Karl (Károly) Kerényi (1897 – 1973)
Ungarisch-jüdischer klassischer Philologe und Religionswissenschaftler; der Professor in Fünfkirchen und Szeged war und seit 1943 bis zu seinem Tode in der Schweiz lebte. Siehe auch Wikipedia |
Antworten der
Griechen
Der große jüdische Denker und Bibelübersetzer Franz
Rosenzweig sagte: »Wir wissen von Gott nichts;
aber das ist ein Nichtwissen von Gott.« Damit gab er die äußerste
Situation an, in die jüdisches, christliches und nachchristliches positives
Verhalten zu »Gott«
— ich bitte meine Leser, daran zu denken, daß ich dieses
Wort in Anführungszeichen setze — in der negativen
Richtung gelangen kann. Selbst eine negative Theologie
bleibt, ja sie bleibt sogar auf eine reinere, beachtenswertere und die
Untersuchung (die jetzt nicht unsere Aufgabe ist) mehr
herausfordernde Weise im Bannkreis »Gottes«
als jede positive Theologie. Nicht anders verhält es sich, wenn die negative
Richtung über diese Grenzsituation hinausgeht und zu einem negativen
Verhalten zu »Gott«
führt: zur Leugnung, Bekämpfung oder auch nur Nichtbeachtung, die
— von Rosenzweigs Gesichtspunkt aus —
immer noch »Gottes« Nichtbeachtung
wäre.
Der Atheismus verhält sich in seinen heute historisch faßbaren zwei
Formen nicht zu »Gott«, von dem nichts
zu wissen ist und von dem eine negative Theologie an der
Grenze der jüdisch-christlichen Entwicklung spricht oder eine
entsprechende Mystik
schweigt, sondern zu einem
Gottesbild, das auf dieser Entwicklungslinie weit
zurückliegt: zum »Gott«,
der sich nicht bloß in einer Theologie, sondern
in einer Theokratie, in Herrschaft und Gesetzgebung, als der Befehlende und
der Richtende, auswirkt.
Man sieht schon, daß kein Schritt der Orientierung auf dem Gebiet, das
wir betreten, möglich ist ohne die Verwendung von Ableitungen des griechischen
Wortes theós — wie Theologie.
Theokratie, Atheismus.
Und wir betreten diesen Boden von der heutigen Situation aus. Zu ihr gehört
das Vordringen jener zwei Formen des Atheismus, die doch im Bannkreis des geleugneten,
bekämpften und auf eine indirekte Weise sehr beachteten »Gottes«
verbleiben, an ihn wie angenagelt sind. Die eine Form ist der Existentialismus
Sartrescher Prägung, die andere der Marxismus. Wie verschieden auch sonst,
gerade in diesem Zug sind sie miteinander verwandt, den wir besonders vergegenwärtigen
müssen, ehe wir uns der Frage zuwenden: Wer ist das
eigentlich: »Gott« — auf griechisch?
Sartre hielt seinen Existentialismus für einen Humanismus geradezu
auf Grund einer Art negativer Theologie. Der Existentialismus
sei nichts anderes, sagt er in seiner Schrift »Ist
der Existentialismus ein Humanismus?«, »als eine Bemühung,
alle Folgerungen aus einer zusammenhängenden atheistischen Einstellung
zu ziehen«. Darum sei der Existentialismus ein Humanismus,
weil er den Menschen daran erinnert, daß es außer ihm keinen Gesetzgeber
gibt und daß er in seiner Verlassenheit über sich selbst entscheidet.
Seine These setzt mit der Verlassenheit des Menschen »Gott«
in einer negativen Weise voraus, ja gründet auf ihm
oder genauer: auf einer theokratischen Vorstellung von »Gott«.
Dasselbe ist aber auch von dem in der Praxis durchaus absolutistisch auftretenden
Marxismus zu sagen, zu dem der Anspruch des gesetzgebenden und dem Gesetz unbedingte
Unterwürfigkeit fordernden »Gottes«
als historische Voraussetzung gehört: ein theokratisches Denken in säkularisierter
Form. Es ist besonders befremdend, daß ein Schriftsteller mit psychologischen
Einsichten wie Sartre überhaupt nur solch einen »Gott«
sich vorzustellen vermochte und nicht in Erwägung zog, daß dieser
sein »Gott« war und blieb, auch nachdem
er ihm die Existenz versagte. Sein Verhalten zu ihm ist — wie das der
Marxisten auch — Rivalität, die den Atheismus aus diesem Grunde fordert.
