wort: Gott ist der Geist, noch kennen lernen als einen sicheren Wegweiser zu einer gesunden praktischen Frömmigkeit.

Ist Gott der Geist, dann kann nur diejenige Verehrung seiner würdig sein, welche im Geist und der Wahrheit geschieht. Die Anbetung Gottes im Geiste, nicht im Buchstaben eines Bekenntnisses, das dem denkenden Geiste fremd ist und äußerlich geworden ist, nicht im Buchstaben eines Gesetzes, das man dem Wortlaut nach erfüllt, während das Herz von seinem Inhalt nicht erfüllt und die Gesinnung von seiner Heiligkeit nicht durchdrungen ist (Matth. 5, 21)

Die Anbetung Gottes in der Wahrheit, nicht durch den Heuchelschein äußerer Formen und Werke, die man abmacht als eine Pflicht, als eine Vorschrift, weil man meint, dass der Ewige solcher Dinge bedürfe, sondern in der Aufrichtigkeit eines frommen, andächtigen, liebenden Herzens (Matth. 6, 1ff.). Dann wird der wahre und vernünftige Gottesdienst das gesamte im Geiste und vor dem Geiste geführte Leben sein, der fortschreitende Sieg des Geistes über die Versuchungen der Welt, die Erfüllung der täglichen Pflicht mit Geist und Gemüt. Dann wir die einzig wahre, des Geistes, dessen Offenbarung die ganze Welt ist, allein würdige Kirche nicht ein Tempel sein, von Menschenhänden gebaut, dessen er doch nicht bedarf, sondern nur die große, weite Welt selbst mit ihren Aufgaben und Pflichten, mit ihren Sorgen und Arbeiten, mit ihren Genüssen und Entbehrungen.

Dann wird das Gebet kein Dienst der Lippen, keine vorgeschriebene, zu bestimmten Zeiten zu entrichtende Pflicht sein, die man erfüllt, um Gottes Wohlgefallen zu verdienen – als wüsste der allgegenwärtige Geist nicht, was wir bedürfen, ehe wir darum bitten! – sondern es wird die Erhebung unseres Geistes aus dem Staub und der Endlichkeit unseres Lebens zu ihm, dem Unendlichen sein, das stete Gefühl seiner befreienden und erquickenden Nähe, das sich bald in Worten äußern wird - aber nicht um seinetwillen, welcher der Worte nicht bedarf – zumal, wo viele Geister in der gleichen Stimmung der Andacht und Anbetung bei einander sind, bald wortlos als ein unaussprechlicher Seufzer, als ein stiller Strom göttlicher Gedanken und heiliger Gefühle im Herzen.

Dann wird das einzige Opfer, das man Gott darbringt, das Herz sein, das auf seinem verborgenen Altare die Flamme der Andacht, des Dankes, der demütigen Ergebung, der heiligen Freude nährt. Jetzt wird man auch die Welt nicht mehr teilen in heilige und unheilige Dinge und das menschliche Leben nicht mehr in geistliche und weltliche Beschäftigungen. Der Gott, der kein Wesen ist außerhalb der endlichen Welt, sondern der der Welt allgegenwärtige Geist, duldet diesen Unterschied nicht. Die Frömmigkeit ist jetzt nicht mehr ein Gewebe besonderer Verrichtungen in der Kirche oder im Kämmerlein, sondern eine höchst einfache Sache, die man auf dem Markte, wie im »Gotteshause« bei sich haben kann. Der Landmann wird jetzt wissen, dass das recht heilige Werk seines Lebens nicht beruht auf Wallfahrten und Pilgern, sondern auf dem Bleiben im Lande und redlichem Verdienst in der Bestellung von Haus und Hof und im Bau der Saaten; der Handwerker wird jetzt wissen:

Ein ehrbar fromm Gewerke
Ist Gottesdienst im Kern
Und treuer Arbeit Stärke
Ist eine Kraft der Herrn.


Und Hausvater und Hausmutter werden jetzt wissen, dass Frömmigkeit nicht besteht im Laufen in`s Kloster, sondern in stiller Arbeit und in Auferziehen der Kinder Gott zum Preis und den Menschen zur Freude.

»Da ist nichts mehr verwerflich, was Gottes Hand geschaffen hat. Da ist die ganze Erde seiner Herrlichkeit voll, nirgends mehr unheiliger Boden; überall sind die Säulen seines Tempels aufgerichtet, überall die Spuren seiner Hände, überall seine Zeichen, überall seine Altäre« (Holtzmann akademische Predigten 152).

Überall seine Altäre! Und doch baust du ihm noch besondere Altäre in deinem Hause und im Tempel und nennest das in besonderem Sinne deinen Gottesdienst? Du tust recht daran, wenn es geschieht aus dem Bedürfnis des Geistes, teils um, was in dir lebt von Gott, zum Ausdruck zu bringen, teils um neue Fülle zu schöpfen aus dem ewigen Born des Geistes durch Versenkung aus dem Getriebe des Endlichen in Gottes heilige Tiefen. Aber wehe dir, wenn du meinst, Gott damit einen Dienst zu tun, ihm etwas zu leisten und bei ihm etwas zu verdienen! Dann spricht er zu dir: mein ist Alles, was im Himmel und auf Erden ist; was bedarf ich deiner Lippen und deiner Opfer? Der den Himmel und die Erde und Alles, was darinnen ist, geschaffen hat, bedarf nicht, dass seiner von Menschenhänden gepflegt werde.

Ist Gott der Geist, dann kommt es auch für seine Verehrung nur auf den Geist, nicht auf die Worte und Begriffe und Gebärden an. Dann werden die Menschen nicht mehr meinen, zur größeren Ehre Gottes zu handeln, wenn sie einander um der Worte und Gebärden willen aus dem Hause ihres Vaters werfen. Man wird die Herzensfrömmigkeit unter allen Formen schätzen und lieben.

Der Reisende Castrèn fragte ein samojedisches Weib, ob sie bete. Sie gehe, erwiderte sie, jeden Morgen und jeden Abend aus ihrem Zelt und verbeuge sich vor der Sonne. Am Morgen sage sie: wenn du dich erhebst, erhebe ich mich auch aus meinem Bette; am Abend: wenn du niedersinkst, begebe ich mich auch zu Ruhe. Dies war ihr Gebet, vielleicht ihr einziger Gottesdienst. Uns scheint es dürftig und nichts sagend; aber nicht ihr; denn es hob die Gedanken des Weibes wenigstens zweimal am Tage von der Erde zum Himmel, es gab ihr eine Ahnung, dass ihr kleines Leben mit einem weiteren und höheren Leben verknüpft sei; es gab der täglichen Runde ihres kümmerlichen Lebens einen heiligen Schein und eine tiefere Bedeutung
(Max Müller, Vorlesungen über vergleichende Religionswissenschaft).

In allen Zonen liegt die Menschheit auf den Knieen
Vor einem Göttlichen, das sie empor soll ziehen;
Bracht keinen Brauch und keine Flehgebärde,
Womit ein armes Kind emporringt von der Erde;
Ein Kind mit Lächeln kämpft, ein andres mit Geschrei,
Dass von der Mutter Arm es aufgenommen sei.


Wohl haben wir an dem Wort, Gott ist der Geist, eine Richtschnur unseres Erkennens, an welcher wir hinlaufen ihm entgegen. Aber wer erreicht das Ziel ganz? Wer stößt nicht auf dem Wege dahin auf Abgründe, da es dem Auge schwindelt? Auf Fragen, auf welche er keine Antwort hat. Unser Wissen ist Stückwerk und unser Reden ist ein Stammeln. Lass die das schwache Lob unseres Mundes gefallen, du Ewiger!

Vor dieser Einsicht wird das gehässige Richten und Verdammen verstummen, welches bisher die verschiedenen Meinungen über Gott an einander geübt haben. Man wird jetzt erkennen, dass die Frömmigkeit viel weiter und größer ist als die Dogmatik. Ihr Maßstab wird nicht die vollständige Richtigkeit der Verstandesbegriffe sein, sondern die Lauterkeit des Herzens und Willens, die Kraft der Hingebung, die Glut der Begeisterung für das, was an sich selbst wahr und gut ist, die Erfüllung des persönlichen Erlebens mit göttlichem Gehalt. Es wird keine anderen Ungläubigen geben, als die Geistlichen, welche am Buchstaben hängen, der da tötet, oder den Gehalt des Lebens im Sichtbaren und Sinnlichen suchen, und gläubig werden Alle heißen, die dem Geist vertrauen. Mögen die Bekenntnisse immer verschieden bleiben; sie werden keine Schranken oder feindlichen Bollwerke mehr sein; an die Stelle der engen und zanksüchtigen Konfessionskirchen wird die Union aller Gotteskinder treten. Denn Gott ist der Geist und die ihn anbeten, sollen ihn im Geist und der Wahrheit anbeten
. S.288-298
Heinrich Lang, Religiöse Reden gehalten im St. Peter zu Zürich Mitte 1871 bis Mitte 1872, Caesar Schmidt (Schablitz`sche Buchhandlung), Zürich 1873