John Keats (1795 – 1821)

  Englischer Dichter, der zu den herausragendsten Lyrikern der englischen Romantik zählt. Seine in bildhafter und klangreicher Sprache verfassten Gedichte und Sonette sind aus seinem sinnlich ausdrucksstarken Einfühlungsvermögen in die Natur entstanden. Von hier aus fand er auch den Übergang in die antike Mythologie, die er u. a. in den Verserzählungen »Endymion« und »Hyperion« nacherlebte und neu gestaltete.

Siehe auch Wikipedia
 


Inhaltsverzeichnis
Gedichte und Sonette
Gott des Meridians - God of the meridian
Was lacht ich heut nacht? - Why did I laugh tonight?

Endymion (Verserzählung)
Über den Sinn der Welt (Briefe)


Gedichte und Sonette

Gott des Meridians
Dir Gott des Meridians
Und Gott von Ost und West
Folgt meine Seele ganz —
Meinen Leib hält die Erde fest.
Welch ehrfurchtsvolle Haltung,
Welch fürchterliche Spaltung,
Von der ein Abgrund bleibt,
In den Lebensangst uns treibt.
Ja, wenn die Seele so
Hoch übers Haupt entfloh,
Verfolgt man nur verwirrt,
Daß sie die Luft durchirrt,
Wird wie die Mutter wild,
Die hört, ihr Säugling brüllt
In eines Adlers Klauen —
Und ist nicht dieses Grauen
Schon Wahn? — Sehn läßt du mich,
Gott des Gesangs, was ich
Zu sehen kaum ertrag;
O gib, daß mich mein Tag
Zur heißen Leier, dir
Und Lebensweisheit führ.
Stimm mich Einsamen mild,
Laß nicht mehr angsterfüllt
Mich deine Schätze sehn!

S.32ff.
God of the meridian
God of the meridian,
And of the East and West,
To thee my soul is flown,
And my body is earthward pressed.
It is an awful mission,
A terrible division,
And leaves a gulf austere
To be filled with worldly fear.
Ay, when the soul is fled
In high above our head,
Affrighted do we gaze
After its airy maze,
As doth a mother wild,
When her young infant child
Is in an eagle‘s claws —
And is not this the cause
Of madness? — God of Song,
Thou bearest me along
Through sights I scarce can bear:
O let me, let me share
With the hot lyre and thee,
The staid Philosophy.
Temper my lonely hours,
And let me see thy bowers
More unalarmed!

Was lachte ich heut nacht?
Was lachte ich heut nacht? Niemand, der spricht:
Ein Gott, ein Dämon, der erwidern kann
Aus Himmel oder Hölle, regt sich nicht.
Dann rufe schnell mein Menschenherz ich an —
Herz! wir zwei sind hier traurig und allein;
Sag, weshalb lachte ich? O Sterbensschmerz!
O Dunkel! Dunkel! ewig klag ich ein,
Umsonst zu fragen Himmel, Hölle, Herz.
Was lachte ich? Des Daseins Ziel hat Macht,
Die meinen Geist ins höchste Glück versetzt;
Doch könnt ich scheiden diese Mitternacht
Und sehn, wie’s der Welt Wimpelputz zerfetzt.
Schönheit, Dichtung und Ruhm sind Großes schon,
Tod mehr — Tod ist des Lebens hoher Lohn.

S.120f.
Why did I laugh tonight?
Why did I laugh tonight? No voice will tell:
No God, no Demon of severe response,
Deigns to reply from Heaven or from Hell.
Then to my human heart I turn at once —
Heart! thou and I are here sad and alone;
Say, wherefore did I laugh! O mortal pain!
O Darkness! Darkness! ever must I moan,
To question Heaven and Hell and Heart in vain.
Why did I laugh? I know this being‘s lease
My fancy to its utmost blisses spreads;
Yet could I on this very midnight cease,
And the world‘s gaudy ensigns see in shreds.
Verse, Fame, and Beauty are intense indeed,
But Death intenser — Death is Life‘s high meed.

