Paul Anton de Lagarde (1827 – 1891)

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Messias ?

Die Ziele der Nation werden ihr nicht von Menschen gesteckt, sondern von dem Lenker aller Geschicke im Himmel, welcher die Nationen dahin stellt, wo sie stehen sollen, nicht damit sie glücklich seien, sondern damit sie seinen Heilsgedanken dienen.

Die Geschichte seiner Könige und seiner Patrioten führte Israel ins Elend. Als die jämmerlichen Reste der Nation von Cyrus und dessen Nachfolgern das Recht erhielten, nach Judäa zurückzukehren, war zunächst nichts als Jammer in dem früher meist so selbstzufriedenen Lande. Nicht eine Überzeugung von dem ethischen Werte der in Israel vorhandenen Lebenselemente hielt die um Jerusalem neu Vereinten zusammen: mechanisch klammerte man sich an die Brocken Vorzeit, welche zertrümmert am Boden umherlagen: David, iden Leviten, Propheten, alles war, früherer Kämpfe und Disharmonien nicht mehr eingedenk, bemüht aufzubauen, was irgend noch stehen wollte, und die neue Gemeinschaft, in welcher auch die innerlichen Seelen Platz nehmen mußten, wenn sie überhaupt irgendwo einen Platz haben wollten, diese Gemeinschaft wäre eine kümmerliche Ruine geblieben, wenn nicht der Zelotismus mit seinem hydraulischen Drucke die verschiedenartigen Baustücke zu einer neuen Masse zusammengepreßt hätte. Das neue Israel war, was man im römischen Heere eine caementaria structura nannte, und der Pharisäismus hat es gebaut. Trennung von allem Nicht-Israel (Pharisäer bedeutet Separatist) war das Gebot der ersten, freiwillige Übernahme aller schwersten äußerlichen Pflichten der am schwersten belasteten Heiligen und Priester der Vorzeit das Gebot der zweiten Tafel in dieser neuen Gesetzgebung: der kalte, giftige Hochmut, welcher aus der Beobachtung dieser Gebote floss, wurde noch dadurch gesteigert, dass man ihm einen patriotischen Vorwand in dem rechtsanwaltmäßig gefaßten Glauben an die Erwählung des gepriesenen Volks durch Jahwe und eine metaphysisch-theologische Widerlage in der den Alten nicht bekannten, in der Kindheit auch Israels sogar verworfenen, jeden religiösen Wertes baren Lehre von der Einheit Gottes gab. Und auch dieser Pharisäismus hätte sein Spiel nicht gewonnen, wenn nicht Antiochus Epiphanes seine Narrheit gegen das Judentum ins Feld geführt, und was wie Regenwasser an Wind und Sonne von selbst sich verzehrt haben würde, falls man das Ende hätte abwarten wollen, mit Gewalt und rasch zu beseitigen sich vorgesetzt hätte. Auf Epiphanes antworteten die Makkabäer, und so sehr das Leben sogar für Priester, als sie zu Herrschern geworden waren, die Forderungen des Pharisäismus ermäßigte, sowenig andere Richtungen — die Neigungen älterer Epochen in den Sadduzäern, die Wünsche und verzagend hoffenden Bestrebungen auf eine ferne Zukunft in den Essenern und Enthusiasten — ganz ausgeschlossen waren, die Nation war im wesentlichen pharisäisch, und seit sie dies geworden, der Spott und der Abscheu aller, die mit ihr in Berührung kamen, freilich auch die Zuflucht verbrauchter Wüstlinge, welche in ihrem Schoße Vergebung suchten, wie unbefriedigter Philosöphchen, welche durch einen entschlossenen Sprung in das Gebiet einer Autorität, die noch dazu, indem sie von Moses auf Noe zurückzuweichen gestattete, mit sich handeln ließ, Zweifel und Erkenntnisdrang so geist- und gemütlos abtaten, dass man gegen die Echtheit ihres Zweifelns und Erkennenwollens Bedenken zu tragen allen Grund hatte: auch bildete sich wohl schon damals mancher auf seinen Renten zur Ruhe gegangene Biedermann ein, dass jüdischer Monotheismus Religion, Plato nur der den Gewährsmann seiner Weisheit nicht nennende Schüler des fabelhaften Moses sei, und leistete dem Stichworte Judentum darum das Wohlwollen, welches gleich hochgestellte Seelen heutzutage den nicht minder wertlosen Stichworten Liberal und National zubilligen.

In dieser Gemeinschaft trat Jesus auf. Geboren und groß gezogen war er nicht im Mittelpunkte, sondern auf einem weit vorgeschobenen Außenwerke derselben. Wir dürfen uns vorstellen, daß er als Knabe den Hügel im Nordwesten von Nazareth oft erstiegen und seinen Blick zum Tabor, zum Hermon und Karmel und über das Mittelmeer habe schweifen lassen: als Mann, wo er vermochte. In ihm, und bis zu einem gewissen Grade auch in seinem gleichaltrigen Freunde Johannes dem Täufer, entstand noch einmal die alte Prophetie. Jedes Volk vermag Nachblüten seines eigensten Wesens zu treiben: Jesus war eine solche von Israel. Doch wenn in dem Prophetentume die Kategorie, in welche der Stifter des Christentums einzuordnen ist, fast möchte ich sagen der Stand gegeben ist, dem er angehörte, so fehlt doch viel, daß dadurch das innerliche Wesen Jesu umschrieben wäre. Dies bildete sich gerade im Gegensatze zu dem Judentume seiner Zeit aus. Eines muß ich meinen Erörterungen hier vorausschicken: im Neuen Testamente gehen zwei sich aufhebende Berichtreihen nebeneinander her, die eine, nach welcher Jesus sich für den Messias gehalten, die andere, nach welcher er der Messias zu sein abgelehnt hat. Indem ich auf das früher und zuletzt noch in den Semitica von mir über Messias Gesagte verweise, erkläre ich mich dafür, die andere Reihe für die den Tatsachen entsprechende zu halten, aus dem einfachen Grunde, weil diese schwerlich erfunden worden wäre, schwerlich sich von selbst gebildet hätte, nachdem die weitere Entwickelung der Religion Jesu sich aus hier gleichgültigen Gründen für die erste entschieden hatte. Danach sind mir die Beziehungen Jesu zu seinem Volke negative: er gleicht dem Kopernikus, der, als er mit der Erklärung der astronomischen Tatsachen nicht auskommen zu können erkannt hatte, falls er dem Systeme des Ptolemäus huldigte, die Theorie umdrehte, und, statt die Sonne um die Erde hufen zu lassen, annahm, die Erde laufe um die Sonne. Wenn Jesus als Prophet eine Form israelitischen Geisteslebens erneute, so war er Stifter des Evangeliums, Schöpfer eines noch nicht da gewesenen Lebensstoffes, weil er als Genius, das heißt, als unmittelbarer Empfinder der ewigen Wahrheit, fühlte, sagte und lebte, daß der gerade Gegensatz des von Israel der Art nach verschiedenen, wenn auch aus Israel entstandenen Judentums das sei, worauf es in Zeit und Ewigkeit ankomme. Er nennt sich einen Menschen — denn das ist der Sinn des schon frühe verkannten Namens Menschensohn — will mithin nicht Jude, wir dürfen wohl hinzusetzen, nicht Mitglied irgendeiner Nationalität sein, soferne diese auf eigenen, vorzugsweisen oder ausschließlichen Wert stolz wäre: und weil er Mensch ist, nennt er Wein und Brot sein Blut und seinen Leib. Er verkündet ein Reich Gottes, stellt also in Abrede, daß die Theokratie, welche ein Reich von Priestern, ein Synagogenstaat war, die endgültige Gestalt des Ideals auf Erden biete. Er beschreibt dies Reich als nicht von dieser Welt stammend, nicht in dieser Welt aufhörend, sagt aus, daß es seine Vollendung in des Vaters Hause finden werde, in welchem es viele Wohnungen gebe. Er nennt die Umkehr (das meinte er mit Buße, da er aramäisch redete) den Schlüssel zur Türe dieses Reiches: deutlicher verlangt er neue Geburt für die, welche in dies Reich hinein kommen wollen: das heißt, er leugnet, die viel gepriesene Abstammung von Abraham und Jakob Anrecht auf den Genuß der Gottesfreundschaft verleihe: er behauptet, dass Judentum und Evangelium, diese Welt und jenes Leben, natürliches und geistliches Dasein sich nicht verhalten wie die Blüte zum Baume oder der Baum zur Wurzel oder die Wurzel zum Samenkorne, sondern wie ein Ding zu einem ganz andern zweiten Dinge. Er sieht das Reich Gottes als in dem Augenblicke gekommen an, in welchem er gekommen ist, wonach er der Erstgeborene unter vielen Brüdern wie Zelle, an welche andere Zellen anschließen, ein Urheber neuen Lebens und neuer Gestaltungskraft in der Geschichte, nicht bloß Mensch im Gegensatze gegen die in der Nationalität Befangenen, sondern Person als Meister, Typus, Vater ihm gleichgearteter Personen. wenn man will, Christ vor Christen. Er kennt die dem Guten feindliche Macht der Welt, welche dem Reiche Gottes so entgegensteht und entgegenlastet wie die jüdische Nationalität der Menschheit und dem Menschentume. Er verweist auf den Heiligen Geist, den Geist der aus ihm geborenen Gemeinde der Heiligen, als den, der in alle Wahrheit leiten, sein Werk vollenden und Größeres bieten werde als er geboten.

Aber mit Jesu Leben war seine Wirkung nicht vorbei. Er, der einst klagte, dass die Füchse Höhlen und die Vögel des Himmels Nester haben, er aber, der Mensch keinen Ort besitze, wo er sein Haupt hinlege, er hat gewiß bald erkannt, dass alles beim Alten bleiben müsse, daß die Juden ihn hassen, die Welt ihn töten werde: er hat auch den Wert der Verfolgung und des Todes begriffen oder gefühlt, aber sein wirklicher Tod hat ihm die Herzen der Geschichte anders erschlossen, als sein Leben jemals hätte tun können und als er von seinem Tode es selbst erwartet haben dürfte.

Jahrhunderte hindurch hatten die Menschen, welche an den Mündungen des Nils und die palästinische und phönizische Küste hinauf bis Byblus wohnten, in gewissen, regelmäßig wiederkehrenden Naturvorgängen Bilder, Typen, Prophezeiungen geistigen Lebens gesehen. Bald hieß es, die himmlische Göttin liebe den Adonis, den in jugendlicher Pracht über die Erde ziehenden Frühling, aber ihr Gemahl töte aus Eifersucht, was ihm ihr Herz geraubt: im heißen Chaziron, dem Ebermonate, verblutete Adonis, und aus seinen Wunden erblüht das Adonisröschen: die Klage tönt um ihn in allen phönizischen Gatten, und das dem Mörder geweihte Tier ist dort überall ein Greuel. In Ägypten wird Osiris, der gute Gott, von seinem neidischen Bruder Typhon erschlagen: wann die Wachtel wiederkehrt und die Etesien gen Süden wehen, erwacht er. Es ist ein Überschuss des Lebens über den Tod, aber freilich auch ein Überschuss des Todes über das Leben da: die beiden ringen miteinander, und ihres Kämpfens, Siegens und Unterliegens ist kein Ende.

Jesu Tod transponiert diese alten Weisen in eine höhere Tonart, aus Moll in Dur, in ihm war seinerzeit eine Kraft erschienen, deren Äußerungen wenige waren, welche aber alles Vorhandene so weit überragte, dass die ihm nahe Gekommenen das Ende dieses Lebens nicht absahen. Erlosch es gleichwohl, so wollte es nur andern Welten leuchten, so erlag es nicht einer Naturnotwendigkeit, sondern gab sich aus ihm bekannten Gründen freiwillig dahin, so war sein Niedergang geplante Verhüllung eines höheren Aufgangs. Was ist denn wertvoll in der Geschichte? Die äußere Tatsache oder das Vermögen bald hier, bald, da zu wirken? Für den Geist sind es keine Fakta, dass am 15. März 44 Cäsar ermordet, am 1. September 1870 Napoleon III. geschlagen wurde: dem Geiste sind das Fakta, dass ehrliche Männer an die alte Herrlichkeit Roms glaubten, als sie nicht mehr zu sehen war, daß auch die reinsten Willen zu unreinen Waffen greifen können, und dass der beste Wille, wenn er dies tut, das schlechteste Ergebnis zutage fördert, dass er gerade das vollends in den prahlenden Tag des Erfolges heraufführen hilft, was zu vernichten er die Absicht hatte: das ist ihm ein Faktum, dass der Mensch, in Schuld und Sünde schuldlos geboren, von Kindestorheit zu Jünglingsirrtum vorgehend, aber in dem Glauben stark, dass neben der Schlange, welche die Natur ihm in die Wiege gelegt, auch das Angebinde guter Götter ihm beschert sei — als Ersatz für sein unerhörtes Missgeschick das Vermögen und die Aufgabe Großes zu werden und zu leisten - dass dieser Mensch tiefer und tiefer falle, wenn er den Mut nicht findet, er selbst zu sein, wenn er mit einem Weibe und einer herrschsüchtigen Soutane eine Verantwortung teilt, die nur ihm zusteht, und der er gewachsen ist, wenn er sie unbeirrt auf sich nimmt: daß er diesen Mut finden müsse, wenn er anderer Geschicke an seine Fersen geheftet hat, weil sonst diese andern alle mit ihm stürzen: dass er ein Verbrecher werden könne aus Schwäche. So ist auch bei Jesus nicht das Gespinst von Wert, welches die Phantasie über ihn geworfen, sondern die Tatsache, dass ein solches Gespinst ihn umweben konnte. Er war zu groß um sterben zu können: die Sonne verhüllte ihr strahlend Haupt, die Erde bebte, als die Menschen Hand an ihn legten, und für tausend Herzen und die ganze Frühlingslust der grämlichen, bekümmerten Welt, welche er erfreut, war er nicht tot, denn sein Werk war durch den Tod nur das empirische Faktum los, was die deutschen Realschüler und neumodischen Orthodoxen für das allein Wertvolle erachten, und konnte - die Tatsache des Geistes frei anerkennen und auswachsen lassen. Aus dem Kreuze der Sieg, im Tode das Leben, das Gute durch die -Niederlage nur übergeführt in eine herrschaftsfähigere Gestalt. Kind Gottes, hatte Jesus gesagt: sie verstanden Sohn Gottes. Kein Tod kann das Leben töten, hatte Jesus gesagt: sie sahen mit ihren scharfen Augensternen die Leiche des Mannes, und weil sie ihm glaubten, glauben mussten, da er es ihnen angetan, übertrugen sie seinen Satz in den andern: er wird auferstehen, ist auferstanden. Töricht genug, gewiss, aber sehr menschlich. Sind die Neugläubigen etwa klüger, wenn sie das angeblich geistige Gut, die himmlische Offenbarung „Jesus ist auferstanden von den Toten“ auf eine Linie mir dem Satze stellen: der Konsistorialrat Soundso wohnt in der Kurzen Straße Nummer 111? Jeder große Mann weckt in seiner Umgebung die Poesie: hätte Jesu Leben und hätte Jesu Tod die Poesie nicht geweckt, so wäre Jesu kein großer Mann gewesen ...

Aus: Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, In Auswahl herausgegeben und eingeleitet von Wilhelm Rössle, Eugen Diederichs Verlag Jena
(S.282-287, Die Religion der Zukunft)