Sören Kierkegaard (1813 – 1855)
>>>Gott
»Selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir«
Dass es zwischen Gott und Menschen den unendlichen Qualitätsunterschied
gibt, das ist die Möglichkeit des Ärgernisses, die sich nicht wegnehmen
lässt. Aus Liebe wird Gott zum Menschen; er sagt: »Sieh hier, was
es ist, Mensch zu sein! Aber«, fügt er hinzu, »o nimm dich
in Acht, denn ich bin gleichzeitig Gott — selig ist, der nicht Ärgernis
nimmt an mir.« Er nimmt als Mensch die Gestalt eines geringen Dieners
an, er stellt sich dar als ein geringer Mensch, damit kein Mensch glauben solle,
er sei ausgeschlossen oder dass man Gott durch menschliches Ansehen und Ansehen
unter Menschen näher käme. Nein, er ist der geringe Mensch. »Schau
her«, sagt er, »und überzeuge dich, was es bedeutet, Mensch
zu sein! Oh, aber nimm dich in Acht, denn ich bin gleichzeitig Gott —
selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir. Oder umgekehrt: Der Vater und
ich sind eins, [vergl. Joh. 10,30] doch ich bin dieser einzelne, geringe Mensch,
arm, verlassen, in die Gewalt der Menschen gegeben — selig ist, der nicht
Ärgernis nimmt an mir. Ich, dieser geringe Mensch, bin derjenige, der bewirkt,
dass die Tauben hören, die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen
rein werden, die Toten aufstehen — selig ist, der sich nicht an mir ärgert.« [vergl. Matth. 11, 5-6]
Mit Verantwortung der höchsten Stelle gegenüber erkühne ich mich
daher zu sagen, dass dieses Wort: »Selig ist, der nicht Ärgernis
nimmt an mir«, zur Verkündigung Christi gehört, wenn auch nicht
auf dieselbe Weise wie die Einsetzungsworte des Abendmahls, so doch wie jenes
Wort: »Jeder prüfe sich selbst.« [Vergl. 1.Kor. 11.28] Es sind
Christi eigene Worte, sie sind, und zwar besonders in der Christenheit, wieder
und wieder einzuschärfen, zu wiederholen, jedem gesondert zu sagen.
Und das ist nun in der Christenheit fast überall
der Fall, die, wie es scheint, entweder vollkommen ignoriert, dass Christus
selbst so häufig, so innig vor dem Ärgernis gewarnt hat — noch
gegen Ende seines Lebens sogar seine treuen Apostel, die ihm von Anfang an gefolgt
waren und seinetwegen alles verlassen hatten — oder es schweigend wohl
gar für eine Art überspannter Ängstlichkeit Christi hält,
weil Tausende und die Erfahrung von Tausenden beweisen, dass man den Glauben
an Christus haben kann, ohne das Geringste von der Möglichkeit des Ärgernisses
bemerkt zu haben. Dies dürfte jedoch ein Irrtum sein, der schon offenbar
werden soll, wenn diese Möglichkeit über die Christenheit richten
wird.
Überall, wo diese Worte nicht mitklingen, oder in jedem Fall,
wo die Darstellung des Christlichen nicht an jedem Punkt von diesem Gedanken
durchdrungen ist, da ist das Christentum Blasphemie. Denn ohne Leibwache und
ohne Bedienstete, die ihm den Weg bereiten und die Menschen darauf aufmerksam
machen konnten, wer da nahte, ging Christus hier auf Erden in der geringen Gestalt
eines Dieners. Aber die Möglichkeit des Ärgernisses (oh, wie sie in
seiner Liebe seine Sorge war!) schützte und schützt ihn, befestigt
einen klaffenden Abgrund zwischen ihm und jenem, der ihm am nächsten war
und ihm am nächsten stand.
Wer nämlich nicht Ärgernis nimmt, der betet gläubig an. Doch anbeten, was Ausdruck des Glaubens ist, heißt ausdrücken,
dass der unendlich klaffende Abgrund der Qualität zwischen ihnen befestigt
ist. Denn im Glauben ist wiederum die Möglichkeit des Ärgernisses
das dialektische Moment.