So zeugen alle negativen Theologen (um
von den positiven nicht zu reden), ob sie glauben oder nicht glauben,
Mystiker oder Atheisten sind, von einer Begrenztheit des Denkens und
des Verhaltens — des positiven Verhaltens ebenso wie des negativen —,
die der Humanist und der Religionshistoriker durchbrechen müssen, wenn
sie sich einmal ernstlich und wissenschaftlich die Frage stellen wollen: Spricht
man vom jüdisch, christlich oder nachchristlich, gläubig oder ungläubig
gemeinten »Gott«, wenn man vom »Gott«
der Griechen spricht? Ist dann nicht auch das »Göttliche«,
das theîon,
was die griechischen Philosophen so gern für theós
sagen, nur eine Abschwächung des ebenso gemeinten »Gottes«?
Gibt es einen Ausweg aus diesem Bannkreis, wennschon unsere wissenschaftlich
orientierenden Ausdrücke wie Theologie, Theokratie
und Atheismus auf der ungeprüften Annahme beruhen,
theós sei dasselbe wie
»Gott«
in der jüdisch-christlichen und auch in der atheistischen Welt,
soweit diese im Eindringen und Durchdringen begriffen ist?
Der Ausweg kann nur mit Zweifeln an der Autorität des Wörterbuchs
gesucht werden. Das Wörterbuch bietet Gleichsetzungen:
theós
gleich »Gott«.
Dies mag als Arbeitshypothese dienen, zum vorläufigen Verständnis
der Texte, in denen das Wort vorkommt. Jeder griechische Text gehört in
den größeren Kontext der griechischen Welt. In dieser ist jedes griechische
Wort tönend und beweglich beheimatet, während es im einzelnen Text
unbeweglich, im Wörterbuch zu einem Fremden unter Fremden geworden ist.
Auch die Griechen lebten in einem religiöse und antireligiöse Menschen
zusammenfassenden Bannkreis in bezug auf ihre Götter. Deren bildhafte Erscheinung
in Literatur- und Kunstwerken macht die Mehrzahl theoí
viel faßbarer als die Einzahl theós
und daher auch die Übersetzung (»Götter«)
für uns, die wir »Götter«
überhaupt aus jener Literatur und Kunst kennenlernten, brauchbar, während
für die Einzahl die Frage offenbleibt, die noch schärfer als bis jetzt
gestellt werden muß: Wer oder was ist das eigentlich
— theós,
von dem die Wörterbücher behaupten, es sei »Gott«
auf griechisch?
Recht faßbar wird uns der Bannkreis, der hier das Denken und Verhalten
der Griechen begrenzte, durch eine historische Begebenheit. Dikaiarchos, ein
Admiral des fünften griechischen Herrschers von Ägypten mit dem Namen
Ptolemaios (203—181 v. Chr.), führte
einen Eroberungskrieg gegen die Kykladen unter Nichtachtung des von den Göttern
beschützten Völkerrechtes. Er bekannte sich zu seiner Feindschaft
gegen Götter und Menschen, indem er überall auf den eroberten Inseln
Altäre der asébeia, der »Götterverachtung«,
und der paranomía, der »Außergesetzlichkeit«,
errichtete. Das Wort átheos, das
im Griechischen nicht nur einen subjektiven Inhalt hat (Leugnung
der Götter), sondern viel häufiger noch einen objektiven
(Verlassenheit von den Göttern), wäre von ihm im ersten Sinn
zu sagen. Dikaiarchos gab sogar diesem Denken und
Verhalten einen kultischen Ausdruck.
Den Bannkreis des Kultes durchbrachen manchmal die Philosophen und setzten sich
einem Prozeß wegen asébeia
aus. Nicht alle taten dies, und ihr positives Verhalten zum Kult war
aufrichtig. Der Prozeß gegen Sokrates hatte eine erlogene Begründung.
Aristoteles ist unser Hauptzeuge dafür, wie einen großen und auch
für die christliche Welt entscheidenden Philosophen jener Bannkreis band
und daß er ungeachtet dieser Bindung einen Prozeß erhielt. Er führte
einen Kult für die areté ein, zu Ehren seines Freundes
Hermeias, der seine Tugendhaftigkeit — seine areté
— mit dem Tode auf dem Kreuz erwies. Aristoteles
wurde wegen asébeia
angeklagt. Doch selbst von Skeptikern und erklärten
átheoi ist nicht anzunehmen — zumal nach der historischen
Erfahrung mit den Atheisten von heute—, daß sie den weiteren Bannkreis
verlassen hätten, in dem theós seinen griechischen Sinn besaß.
Wir müssen immerhin von einem weiteren Kreis reden, als es der Bannkreis
des griechischen Kultes war, mindestens von einem so weiten wie die griechische
Welt. Es hat, in Anbetracht dessen, was ich von der Gebundenheit der Griechen
an den Kult sagte, der Umstand ein außerordentliches Gewicht, daß
theós kein im Kult gebrauchtes Wort ist. Ein sehr zuverlässiger
Kenner, der den ganzen griechischen Sprachbestand überblickte, machte die
einfache Feststellung, daß es in der altgriechischen Grammatik den Kasus
des Anruf; den Vokativ zu theós
nicht gibt. Erst im Spätgriechischen, bei jüdischen und christlichen
Schriftstellern taucht die Form, die Kult und Gebet erfordern, nämlich
der Vokativ, auf. Selbst der Nominativ theós
als Anrufung ist spät.
Der Linguist, dem wir diese Beobachtung verdanken, zog aus ihr keine Folgerungen
in bezug auf die griechische Religion und noch weniger in Hinblick darauf, was
denn theós sein mochte, wenn das Wort für den Kult unbrauchbar
war. Im Vokativ ruft man griechisch die göttlichen Eigennamen aus. Nur
diese kommen — jeweils einer oder mehrere von den »Göttern«
oder auch alle Götter in einem — für den Kult in Betracht,
theós wurde nur auf diesem Weg, dem Weg der Vertretung
durch die »Götter«, in den Bannkreis
des Kultes eingefangen. Sonst blieb er außerhalb und bedeutet, wenn auch
nicht eine Begrenzung des griechischen Denkens und Verhaltens, so doch eine
sehr bestimmte Anfangssituation für diese, von der — wiederum nach
unserer historischen Erfahrung in der jüdisch-christlichen und mit der
atheistischen Welt — anzunehmen ist, daß sie in der griechischen
Welt weiterwirkte.
Ein anderer Kenner des griechischen Sprachbestandes, ein großer Philologe,
machte die zweite wichtige sprachliche Feststellung:
theós ist ein Prädikatsbegriff. Es ist zwar
auf griechisch möglich — und das ist gerade nicht das Spezifisch-Griechische
—, auch von theós etwas auszusagen.
Beispielshalber, daß er agathós,
daß er gut ist. An der Stelle, wo das Wort
theología, in ähnlichem Sinne, wie wir von Theologie
reden in der griechischen Literatur zum ersten Mal fällt, in
Platons »Staat« (II 379a), wird
eben dies festgehalten, zutiefst vom Sprachgefühl der Dialogpartner, Sokrates
und Adeimantos, heraus: als Aussage von theós
kommt ihm, prädikativ, agathós
zu und nicht etwa kakós,
schlecht oder bös. Es scheint aber ursprünglich nichts von
theós ausgesagt worden zu sein, sondern theós
wurde von etwas ausgesagt. Dazu gehörte keine sprachliche Kühnheit.
Ja, dies ist das Spezifisch-Griechische: »Es ist theós!«
von einem Ereignis sagen. Ich wiederhole zwei Beispiele: das eine nach Wilamowitz,
das andere fügte ich in meinem Buch »Griechische
Grundbegriffe« hinzu. Beide Beispiele stammen aus Zeiten, da die
griechische Philosophie schon da war, doch keine der philosophischen Schulen
als eigene Errungenschaft machte sie möglich, sondern die griechische Sprache.
Helena ruft in der gleichnamigen Tragödie
des Euripides aus: »O
Götter! Denn es ist Gott, wenn man die Lieben erkennt.«
Das Ereignis des Erkennens der Lieben ist theós. Ein
anderes Beispiel ist uns lateinisch überliefert, bei Plinius dem Älteren,
der, wie ich glaube, den Komödiendichter Menander
übersetzt: Deus est mortali juvare mortalem — »Es
ist Gott dem Menschen, wenn man dem anderen hilft.« Beide Sätze
könnten als eine besonders feine und späte Sublimierung des Inhaltes
von theós erscheinen. Nicht der Inhalt, sondern die Form der
beiden läßt indessen erst begreifen, warum theós keinen Vokativ
haben kann: warum dies eine frühe, nicht erst eine später eingetretene
Eigentümlichkeit der griechischen Sprache ist. Ein göttliches Ereignis
wird wohl mit Ecce deus! Theós! —
im Nominativ begrüßt, aber nicht angeredet, im Vokativ.
Damit entkamen wir der autoritären Herrschaft des Wörterbuchs, in
dem theós gleich »Gott« ist. Es muß hinzugesetzt
werden: dynamisch und zeitlich, erst in der Mehrzahl als
unsterbliche, ewig dauernde, leicht lebende Wesen gemeint. Mit dem ecce
deus, wie theós
absolut gesetzt, als ein Satz für sich, lateinisch wiederzugeben ist, bricht
etwas ein, wofür die griechische Philosophie das abgeleitete Wort theîon,
das »Göttliche«, hat, doch nicht
ein »Göttliches«, was nur eine
Abschwächung »Gottes« wäre,
Es bricht das göttliche Ereignis ein: theós
geschieht, zeitlich, in dieser Welt und ist ganz in diesem Geschehen. Verwischen
wir die Sprachgrenze und damit die Grenze der verschiedenen Bannkreise, so heißt
der Satz: Gott geschieht. Ob man damit heute etwas anfangen kann? Meine Erfahrung
mit Theologen, aber auch mit anderen, in bezug auf den Satz, ist nicht, daß
er, Unmögliches enthaltend, von allen zurückgewiesen worden wäre!
Im Homerischen Sprachgebrauch ist theós nicht nur grammatisch,
als Wort in der Einzahl, die Voraussetzung der Götter in der Mehrzahl,
sondern ihre Voraussetzung überhaupt, wie eine vorausgehende breitere Stufe,
auf die jene — noch nicht ihre Statuen, sondern als Namen tragende Bilder
im Geiste — gleichsam aufgestellt wurden. Auf dem Wege vom Geschehen zum
Handelnden steht theós, als männliche
und nicht sachliche Wortform, wofür Spuren in der griechischen Sprache
vorhanden sind, ganz nah dem Nennen und Erscheinen, die in zwei verschiedenen
Sphären der Wahrnehmung, in der sprachlich festhaltenden und in der visionär
sinnlichen, das gleiche sind, Man lese zum Beispiel zwei Zeilen der Odyssee
(XIII 189/90): »Denn Gott umhüllte ihn mit Nebel« —
so heißt es in der ersten Zeile. Hier könnte
theós noch sowohl ein Gott als auch eine Göttin sein.
In der nächsten Zeile folgt der Name: »Pallas Athenaie« —
und bald auch die Erscheinung.
Die Götter in der Mehrzahl ließen die Anrede, das Gebet, die Anrufung
zu. Wird aber ihnen das Nennen im einzelnen oder das Erscheinen als Götterschar
oder das dichterische Bild ihres glückseligen Seins auf dem Olymp entzogen,
so fallen sie mit theós in ihrer Gesamtheit fast überein,
bilden seine ansprechbare Form, wie im angeführten Vers der euripideischen
»Helena«: »O Götter, denn Gott
ist es auch, wenn man die Lieben erkennt.« Man könnte sagen,
daß theós, nicht als Substanz, sondern als Geschehen, in der Gesamtheit
der Götter wie in einem jeden Einzelnen von ihnen immer wieder durchbricht,
doch in keinem einzigen in der Form des Geschehens so
theós-mäßig wie in Zeus. Er ist aber auch derjenige,
dessen Name für theoí die
»Götter«, wie gleichwertig verwendet
werden konnte: Homer tut es ungemein häufig.
Ziehen wir die Konsequenzen auch aus dieser letzten, statistischen Feststellung,
so müssen wir fragen, wer oder was denn Zeus, der
höchste Gott der griechischen Religion,
eigentlich war. Er ist jenes große Geschehen hinter den einzelnen Göttern,
aus dem die übrigen heraustraten. Wenn das Große geschieht, so heißt
es Zeus. Dieses, so ausgesprochen, steht in Übereinstimmung damit, was
in bezug auf theós klar wurde: wie theós geschah,
geschah Zeus. Walter F. Otto hatte bedeutsam gefunden, daß er, dem Namen
nach zu urteilen, auch ein Gott der Inder war als Dyaus-pita, der Germanen als
Ziu. Doch keineswegs war er da der »Gott der Götter«, um dieses
Wort von Hölderlin aufzugreifen, wie bei den Griechen: am meisten noch
bei den Römern als Juppiter. Diese kannten ihn auch als Diespiter.
Alle die genannten Namen haben etwas mit dem Licht
zu tun. Ihre Verwandtschaft mit dies, dem Tag, darf als sprachwissenschaftlich
erwiesen gelten. Zeus war, soweit er in der Geschichte erreichbar ist,
sicher mehr als das Tageslicht. Sein Name weist dennoch auf ein Ereignis wie
das Tageslicht.
Dieses »Fast wie das Tageslicht« oder
»Mehr als das Tageslicht« kann in seinem
Ereignischarakter sprachwissenschaftlich genau bestimmt werden. Zeus ist ein
männliches Sachwort, der Sache noch etwas näher als theós.
Unter seinen nächsten sprachlichen Verwandten befinden sich zwei Feminina:
dyau, Himmel, im Altindischen als Mutter und Göttin angesprochen,
und dies, Tag, im Lateinischen zwischen Femininum und Masculinum schwankend.
Das beweist die Priorität des sachlichen Inhaltes, auch in diesem Fall
eines Geschehens, vor dessen Auffassung als Akt eines Handelnden, ja als Handelnder.
Es ist wiederum ein exakter Linguist, der feststellte, der ursprüngliche
Inhalt des Namens müsse, nach seiner sprachlichen Beschaffenheit, das Aufleuchten
sein und erst nachher der Erleuchter. Es darf hinzugefügt werden:
das Aufleuchten nicht nur des Himmels und des Tages, sondern ein glückliches
Aufleuchten überhaupt.
In einem Satyrspiel des Aischylos, den »Diktyulkoi«, den »Netzfischern«,
schilderte der Dichter, wie man von der Küste der Insel Seriphos aus auf
der See eine Kiste beobachtete. Darin lag der kleine Heros Perseus mit seiner
Mutter. Als ein Fischer das Geschenk des Meeres aus der Ferne erblickte —
er vermutete einen Schatz in der Kiste —, rief er neben Poseidon, dem
Herrn des Meeres, noch einen Gott an: den »Zeus im Meere«. Denn
auf der See leuchtete es ihm auf. Es war ein konkretes göttliches Ereignis,
wie es sich herausstellte. Unkonkret ist aber ein Ereignis nie, auch von seinem
Inhalt abgesehen. Es darf vielmehr das Ur-konkrete
genannt werden, das Konkrete an sich,
von jedem Stofflichen abgelöst. Konkret ist das Aufleuchten — auch
das Aufleuchten in Gedanken. Das große Geschehen, das Zeus heißt,
ist das Aufleuchten ohne Unterscheidung, was es immer auch sei: das große
Geschenk für die Menschen, die dafür offen sind. Es ist die göttliche
Epiphanie vor dem ausgeführten Mythos, der ausgeführten Offenbarung
oder wie man das Ausgeführte nennen will.
Das Erscheinen einer nicht ausgeführten, noch nicht einmal bildhaften Offenbarung
in der Welt: das ist theós, ist das theîon der
griechischen Philosophen. Es ist nicht nur auf unberechenbare Weise da, sondern
wenn es in seiner Eigenschaft als theîon erkannt wird, leuchtet
es überall — durch alles und in allem. Es leuchtet in Jahreszeiten
und Mondphasen, und es leuchtet in allen Lebensaltern und Lebensbereichen. Es
geschieht, wenn ein Kind geboren wird. Das Aufleuchten
eines neuen Wesens ist wie das Aufleuchten der Sonne: es ist das göttliche
Kind, in ein gemeinsames Bild eingehendes Aufleuchten der Sonne, der
Menschen und der Götter, die geboren werden — wie Zeus und Apollon,
wie Hermes, Dionysos und Christus. Es leuchtet auf — ein in ein anderes
Bild eingehendes Aufleuchten, aber immer ein Aufleuchten — im kleinen
Mädchen, in der Jungfrau und im Jüngling. Im männlichen Leben
leuchtet es auf und in der Weisheit des Alters. Es leuchtet in besondere Bilder
eingehend als eine besondere Gottheit auf. Wo es ur-anfänglich
aufleuchtet, bei der Geburt, können es noch alle Götter sein: alle
männlichen, weil bei der Geburt das Weiblich-Göttliche
das Gebärende ist. Aber im kleinen Mädchen ist Artemis ausgeleuchtet,
im Jüngling Apollon und in den Männern und den reifen Frauen —
da leuchtet wieder verschiedenes auf, das über diese Betrachtung hinausgeht.
Das große Aufleuchten wird aber, wenn es Zeus heißt, auch als Vater
angesprochen: Zeu pater! Er ist
der Vater der Götter und Menschen. Im Namen Juppiter ist der Vater auch
angeredet. Daß »Gott Vater«,
der von Sartre und den Marxisten mit Rivalenhaß
bekämpfte, da unbedenklich eingesetzt werden könnte, dafür sind
die Unterschiede zwischen Zeus, dem Vater, und jedem befehlenden, fordernden,
Gesetze gebenden Vater allzu groß. Vater Zeus war anders Vater. Zu Zeus
gehört Hera als Gattin, gehören die Göttinnen
und Heroinen, die er mit seinem hochzeitlichen Besuch auszeichnete und mit denen
er Götter und Heroen zeugte, wie Dionysos und
Herakles. Dieser zeugende Vater ist ein anderer als der befehlende Vater, dessen
Züge »Gott« im Alten Testament
trägt, oder der Vater, den Jesus als seinen
und als »unseren« Vater ansprach. Zeus
ist Vater in seinem Geschehen, im jeweiligen Ereignis geworden, wie die Zeugung
eines göttlichen Wesens es ist: eines besonderen und sogar unter den Menschen
so erscheinenden Wesens, als wäre es theós.
Zeus befiehlt nicht und kommt nicht in Widerspruch mit sich selbst, daß
er Böses zuläßt. Sein nous,
sein alles spiegelnder Geist, die Erweiterung des Aufleuchtens über den
Augenblick hinaus, sieht es nur voraus. Er ist aber nicht einmal allmächtig.
Die Macht des Zeus wird durch
die Grenzen des Menschen selbst beschränkt: durch das, was der Anteil eines
jeden Sterblichen am Leben ist. Anteil heißt auf griechisch Moira;
sie ist die Göttin, die in jedem menschlichen Leben geschieht, und sie
steht über Zeus, der kein Leben über
seine gegebenen Grenzen hinaus verlängern kann. Moira besagt den jedem
zugeteilten Bereich, samt seiner Grenze. Dem Menschen kommt nie das Ganze, nur
ein Leben, in diesem Leben aber Teilnahme auch an verschiedenen Bereichen zu:
dem Philosophen am apollinischen, aber auch an den Bereichen, die von jedem
Bürger nach dem eigenen Lebensalter und dem Festkalender seiner Stadt betreten
werden. Alle Bereiche des Lebens waren zugleich Erscheinungsformen von Göttern.
Jeder Gott war der Ursprung eines Bereiches, der von ihm aus aufleuchtete, wenn
er in seiner Besonderheit erkannt wurde. Diese Erkenntnisse, durch die Erfahrungen
von Jahrhunderten, ergaben — realisiert in Statuen, verehrt in Tempeln
und heiligen Bezirken — die Götter Griechenlands.
Sie ergaben ihrerseits eine einleuchtende Ordnung, deren Aufleuchten in ihrer
— wenn man will: auch nur scheinbaren — Notwendigkeit Zeus war.
Die Ordnung war auch durch Gesetze geschützt. Diese Gesetze gab Zeus nicht.
Diejenigen, welche die das Leben fördernde Regel der Natur darstellten,
behütete er nicht einmal: dies war die Sache von großen Göttinnen.
Er kam bezeichnenderweise dort auf, wo die Gesetze hart waren, wie sie unumgänglich
sein mußten, um den Menschen Einsicht einzuflößen, daß
das Menschenmögliche, nicht nur das Leben, seine Grenzen hat. Oder besser
umgekehrt zu sagen: die klare Einsicht in die condition
humaine, die Situation des Menschen im Weltall, dieses Aufleuchten,
ließ jene Grenzen hart erscheinen und Zeus als den Gewalthaber, wo das
Aufleuchten solche Gewalt besaß.
Im »Gefesselten Prometheus« des Aischylos
steht der Satz, der von dieser Einsicht aus die Welt beleuchtet, die
Zeus beherrscht. Er wird in den Mund eines der rohen Schergen des Zeus
gegeben, die Prometheus
anketten und -nageln, die Macht und Gewalt verkörpern, und lautet: »Frei
ist ja niemand — außer Zeus!« Eine schwerwiegende Aussage,
der in der lebendigen Zeusreligion (denn als solche muß
die griechische Religion bestimmt werden) dennoch nicht die Versklavung
des Menschen überhaupt oder auch nur seine absolute Unterwürfigkeit
entspricht.
Zeus allein ist frei — und daher ist er der Ursprung
und die Quelle der Freiheit. Seinen Bereich bildeten die freien Städte
und Länder der Griechen, in der Ausübung ihrer staatlichen Freiheit.
Ihm gaben sie den Beinamen Eleuthérios
mit bewußter Verbindung der eleuthería,
der Freiheit, die sie selbst genossen, mit dem Zeusnamen. Der Nachfolger des
Polykrates in Samos errichtete einen Altar dem Zeus
Eleuthérios, als er die Gewaltherrschaft auflöste. Nach dem
Sieg bei Plataiai, durch den die Griechen ihre Freiheit von den Persern retteten,
stifteten sie zum Dank dem Zeus Eleutherios einen
Kult mit Festspielen, die ta Eleuthería hießen. Die kolossalen
Zeustempel von Selinunt und Agrigent sind die Denkmäler der siegreich behaupteten
Freiheit der Kolonisten in Sizilien. Augustus erneuerte den Tempel des Juppiter
Libertas auf dem Aventin. Der Gott
hieß in Rom auch Juppiter Liber.
Der Name Juppiter Libertas — »Juppiter,
die Freiheit« — war die eindeutige römische Interpretation
des Zeus Eleutherios, den
Augustus im griechischen Text seiner Inschrift entsprechend nennt.
Zeus war, wie jedes Aufleuchten, das für den Menschen keine bloße
optische Erfahrung ist, sondern eine, die in ihm selbst vor sich geht, auch
das Geschehen der Freiheit. Aufleuchten im Geiste ist
Geschehen in Freiheit! Ihre Heraushebung aus dem
Augenblick in die ewige Dauer des Seins als Eigenschaft des Zeus lehrt
sehr Wichtiges. Sie zeugt davon, daß der Seinsgrund
und die Funktion des höchsten Gottes der Griechen, eines »Gottes
der Götter«, eben dies war: Ursprung
und Quelle der Freiheit zu sein. Sie bezeugt das
tiefste Vertrauen an die nie aufhörende Möglichkeit jenes Geschehens,
aber auch ein ebenso tief angelegtes Wissen um die Unberechenbarkeit seines
Eintreffens. Die Griechen besaßen solche Worte dafür wie
theós — oder Zeus.
Aus: Was ist das eigentlich – Gott? Herausgegeben
von Hans Jürgen Schulz (S.123-133) Dem Buch liegt eine Sendereihe des Süddeutschen
Rundfunks zugrunde
Einmalige Sonderausgabe . Veröffentlicht im Januar 1969 als Band 119 in
der Reihe »Die Bücher der Neunzehn« © 1969 by Kösel-Verlag
KG, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlags,
München