Endymion (Verserzählung)
[…] Es liegt eine Höhle
Jenseits des Raums, in dem in scheinbaren Grenzen
Die Seelen wandelnd ihre Existenzen
Erforschen, jenseits fernsten düstern Lüften.
Finstres Gebiet umgibt sie, wo in Grüften
Begrabnen Schmerz der Geist zwar sieht, doch nicht
Ein Stündchen weinend ausruht, denn schon sticht
Ein frischer Schmerz im Innern ihn nur mehr;
Und in dem Dunkel dort fliegt weit umher
Manch Giftpfeil; sie zum Heim sich auserkoren
Hat jedes Übel: der sei erst geboren,
Der nie durchreist hat diese Höllenglut.
Doch kaum wer spürte je, wie ruhig und gut
Der Schlaf in jener tiefen Höhle ist.
Dort bohrt die Angst nicht, kennt Glück keine Frist;
Stets schlagen Schmerz-Orkane an die Tür
Doch hinter ihr ist alles still und leer.
Schmerzhafte Böen rings, ist in ihr kein Schlag
Lauter zu hörn als im verschloßnen Sarg
Die Totenuhr dumpf pickt. Niemand tritt ein,
Der danach strebt: urplötzlich ist sie dein.
Erst wenn des Dulders Leid auch Flammen schlug,
Steht sie ihm frei: aus einem Urnenkrug,
Den schmelzend Eis speist, nimmt er eine Kelle —
Semele schmeckte nie solch reine Fülle
In mütterlicher Sehnsucht! Selger Dämmer!
Nachtparadies! wo Blässe erster Schimmer
Von Wohl ist; die Verschwiegenheit der Leeren
Beredtste Sprache; Hoffnungen verheeren;
Wo das weit hellste Auge jenes ist,
Welches traumloser Schlaf am längsten schließt.
O selges Geist-Heim! O seltsame Seele!
Vergönnt, in eigne Tiefen durch solch Höhle
Dich ganz zu retten. Heil dir, Karier dann!
Denn nie, seitdem dein Gram und Leid begann,
Sahst du dich so zufrieden: bittrer Streit
Trieb dich zur Höhle der Verschwiegenheit.
S.221f. […]

Briefe
An George und Georgiana Keats (14. Februar – 3. Mai 1819)
Über den Sinn der Welt
Die packendste Frage, die wir uns stellen können, lautet: Bis zu welchem Grad glücklich läßt sich die Menschheit durch die beharrlichen Bemühungen eines so selten aufscheinenden Sokrates machen? Ich kann mir solch Glück bis zum Extrem gesteigert vorstellen — doch worin endet es unweigerlich? Im Tod. Und wer kann sich in diesem Fall mit dem Tod abfinden. — Die ganzen Sorgen des Lebens, die man nun über eine Reihe von Jahren hinweg wegsteckt, würden sich dann aufstauen für die letzten Tage im Leben eines Wesens, das, anstatt den Tod zu begrüßen, diese Welt verließe wie Eva das Paradies.

Tatsächlich aber glaube ich auch gar nicht an diese Art von Vervollkommnung — die Natur der Welt wird sie genausowenig zulassen wie die Bewohner der Welt, die ihr entsprechen. Laßt die Fische im Winter das Eis von den Flüssen wegphilosophieren, und sie werden immerfort herumspielen in der lauen Wonne des Sommers. Denkt an die Pole und die Wüsten Afrikas, an Strudel und Vulkane — sie laßt die Menschen beseitigen, und ich werde sagen, daß sie vielleicht zu irdischem Glück gelangen. Der Punkt, bis zu dem der Mensch kommen kann, liegt auf gleicher Höhe mit einem Parallelzustand in der unbeseelten Natur und nicht höher. Nehmen wir beispielsweise an, eine Rose habe Empfindungen; sie blüht an einem schönen Morgen, amüsiert sich. Da aber kommt kalter Wind, heiße Sonne — sie kann ihnen nicht entgehn, kann diesen Plagen nichts entgegensetzen, sie gehören zur Welt wie die Rose selbst. Ebensowenig kann der Mensch allem zum Trotz glücklich sein — die weltlichen Elemente nagen doch an seiner Natur. —

Unter Irregeleiteten und Abergläubischen ist der übliche Beiname für diese Welt »ein Jammertal«, aus dem wir durch ein willkürliches Eingreifen Gottes erlöst und in den Himmel geführt würden. Welche begrenzte, kurzsichtige, beschränkte Vorstellung! Nennt die Welt, wenn ihr wollt, »das Tal der Seelenbildung« — dann werdet ihr auch den Sinn der Welt erkennen (ich spreche nun aufs Ehrfürchtigste von der menschlichen Natur, von der ich annehme, daß sie unsterblich ist, was ich wiederum voraussetze, um Euch einen Gedanken zu verdeutlichen, der mir einfiel zu ihr). Ich sage Seelenbildung, unterscheide also Seele und Intelligenz. Es mag Millionen von Intelligenzen oder auch Funken der Göttlichkeit geben — Seelen sind sie nicht, ehe sie nicht eine Identität erworben haben, ehe nicht jede persönlich sie selbst ist. Intelligenzen sind Atome erkennender Wahrnehmung — sie wissen und sehen und sind rein, kurz: sie sind Gott. Wie aber werden Seelen gebildet? Wie aber wird jenen Funken, die Gott sind, Identität verliehen werden, so daß jeder erst eine seiner individuellen Existenz entsprechende Glückseligkeit besitzt? Wie anders als durch das Medium einer Welt wie dieser? Ich möchte diese Frage gern ausführlich betrachten, weil ich hinter ihr ein besseres Heilssystem als die christliche Religion sehe — oder eher noch ein System der Geist-Schöpfung. Zustande kommt letztere durch drei bedeutsame Stoffe, die eine Reihe von Jahren aufeinander einwirken. Diese drei Stoffe sind die Intelligenz, das menschliche Herz, (zum Unterschied von Intelligenz oder Geist) und die Welt oder der Elementarraum, der geeignet ist für das richtige Wirken von Geist und Herz aufeinander, um die Seele oder die Intelligenz, die Identitätsvermögen besitzen soll, zu formen. Ich kann schwerlich ausdrücken, was ich nur undeutlich erkenne — und doch glaube ich es zu erkennen.

Damit Ihr klarer urteilen könnt, will ich es in eine möglichst einfache Form bringen: Nennen wir die Welt eine Schule, gegründet, um kleinen Kindern das Lesen beizubringen. Nennen wir das menschliche Herz die Fibel, die in dieser Schule benutzt wird, und nennen wir schließlich das Kind, das lesen kann, die Seele, gebildet durch jene Schule und ihre Fibel. Seht ihr nicht, wie notwendig eine Welt voller Leid und Bedrängnis ist, um eine Intelligenz zu schulen und zu einer Seele zu formen? Ein Ort, in dem das Herz fühlen und leiden muß auf tausenderlei Art! Und nicht bloß eine Fibel ist das Herz — es ist des Geistes Bibel, ist des Geistes Erfahrung, es ist die Brust, an der der Geist oder die Intelligenz seine Identität saugt. So verschiedenartig die Leben der Menschen sind, so verschiedenartig werden ihre Seelen, und so formt Gott individuelle Wesen, Seelen, Seelen mit Identität aus den Funken seines eigenen Seins. Dies erscheint mir die grobe Skizze eines Heilssystems, das unsere Vernunft und Menschenwürde nicht beleidigt. Ich bin überzeugt, daß so manche Schwierigkeiten, unter denen Christen sich abmühen, mit ihm verschwänden. Eine kommt mir auch sogleich in den Sinn: das Seelenheil der Kinder. In ihnen kehrt der Funke oder die Intelligenz zu Gott zurück — er hatte keine Zeit zu lernen oder verwandelt zu werden vom Herzen, dem Sitz der menschlichen Leidenschaften. —

So recht verallgemeinernd vermutet man, die christliche Lehre sei den alten persischen und griechischen Philosophen nachgeahmt worden. Weshalb sollten sie jene Einfachheit dem allgemeinen Verständnis nicht noch verständlicher gemacht haben, indem sie in der gleichen Weise Mittler und Charaktere einführten wie in der heidnischen Mythologie Abstraktionen personifiziert wurden?

Ich halte es ernstlich für wahrscheinlich, daß aus jenem System der Seelenbildung sämtliche faßbareren und persönlicheren Erlösungslehren hervorgingen, unter Zarathustriern, Christen und Hindus. Denn so wie ein Teil der menschlichen Gattung seinen gemeißelten Jupiter haben muß, so muß ein anderer Teil seinen faßbaren und mit Namen versehenen Mittler und Erlöser haben, seinen Christus, Oromanes oder Wischnu.

Sollte, was ich gesagt habe, nicht deutlich genug sein — und ich befürchte es fast — dann will ich Euch zum Ausgangspunkt meiner Gedankenreihe zurückführen: Ich glaube, ich begann damit, zu betrachten, wie der Mensch durch die Umstände geformt wird

— und was sind Umstände?

— was anderes als Prüfsteine für sein Herz?

— und was sind Prüfsteine?

— was anderes als Prüfungen seines Herzens?

— und was sind Prüfungen seines Herzens anderes als die Festiger und Umwandler seiner Natur?

— und was ist seine umgewandelte Natur anderes als seine Seele?

— und was war seine Seele, ehe sie auf die Welt kam und diesen Prüfungen, Umwandlungen und Vervollkommnungen ausgesetzt war?

Eine Intelligenz

ohne Identität

— und wie kann jene Identität geformt werden? Durch das Medium des Herzens —

und wie anders kann das Herz dieses Medium werden als in einer Welt der Umstände? […]
S.379ff.
Aus: John Keats, Werke und Briefe, Lyrik (Englisch/Deutsch) . Verserzählungen . Drama . Briefe
Ausgewählt und übertragen von Mirko Bonné unter Verwendung der Briefübersetzungen von Christa Schuenke. Nachwort von Hermann Fischer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9403 © 1995 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages