Kritias aus Athen (? - 403 v. Chr.)
Athenischer Politiker und Philosoph aus altadligem Geschlecht, der Platos Oheim oder Vetter gewesen sein soll. Kritias stand den Sophisten nahe. Er hat eine umfangreiche und vielseitige schriftstellerische Tätigkeit in Poesie und Prosa entfaltet. Charakteristisch ist sein Fragment über den Ursprung der Religion, das aus seinem Drama »Sisyphos« stammt. Nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg 404 v. Chr. entpuppte er sich als der skrupelloseste und gewalttätigste Hauptführer innerhalb der Dreißig Tyrannen. Er fiel 403 v. Chr. im Kampf gegen die von Thrasybul geführten demokratischen Verbannten. Siehe auch Wikipedia |
Die Entstehung
der Religion
Es gab einmal eine Zeit, da war das Leben der Menschen jeder Ordnung bar, ähnlich
dem der Raubtiere, und es herrschte die rohe Gewalt. Damals wurden die Guten nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft. Und da scheinen mir die Menschen
sich Gesetze als Zuchtmeister gegeben zu haben, auf dass das Recht in gleicher
Weise über alle herrsche und den Frevel niederhalte. Wenn jemand ein Verbrechen
beging, so wurde er nun gestraft. Als so die Gesetze hinderten, dass man
offen Gewalttat verübte, und daher nur insgeheim gefrevelt wurde, da scheint
mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor
den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter
sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses töten oder
sagten oder dächten. — Er führte daher
den Gottesglauben ein:
Es gibt einen Gott, der ewig lebt, voll Kraft, der mit dem Geiste sieht
und hört und übermenschliche Einsicht hat; der hat eine göttliche Natur und achtet auf dies alles. Der
hört alles, was unter den Menschen gesprochen wird und alles, was sie tun,
kann er sehen. Und wenn du schweigend etwas Schlimmes sinnst, so bleibt es doch
den Göttern nicht verborgen. Denn sie besitzen eine übermenschliche Erkenntnis. — Mit solchen Reden führte er die schlauste aller Lehren
ein, indem er die Wahrheit mit trügerischem Worte verhüllte. Die Götter,
sagte er, sie wohnen dort, wo es die Menschen am meisten erschrecken musste,
von wo, wie er wusste, die Angst zu den Menschen herniederkommt wie auch
der Segen für ihr armseliges Leben: aus der Höhe da droben, wo er
die Blitze zucken sah und des Donners grauses Krachen hörte, da, wo des
Himmels gestirntes Gewölbe ist, das herrliche Kunstwerk der Zeit, der klugen
Künstlerin, von wo der strahlende Ball des Tagesgestirns seinen Weg nimmt
und feuchtes Nass zur Erde herniederströmt. Mit Ängsten solcher
Art schreckte er die Menschen und wies so passend und wohl bedacht der Gottheit
an geziemender Stätte ihren Wohnsitz an und tilgte den ungesetzlichen Sinn
durch die Gesetze.
Und kurz darauf setzt er noch hinzu:
So hat jemand [irgendein namentlich nicht bekannter Mensch], glaube ich, zuerst die Menschen glauben gemacht, dass es
ein Geschlecht von Göttern gibt. (Aus:
Sisyphos)
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 119, Die Vorsokratiker herausgegeben von Wilhelm Capelle
Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von Wilhelm
Capelle (S.378-379)
© 1968 by Alfred Kröner Verlag, Stuttgart Veröffentlichung auf
Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart