Lallâ, auch Lal Ded (Großmütterchen Lal) genannt, (14. Jahrhundert n. Chr.)

Dichterin aus Kashmîr, die als shivaistische Asketin singend und tanzend durchs Land zog. In ihren in alt-kashmîrischer Sprache abgefassten Strophen preist sie den pantheistischen Glauben ihrer Heimat.

1.
Ich, Lallâ, ging mit Sehnsucht aus,
Im Suchen mir Tag und Nacht verstrich,
Da fand ich den Herrn in meinem Haus,
Und der Stern der Stunde nie wieder verblich.

2.
In Gedanken tief versunken hielt ich meinen Atem an,
Da erschloß sich mir die Wahrheit, in mir glühte auf das Licht,
Und der Glanz, der mich durchleuchtet, strahlte auch nach außen dann,
Von der Wahrheit, die im Dunkel ich ergriffen, ließ ich nicht.

3.
Wer mit dem Andern sich als Eines dachte,
Wer Tag und Nacht in sich als gleich empfand,
Wer sich im Geist frei von der Zweiheit machte,
Der hat allein den höchsten Gott erkannt.

4.
Das Licht des Wissens, das in Geist und Wonne webt,
Wer das erkennt, ist - lebend noch - erlöst allein.
Ins wirre Netz des, was im ew'gen Wechsel lebt,
Knüpfen die Toren Tausende von Knoten ein.

5.
O Herr, ich wußte früher selbst noch nichts von mir,
Nur meinem Leibe wandt' ich meine Liebe zu,
Ich hatte nicht erkannt, daß ich bin eins mit dir,
Und daß der Tor fragt, wer bin ich und wer bist du.

6.
Ob er Shiva oder Vishnu oder ob er Jina heißt,
Oder ob man ihn verehrend als Lotosgebornen preist,
Möchte er mich doch, mich Arme, von des Daseins Qual befrein,
Mag er Der sein oder Der sein, Der sein oder Jener sein.

7.
Nicht Ruhe findet, wer ein Reich erringt,
Es aufzugeben keinen Frieden bringt.
Frei von Begierde stirbt die Seele nie,
Nur wenn sie lebend stirbt ist wissend sie.

8.
Die Kleidung soll dir nur Schutz vor der Kälte schenken,
Nimm Speise nur, dem Hunger zu entgehn.
Der Geist soll sich in Gott und in sich selbst versenken,
Der Leib ist nichts als Speise für die Kräh'n.

9.
Von Kälte übermannt wird Wasser Eis und Schnee.
Wir wissen, Wasser, Schnee und Eis sind eins von je,
Sie werden gleich im hellen Strahl des Sonnenscheins,
So sind auch Gott und Welt im Licht des Wissens eins.

10.
Sie kommen und sie gehen wieder fort und fort,
Sie müssen wandern Tag und Nacht von hier nach dort.
Woher sie kamen, dahin wieder es sie treibt.
Was bleibt von ihnen ? nichts - was bleibt ? nichts, gar nichts bleibt.

11.
Herr, du bist selbst der Himmel und die Erde,
Luft, Wasser, Blume, Sandel, Nacht und Tag.
Du bist die Opfergabe auf dem Herde,
Bist Alles. Herr, wo ist, was ich dir opfern mag?

12.
Kein »Ich« ist und kein »Du«, kein »Der« ist und kein »Das«,
Der Schöpfer ist allein, der selber sich vergaß.
Der Blinde hat den Sinn der Worte nicht gefunden,
Sobald er sehend wird, ist ihm die Welt entschwunden.

Aus: Indische Gedichte aus vier Jahrtausenden. In deutscher Nachbildung von Otto von Glasenapp (S. 81-83 G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1925