Hier eine kleine Aufgabe für Beobachter: Gesetzt
den Fall, all die vielen Pfarrer hier und in Ausland, die Predigten halten und
schreiben, sind gläubige Christen, wie ist es dann zu erklären, dass
man niemals jenes Gebet hört oder liest, das vor allem in unseren Zeiten
so nahe liegend wäre: »Gott im Himmel, ich danke dir, dass du von
keinem Menschen veelangt hast, er solle das Christentum begreifen; denn würde
das verlangt, dann wäre ich der Erbärmlichste von allen. Je mehr ich
es zu begreifen suche, umso unbegreiflicher kommt es mir vor, umso mehr entdecke
ich nur die Möglichkeit des Ärgernisses. Deshalb danke ich dir, dass
du allein den Glauben verlangst, und ich bitte dich, dass du mich weiterhin
in ihm stärkst.« Dieses Gebet wäre im orthodoxen Sinn völlig
korrekt, und gesetzt den Fall, dass der Betende damit die Wahrheit sagte, wäre
es gleichzeitig eine korrekte Ironisierung der gesamten Spekulation. Doch meinst
du, dass es auch werde Glauben finden auf Erden?
Doch jene Art von Ärgernis, von der hier die Rede ist im modo
ponendo, sie erklärt das Christentum für Unwahrheit und Lüge
und sagt damit dasselbe auch über Christus.
Um diese Art des Ärgernisses zu beleuchten, wird es an besten sein, die
verschiedenen Formen von Ärgernis durchzugehen, welches sich prinzipiell
zum Paradox (Christus; verhält und solcherart bei jeder Bestimmung des
Christlichen wiederkehrt, weil eine jede solche sich zu Christus verhält,
Christus in mente hat.
Die niedrigste Form von Ärgernis, die, menschlich gesprochen, unschuldigste,
besteht darin, die ganze Frage nach Christus dahingestellt sein zu lassen und
so zu urteilen: »Ich erlaube mir kein Urteil darüber; ich glaube
nicht, doch ich verurteile nichts.« Dass dies eine Form von Ärgernis
ist, entgeht den meisten. Die Sache ist die, dass man dieses Christliche »Du
sollst« reinweg vergessen hat. Das ist der Grund, weshalb man nicht sieht,
dass es Ärgernis ist, Christus in Indifferenz zu stellen. Dass dir das
Christentum verkündet ist, bedeutet: Du sollst eine Meinung über Christus
haben; Er ist, oder dass es Ihn gibt und dass es Ihn gegeben hat — das
ist die Entscheidung über das ganze Dasein. Ist dir Christus verkündet,
dann nimmst du Ärgernis, wenn du sagst: Ich will keine Meinung darüber
haben.
Das ist in Zeiten, in denen das Christentum so mäßig verkündet
wird, wie es jetzt der Fall ist, jedoch mit einer gewissen Einschränkung
zu verstehen. Gewiss leben viele Tausende, die das Christentum verkünden
gehört und die nie etwas von diesem »Du sollst« gehört
haben. Wer es aber gehört hat und dann sagt: »Ich will keine Meinung
darüber haben«, der hat Ärgernis genommen. Er leugnet nämlich
die Göttlichkeit Christi, ihr Recht, von einem Menschen zu verlangen, dass
er eine Meinung zu haben hat. Es hilft nichts, wenn ein solcher Mensch sagt:
»Ich mache ja keine Aussage über Christus, weder ja noch nein«,
dann wird er nämlich nur gefragt: »Hast du denn auch keine Meinung
darüber, inwieweit du eine Meinung über Ihn haben sollst oder nicht?«
Antwortet er darauf: «Doch«, dann fängt er sich selbst; und
antwortet er: »Nein«, dann verurteilt ihn das Christentum trotzdem
dazu, eine Meinung darüber und also wiederum über Christus zu haben,
auf dass kein Mensch so vermessen sei, das Leben Christi als eine Kuriosität
dahingestellt sein zu lassen. Wenn Gott sich gebären lässt und Mensch
wird, dann ist das kein sinnloser Einfall, etwas, worauf er verfällt, um
sich etwas vorzunehmen, vielleicht um jener Langenweile ein Ende zu machen,
die, wie man frech gesagt hat, mit dem Gottsein verbunden sein soll —
er tut es nicht, um Abenteuer zu erleben. Nein, wenn Gott das tut, dann ist
dieses Faktum der Ernst des Daseins. Und das wiederum ist der Ernst in jenem
Ernst: dass jeder eine Meinung darüber haben soll. Wenn ein König
eine Provinzstadt besucht, dann sieht er es als eine Beleidigung an, dass ein
Beamter ohne gültige Entschuldigung unterlässt, ihm seine Aufwartung
zu machen; wie aber würde er urteilen, wenn jemand das Faktum, dass der
König in der Stadt ist, ganz und gar ignoriert und den Privatmann spielt,
der in dieser Hinsicht «auf Seine Majestät und das Königsgesetz
pfeift«? Und so auch, wenn es Gott gefällt, Mensch zu werden —
und es dann einem Menschen gefällt (und was der Beamte vor dem König,
das ist jeder Mensch vor Gott) zu sagen: «Ja, das ist etwas, worüber
ich keine Meinung haben möcht« So spricht man vornehm über etwas,
was man im Grunde übersieht —also übersieht man vornehm Gott.
Die nächste Form von Ärgernis ist die negative, jedoch leidende. Sie
spürt wohl, dass sie Christus nicht zu ignorieren vermag, dass sie nicht
imstande ist, die Frage nach Christus dahingestellt sein zu lassen und dann
ansonsten im Leben überaus geschäftig zu sein. Doch glauben kann sie
auch nicht; sie starrt unablässig auf ein und denselben Punkt, auf das
Paradox. Insofern ehrt sie doch das Christentum, sie bringt zum Ausdruck, dass
diese Frage »Was dünkt dich um Christus?« wirklich die entscheidendste
ist. Wer so verärgert ist, lebt wie ein Schatten dahin; sein Leben verzehrt
sich, denn er ist in seinem Innersten fortwährend mit dieser Entscheidung
beschäftigt. Und auf solche Art drückt er aus (wie das Leiden unglücklicher
Liebe im Verhältnis zur Liebe), welche Realität das Christentum hat.
Die letzte Form von Ärgernis ist jene, von der wir hier sprechen, die positive.
Sie erklärt das Christentum für Unwahrheit und Lüge, sie leugnet
Christus (dass es ihn gegeben hat und dass er derjenige ist, der er gesagt hat
zu sein) entweder doketisch*
*doketisch: wie die Anhänger der Sekte des Doketismus,
die alles Körperliche an Christus für Schein und sein irdisches Leben
und Sterben für eine Täuschung hielten.
oder rationalistisch, so dass Christus entweder nicht, sondern nur scheinbar
ein einzelner Mensch oder aber nur ein einzelner Mensch wird, so dass er sich
entweder doketisch in Poesie, Mythologie verwandelt, die keinen Anspruch auf
die Wirklichkeit erhebt, oder rationalistisch in eine Wirklichkeit, die keinen
Anspruch darauf erhebt, göttlich zu sein. In diesem Leugnen Christi als
Paradox liegt natürlich wieder ein Leugnen all des Christlichen: die Sünde,
die Vergebung der Sünden usw.
Diese Form von Ärgernis ist Sünde gegen den Heiligen Geist. Wie die
Juden von Christus sagten, dass er die Teufel nicht anders denn durch Beelzebub
austreibe, so macht dieses Ärgernis Christus zu einer Erfindung des Teufels.
Ein solches Ärgernis ist die höchste Potenzierung der Sünde,
was zumeist übersehen wird, weil man nicht, christlich, den Gegensatz zwischen
Sünde — Glauben bildet.
Aus: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode
Aufs dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Gisela
Perlet, Nachwort von Uta Eichler
Reclams Universalbibliothek Nr. 9634 (S. 146-150)
© 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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