>>>Gott
Messias ?
Die Ziele der Nation werden ihr nicht von Menschen gesteckt, sondern von dem
Lenker aller Geschicke im Himmel, welcher die Nationen dahin stellt, wo sie
stehen sollen, nicht damit sie glücklich seien, sondern damit sie seinen
Heilsgedanken dienen.
Die Geschichte seiner Könige und seiner Patrioten führte Israel ins
Elend. Als die jämmerlichen Reste der Nation von Cyrus und dessen Nachfolgern
das Recht erhielten, nach Judäa zurückzukehren, war zunächst
nichts als Jammer in dem früher meist so selbstzufriedenen Lande. Nicht
eine Überzeugung von dem ethischen Werte der in Israel vorhandenen Lebenselemente
hielt die um Jerusalem neu Vereinten zusammen: mechanisch klammerte man sich
an die Brocken Vorzeit, welche zertrümmert am Boden umherlagen: David, iden Leviten,
Propheten, alles war, früherer Kämpfe und Disharmonien nicht mehr
eingedenk, bemüht aufzubauen, was irgend noch stehen wollte, und die neue
Gemeinschaft, in welcher auch die innerlichen Seelen Platz nehmen mußten,
wenn sie überhaupt irgendwo einen Platz haben wollten, diese Gemeinschaft
wäre eine kümmerliche Ruine geblieben, wenn nicht der Zelotismus mit
seinem hydraulischen Drucke die verschiedenartigen Baustücke zu einer neuen
Masse zusammengepreßt hätte. Das neue Israel war, was man im römischen
Heere eine caementaria structura nannte, und der Pharisäismus hat es gebaut.
Trennung von allem Nicht-Israel (Pharisäer bedeutet Separatist) war das
Gebot der ersten, freiwillige Übernahme aller schwersten äußerlichen
Pflichten der am schwersten belasteten Heiligen und Priester der Vorzeit das
Gebot der zweiten Tafel in dieser neuen Gesetzgebung: der kalte, giftige Hochmut,
welcher aus der Beobachtung dieser Gebote floss, wurde noch dadurch gesteigert,
dass man ihm einen patriotischen Vorwand in dem rechtsanwaltmäßig
gefaßten Glauben an die Erwählung des gepriesenen Volks durch Jahwe
und eine metaphysisch-theologische Widerlage in der den Alten nicht bekannten,
in der Kindheit auch Israels sogar verworfenen, jeden religiösen Wertes
baren Lehre von der Einheit Gottes gab. Und auch dieser Pharisäismus hätte
sein Spiel nicht gewonnen, wenn nicht Antiochus Epiphanes seine Narrheit gegen
das Judentum ins Feld geführt, und was wie Regenwasser an Wind und Sonne
von selbst sich verzehrt haben würde, falls man das Ende hätte abwarten
wollen, mit Gewalt und rasch zu beseitigen sich vorgesetzt hätte. Auf Epiphanes antworteten die Makkabäer, und so sehr das Leben sogar für Priester,
als sie zu Herrschern geworden waren, die Forderungen des Pharisäismus
ermäßigte, sowenig andere Richtungen — die Neigungen älterer
Epochen in den Sadduzäern, die Wünsche und verzagend hoffenden Bestrebungen
auf eine ferne Zukunft in den Essenern und Enthusiasten — ganz ausgeschlossen
waren, die Nation war im wesentlichen pharisäisch, und seit sie dies geworden,
der Spott und der Abscheu aller, die mit ihr in Berührung kamen, freilich
auch die Zuflucht verbrauchter Wüstlinge, welche in ihrem Schoße
Vergebung suchten, wie unbefriedigter Philosöphchen, welche durch einen
entschlossenen Sprung in das Gebiet einer Autorität, die noch dazu, indem
sie von Moses auf Noe zurückzuweichen gestattete, mit sich handeln ließ,
Zweifel und Erkenntnisdrang so geist- und gemütlos abtaten, dass man
gegen die Echtheit ihres Zweifelns und Erkennenwollens Bedenken zu tragen allen
Grund hatte: auch bildete sich wohl schon damals mancher auf seinen Renten zur
Ruhe gegangene Biedermann ein, dass jüdischer Monotheismus Religion,
Plato nur der den Gewährsmann seiner Weisheit nicht nennende Schüler
des fabelhaften Moses sei, und leistete dem Stichworte Judentum darum das Wohlwollen,
welches gleich hochgestellte Seelen heutzutage den nicht minder wertlosen Stichworten
Liberal und National zubilligen.
In dieser Gemeinschaft trat Jesus auf. Geboren und groß gezogen war er
nicht im Mittelpunkte, sondern auf einem weit vorgeschobenen Außenwerke
derselben. Wir dürfen uns vorstellen, daß er als Knabe den Hügel
im Nordwesten von Nazareth oft erstiegen und seinen Blick zum Tabor, zum Hermon
und Karmel und über das Mittelmeer habe schweifen lassen: als Mann, wo
er vermochte. In ihm, und bis zu einem gewissen Grade auch in seinem gleichaltrigen
Freunde Johannes dem Täufer, entstand noch einmal die alte Prophetie. Jedes
Volk vermag Nachblüten seines eigensten Wesens zu treiben: Jesus war eine
solche von Israel. Doch wenn in dem Prophetentume die Kategorie, in welche der
Stifter des Christentums einzuordnen ist, fast möchte ich sagen der Stand
gegeben ist, dem er angehörte, so fehlt doch viel, daß dadurch das
innerliche Wesen Jesu umschrieben wäre. Dies bildete sich gerade im Gegensatze
zu dem Judentume seiner Zeit aus. Eines muß ich meinen Erörterungen
hier vorausschicken: im Neuen Testamente gehen zwei sich aufhebende Berichtreihen
nebeneinander her, die eine, nach welcher Jesus sich für den Messias gehalten,
die andere, nach welcher er der Messias zu sein abgelehnt hat. Indem ich auf
das früher und zuletzt noch in den Semitica von mir über Messias Gesagte
verweise, erkläre ich mich dafür, die andere Reihe für die den
Tatsachen entsprechende zu halten, aus dem einfachen Grunde, weil diese schwerlich
erfunden worden wäre, schwerlich sich von selbst gebildet hätte, nachdem
die weitere Entwickelung der Religion Jesu sich aus hier gleichgültigen
Gründen für die erste entschieden hatte. Danach sind mir die Beziehungen
Jesu zu seinem Volke negative: er gleicht dem Kopernikus, der, als er mit der
Erklärung der astronomischen Tatsachen nicht auskommen zu können erkannt
hatte, falls er dem Systeme des Ptolemäus huldigte, die Theorie umdrehte,
und, statt die Sonne um die Erde hufen zu lassen, annahm, die Erde laufe um
die Sonne. Wenn Jesus als Prophet eine Form israelitischen Geisteslebens erneute,
so war er Stifter des Evangeliums, Schöpfer eines noch nicht da gewesenen
Lebensstoffes, weil er als Genius, das heißt, als unmittelbarer Empfinder
der ewigen Wahrheit, fühlte, sagte und lebte, daß der gerade Gegensatz
des von Israel der Art nach verschiedenen, wenn auch aus Israel entstandenen
Judentums das sei, worauf es in Zeit und Ewigkeit ankomme. Er nennt sich einen
Menschen — denn das ist der Sinn des schon frühe verkannten Namens
Menschensohn — will mithin nicht Jude, wir dürfen wohl hinzusetzen,
nicht Mitglied irgendeiner Nationalität sein, soferne diese auf eigenen,
vorzugsweisen oder ausschließlichen Wert stolz wäre: und weil er
Mensch ist, nennt er Wein und Brot sein Blut und seinen Leib. Er verkündet
ein Reich Gottes, stellt also in Abrede, daß die Theokratie, welche ein
Reich von Priestern, ein Synagogenstaat war, die endgültige Gestalt des
Ideals auf Erden biete. Er beschreibt dies Reich als nicht von dieser Welt stammend,
nicht in dieser Welt aufhörend, sagt aus, daß es seine Vollendung
in des Vaters Hause finden werde, in welchem es viele Wohnungen gebe. Er nennt
die Umkehr (das meinte er mit Buße, da er aramäisch redete) den Schlüssel
zur Türe dieses Reiches: deutlicher verlangt er neue Geburt für die,
welche in dies Reich hinein kommen wollen: das heißt, er leugnet, die
viel gepriesene Abstammung von Abraham und Jakob Anrecht auf den Genuß
der Gottesfreundschaft verleihe: er behauptet, dass Judentum und Evangelium,
diese Welt und jenes Leben, natürliches und geistliches Dasein sich nicht
verhalten wie die Blüte zum Baume oder der Baum zur Wurzel oder die Wurzel
zum Samenkorne, sondern wie ein Ding zu einem ganz andern zweiten Dinge. Er
sieht das Reich Gottes als in dem Augenblicke gekommen an, in welchem er gekommen
ist, wonach er der Erstgeborene unter vielen Brüdern wie Zelle, an welche
andere Zellen anschließen, ein Urheber neuen Lebens und neuer Gestaltungskraft
in der Geschichte, nicht bloß Mensch im Gegensatze gegen die in der Nationalität
Befangenen, sondern Person als Meister, Typus, Vater ihm gleichgearteter Personen.
wenn man will, Christ vor Christen. Er kennt die dem Guten feindliche Macht
der Welt, welche dem Reiche Gottes so entgegensteht und entgegenlastet wie die
jüdische Nationalität der Menschheit und dem Menschentume. Er verweist
auf den Heiligen Geist, den Geist der aus ihm geborenen Gemeinde der Heiligen,
als den, der in alle Wahrheit leiten, sein Werk vollenden und Größeres
bieten werde als er geboten.
Aber mit Jesu Leben war seine Wirkung nicht vorbei. Er, der einst klagte, dass
die Füchse Höhlen und die Vögel des Himmels Nester haben, er
aber, der Mensch keinen Ort besitze, wo er sein Haupt hinlege, er hat gewiß
bald erkannt, dass alles beim Alten bleiben müsse, daß die Juden
ihn hassen, die Welt ihn töten werde: er hat auch den Wert der Verfolgung
und des Todes begriffen oder gefühlt, aber sein wirklicher Tod hat ihm
die Herzen der Geschichte anders erschlossen, als sein Leben jemals hätte
tun können und als er von seinem Tode es selbst erwartet haben dürfte.
Jahrhunderte hindurch hatten die Menschen, welche an den Mündungen des
Nils und die palästinische und phönizische Küste hinauf bis Byblus
wohnten, in gewissen, regelmäßig wiederkehrenden Naturvorgängen
Bilder, Typen, Prophezeiungen geistigen Lebens gesehen. Bald hieß es,
die himmlische Göttin liebe den Adonis, den in jugendlicher Pracht über
die Erde ziehenden Frühling, aber ihr Gemahl töte aus Eifersucht,
was ihm ihr Herz geraubt: im heißen Chaziron, dem Ebermonate, verblutete Adonis, und aus seinen Wunden erblüht das Adonisröschen: die Klage
tönt um ihn in allen phönizischen Gatten, und das dem Mörder
geweihte Tier ist dort überall ein Greuel. In Ägypten wird Osiris,
der gute Gott, von seinem neidischen Bruder Typhon erschlagen: wann die Wachtel wiederkehrt und die Etesien
gen Süden wehen, erwacht er. Es ist ein Überschuss des Lebens
über den Tod, aber freilich auch ein Überschuss des Todes über
das Leben da: die beiden ringen miteinander, und ihres Kämpfens, Siegens
und Unterliegens ist kein Ende.
Jesu Tod transponiert diese alten Weisen in eine höhere Tonart, aus Moll
in Dur, in ihm war seinerzeit eine Kraft erschienen, deren Äußerungen
wenige waren, welche aber alles Vorhandene so weit überragte, dass
die ihm nahe Gekommenen das Ende dieses Lebens nicht absahen. Erlosch es gleichwohl,
so wollte es nur andern Welten leuchten, so erlag es nicht einer Naturnotwendigkeit,
sondern gab sich aus ihm bekannten Gründen freiwillig dahin, so war sein
Niedergang geplante Verhüllung eines höheren Aufgangs. Was ist denn
wertvoll in der Geschichte? Die äußere Tatsache oder das Vermögen
bald hier, bald, da zu wirken? Für den Geist sind es keine Fakta, dass
am 15. März 44 Cäsar ermordet, am 1. September 1870 Napoleon III. geschlagen wurde: dem Geiste sind das Fakta, dass ehrliche Männer
an die alte Herrlichkeit Roms glaubten, als sie nicht mehr zu sehen war, daß
auch die reinsten Willen zu unreinen Waffen greifen können, und dass
der beste Wille, wenn er dies tut, das schlechteste Ergebnis zutage fördert,
dass er gerade das vollends in den prahlenden Tag des Erfolges heraufführen
hilft, was zu vernichten er die Absicht hatte: das ist ihm ein Faktum, dass
der Mensch, in Schuld und Sünde schuldlos geboren, von Kindestorheit zu
Jünglingsirrtum vorgehend, aber in dem Glauben stark, dass neben der
Schlange, welche die Natur ihm in die Wiege gelegt, auch das Angebinde guter
Götter ihm beschert sei — als Ersatz für sein unerhörtes
Missgeschick das Vermögen und die Aufgabe Großes zu werden und
zu leisten - dass dieser Mensch tiefer und tiefer falle, wenn er den Mut
nicht findet, er selbst zu sein, wenn er mit einem Weibe und einer herrschsüchtigen
Soutane eine Verantwortung teilt, die nur ihm zusteht, und der er gewachsen
ist, wenn er sie unbeirrt auf sich nimmt: daß er diesen Mut finden müsse,
wenn er anderer Geschicke an seine Fersen geheftet hat, weil sonst diese andern
alle mit ihm stürzen: dass er ein Verbrecher werden könne aus
Schwäche. So ist auch bei Jesus nicht das Gespinst von Wert, welches die
Phantasie über ihn geworfen, sondern die Tatsache, dass ein solches
Gespinst ihn umweben konnte. Er war zu groß um sterben zu können:
die Sonne verhüllte ihr strahlend Haupt, die Erde bebte, als die Menschen
Hand an ihn legten, und für tausend Herzen und die ganze Frühlingslust
der grämlichen, bekümmerten Welt, welche er erfreut, war er nicht
tot, denn sein Werk war durch den Tod nur das empirische Faktum los, was die
deutschen Realschüler und neumodischen Orthodoxen für das allein Wertvolle
erachten, und konnte - die Tatsache des Geistes frei anerkennen und auswachsen
lassen. Aus dem Kreuze der Sieg, im Tode das Leben, das Gute durch die -Niederlage
nur übergeführt in eine herrschaftsfähigere Gestalt. Kind Gottes,
hatte Jesus gesagt: sie verstanden Sohn Gottes. Kein Tod kann das Leben töten,
hatte Jesus gesagt: sie sahen mit ihren scharfen Augensternen die Leiche des
Mannes, und weil sie ihm glaubten, glauben mussten, da er es ihnen angetan,
übertrugen sie seinen Satz in den andern: er wird auferstehen, ist auferstanden.
Töricht genug, gewiss, aber sehr menschlich. Sind die Neugläubigen
etwa klüger, wenn sie das angeblich geistige Gut, die himmlische Offenbarung
„Jesus ist auferstanden von den Toten“ auf eine Linie mir dem Satze
stellen: der Konsistorialrat Soundso wohnt in der Kurzen Straße Nummer
111? Jeder große Mann weckt in seiner Umgebung die Poesie: hätte
Jesu Leben und hätte Jesu Tod die Poesie nicht geweckt, so wäre Jesu
kein großer Mann gewesen ...
Aus: Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, In Auswahl
herausgegeben und eingeleitet von Wilhelm Rössle, Eugen Diederichs Verlag
Jena
(S.282-287, Die Religion der Zukunft)