Immanuel Kant (1724 – 1804)
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Inhaltsverzeichnis
Peronifizierte Idee des guten
Prinzips
Gründung der Herrschaft
des guten Prinzips auf Erden
Die christliche Religion als natürliche
Religion
Personifizierte Idee des guten Prinzips
Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses und
zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit
(das vernünftige Weltwesen überhaupt)
in
ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit,
wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare
Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist. — Dieser allein Gott
wohlgefällige Mensch ,,ist in ihm von Ewigkeit her“;
die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes
Ding, sondern sein eingeborener Sohn; ,,das Wort
(das Werde!), durch welches alle anderen Dinge
sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist;“ (denn um seinet-,
d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt willen, so wie es seiner moralischen
Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht.) — ,,Er
ist der Abglanz seiner Herrlichkeit.“ — ,,In ihm hat Gott die Welt
geliebt“, und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen
können wir hoffen, ,,Kinder Gottes zu werden“
u. s. w.
Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i.
dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit uns zu erheben,
ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche
von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben kann.
Eben darum aber, weil wir von ihr nicht die Urheber sind, sondern sie in dem
Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche
Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können, kann man
besser sagen: daß jenes Urbild vorn Himmel zu uns herabgekommen
sei, daß es die Menschheit angenommen habe (denn es ist nicht ebensowohl
möglich sich vorzustellen, wie der von Natur böse
Mensch das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit
erhebe, als daß das letztere die Menschheit
(die für sich nicht böse ist) annehme
und sich zu ihr herablasse. Diese Vereinigung mit uns kann also als ein Stand
der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen werden,
wenn wir uns jenen göttlich gesinnten Menschen als Urbild für uns
so vorstellen, wie er, obzwar selbst heilig und als solcher zu keiner Erduldung
von Leiden verhaftet, diese gleichwohl im größten Maße übernimmt,
um das Weltbeste zu befördern; dagegen der Mensch, der nie von Schuld
frei ist, wenn er auch dieselbe Gesinnung angenommen hat die Leiden, die ihn,
auf welchem Wege es auch sei, treffen mögen, doch als von ihm verschuldet
ansehen kann, mithin sich der Vereinigung seiner Gesinnung mit einer solchen
Idee, obzwar sie ihm zum Urbilde dient, unwürdig halten muß.
Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit
(mithin einer moralischen Vollkommenheit, so wie sie an
einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich
ist) können wir uns nun nicht anders denken als unter der Idee eines
Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich
auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange
um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen
versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten
willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre.
— Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke
einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn
er sie mit Hindernissen ringend und unter den größtmöglichen
Anfechtungen dennoch überwindend sich vorstellt.
Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes
(sofern er vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenommen) kann
nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch
auch selig) zu werden; d. i. der, welcher sich einer solchen moralischen
Gesinnung bewußt ist, daß er glauben und
auf sich gegründetes Vertrauen setzen kann, er würde unter ähnlichen
Versuchungen und Leiden (so wie sie zum Probierstein jener Idee gemacht werden)
dem Urbilde der Menschheit unwandelbar anhängig und seinem Beispiele in
treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher Mensch und auch nur der allein
ist befugt, sich für denjenigen zu halten, der ein des göttlichen
Wohlgefallens nicht unwürdiger Gegenstand ist. S. 63-65
[...]
.
. . Gründung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden
Der
j ü d i s c h e Glaube ist seiner ursprünglichen
Einrichtung nach ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf
welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn
welche moralische Zusätze entweder damals schon oder auch in der Folge
ihm a n g e h ä n g t worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judentum
als einem solchen gehörig. Das letztere ist eigentlich gar keine
Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu
einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß
politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten: vielmehr s o l l
t e es ein bloß weltlicher Staat sein, sodaß, wenn dieser
etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der (wesentlich
zu ihm gehörige) Glaube übrig bliebe) ihn (bei Ankunft des Messias)
wohl einmal wiederherzustellen. Daß diese Staatsverfassung Theokratie
zur Grundlage hat (sichtbarlich eine Aristokratie der Priester oder Anführer,
die sich unmittelbar von Gott erteilter Instruktionen rühmten), mithin
der Name von Gott, der doch hier bloß als weltlicher Regent, der über
und an das Gewissen gar keinen Anspruch tut, verehrt wird, macht sie nicht zu
einer Religionsverfassung. Der Beweis, daß sie das letztere nicht hat
sein sollen, ist klar.
E r s t l i c h sind alle Gebote
von der Art, daß auch eine politische Verfassung darauf halten und sie
als Zwangsgesetze auferlegen kann, weil sie bloß äußere Handlungen
betreffen, und obzwar die zehn Gebote, auch ohne daß sie öffentlich
gegeben sein möchten, schon als ethische vor der Vernunft gelten, so sind
sie in jener Gesetzgebung gar nicht mit der Forderung an die m o r a l i s c
h e G e s i n n u n g in Befolgung derselben (worin nachher das Christentum
das Hauptwerk setzte) gegeben, sondern schlechterdings nur auf die äußere
Beobachtung gerichtet worden; welches auch daraus erhellt, daß:
z w e i t e n s alle Folgen aus
der Erfüllung oder Übertretung dieser Gebote, alle Belohnung oder
Bestrafung nur auf solche eingeschränkt werden, welche in dieser Welt jedermann
zugeteilt werden können, und selbst diese auch nicht einmal nach ethischen
Begriffen; indem beide auch die Nachkommenschaft, die an jenen Taten oder Untaten
keinen praktischen Anteil genommen, treffen sollten, welches in einer politischen
Verfassung allerdings wohl ein Klugheitsmittel sein kann, sich Folgsamkeit zu
verschaffen, in einer ethischen aber aller Billigkeit zuwider sein würde.
Da nun ohne Glauben an ein künftiges Leben gar keine Religion gedacht werden
kann, so enthält das Judentum als ein solches, in seiner Reinigkeit genommen,
gar keinen Religionsglauben. Dieses wird durch folgende Bemerkung noch mehr
bestärkt. Es ist nämlich kaum zu zweifeln, daß die Juden ebensowohl
wie andere, selbst die rohesten, Völker nicht auch einen
Glauben an ein künftiges Leben, mithin ihren Himmel und ihre Hölle
sollten gehabt haben; denn dieser Glaube dringt sich, kraft der allgemeinen
moralischen Anlage in der menschlichen Natur, jedermann von selbst auf.
Es ist also gewiß absichtlich geschehen, daß der Gesetzgeber dieses
Volkes, ob er gleich als Gott selbst vorgestellt wird, doch nicht die mindeste
Rücksicht auf das künftige Leben habe nehmen w o l le n, welches anzeigt,
daß er nur ein politisches, nicht ein ethisches gemeines Wesen habe gründen
wol len; in dem ersteren aber von Belohnungen und Strafen zu reden, die hier
im Leben nicht sichtbar werden können, wäre unter jener Voraussetzung
ein ganz inkonsequentes und unschickliches Verfahren gewesen. Ob nun gleich
auch nicht zu zweifeln ist, daß die Juden sich nicht in der Folge, ein
jeder für sich selbst, einen gewissen Religionsglauben werden gemacht haben,
der den Artikeln ihres statutarischen beigemengt war, so hat jener doch nie
ein zur Gesetzgebung des Judentums gehöriges Stück ausgemacht.
D r i t t e n s ist es soweit
gefehlt, daß das Judentum eine zum Zustande der allgemeinen Kirche gehörige
Epoche oder diese allgemeine Kirche wohl gar selbst zu seiner Zeit ausgemacht
habe, daß es vielmehr das ganze
menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft
ausschloß, als ein besonders vom Jehovah für
sich auserwähltes Volk, welches alle anderen
Völker anfeindete und dafür von jedem
angefeindet wurde. Hierbei
ist es auch nicht so hoch
anzuschlagen, daß dieses Volk sich einen einigen, durch
kein sichtbares Bild vorzustellenden Gott zum allgemeinen
Weltherrscher setzte. Denn man findet bei den meisten
anderen Völkern, daß ihre Glaubenslehre darauf gleichfalls hinausging
und sich nur durch die V er e h ru
n g gewisser jenem untergeordneten mächtigen Untergötter des Polytheismus
verdächtig machte. Denn ein Gott, der bloß
die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte moralische Gesinnung
erfordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen
Begriff wir zu einer Religion nötig haben. Diese würde noch
eher bei einem Glauben an viele solche mächtige unsichtbare Wesen stattfinden,
wenn ein Volk sich diese etwa so dächte, daß sie bei der Verschiedenheit
ihrer Departements doch alle darin übereinkämen, daß sie ihres
Wohlgefallens nur den würdigten, der mit ganzem Herzen der Tugend anhinge,
als wenn der Glaube nur einem einzigen Wesen gewidmet ist, das aber aus einem
mechanischen Kultus das Hauptwerk macht? S.139-141
[...]
Aus dem Judentum also — aber aus dem nicht mehr alt-väterlichen und
unvermengten, bloß auf eigene politische Verfassung (die
auch schon sehr zerrüttet war) gestellten, sondern aus dem schon
durch allmählich darin öffentlich gewordene moralische Lehren mit
einem Religionsglauben vermischten Judentum, in einem Zustande, wo diesem sonst
unwissenden Volke schon viel fremde (griechische) Weisheit zugekommen war, welche
vermutlich auch dazu beitrug, es durch Tugendbegriffe aufzuklären und bei
der drückenden Last ihres Satzungsglaubens zu Revolutionen zuzubereiten,
bei Gelegenheit der Verminderung der Macht der Priester, durch ihre Unterwerfung
unter die Oberherrschaft eines Volkes, das allen fremden Volksglauben mit Gleichgültigkeit
ansah, — aus einem solchen Judentum erhob sich nun plötzlich, obzwar
nicht unvorbereitet, das Christentum. Der Lehrer des Evangeliums kündigte
sich als einen vom Himmel gesandten, indem er zugleich als einer solchen Sendung
würdig den Fronglauben (an gottesdienstliche Tage,
Bekenntnisse und Gebräuche) für an sich nichtig, den moralischen
dagegen, der allein die Menschen heiligt, ,,wie ihr Vater
im Himmel heilig ist“, und durch den guten Lebenswandel seine Echtheit
beweist, für den alleinseligmachenden erklärte, nachdem er aber durch
Lehre und Leiden bis zum unverschuldeten und zugleich verdienstlichen Tode an
seiner Person ein dem Urbilde der allein Gott wohlgefälligen Menschheit
gemäßes Beispiel gegeben hatte, als zum Himmel, aus dem er gekommen
war, wieder zurückkehrend, vorgestellt wird, indem er seinen letzten Willen
(gleich als in einem Testamente) mündlich
zurückließ und, was die Kraft der Erinnerung an sein Verdienst, Lehre
und Beispiel betrifft, doch sagen konnte, ,,er (das Ideal
der Gott wohlgefälligen Menschheit) bleibe nichtsdestoweniger bei
seinen Lehrjüngern bis an der Welt Ende.“ — Dieser Lehre, die,
wenn es etwa um einen Geschichtsglauben wegen der
Abkunft und des vielleicht überirdischen Ranges seiner Person zu tun wäre,
wohl der Bestätigung durch Wunder bedurfte, die aber als bloß zum
moralischen seelenbessernden Glauben gehörig aller solcher Beweistümer
ihrer Wahrheit entbehren kann, werden in einem heiligen Buche noch Wunder und
Geheimnisse beigesellt, deren Bekanntmachung selbst wiederum ein Wunder ist
und einen Geschichtsglauben erfordert, der nicht anders als durch Gelehrsamkeit
sowohl beurkundet als auch der Bedeutung und dem Sinne nach gesichert werden
kann. S.142-144 [...]
Die christliche Religion als natürliche
Religion
Wenn wir nun einen Lehrer annehmen, von dem eine Geschichte (oder
wenigstens die allgemeine nicht gründlich zu bestreitende Meinung) sagt,
daß er eine reine, aller Welt faßliche (natürliche)
und eindringende Religion, deren Lehren als uns aufbehalten wir desfalls
selbst prüfen können, zuerst öffentlich und sogar zum Trotz eines
lästigen, zur moralischen Absicht nicht abzweckenden herrschenden Kirchenglaubens
(dessen Frondienst zum Beispiel jedes anderen, in der
Hauptsache bloß statutarischen Glaubens, dergleichen in der Welt zu derselben
Zeit allgemein war, dienen kann) vorgetragen habe; wenn wir finden, daß
er jene allgemeine Vernunftreligion zur obersten unnachläßlichen
Bedingung eines jeden Religionsglaubens gemacht habe und nun gewisse
Statuta hinzugefügt habe, welche Formen und Observanzen enthalten, die
zu Mitteln dienen sollen, eine auf jene Prinzipien zu gründende Kirche
zustande zu bringen: so kann man, unerachtet der Zufälligkeit und des Willkürlichen
seiner hierauf abzweckenden Anordnungen, der letzteren doch den Namen der wahren
allgemeinen Kirche, ihm selbst aber das Ansehen nicht streitig machen, die Menschen
zur Vereinigung in dieselbe berufen zu haben, ohne den Glauben mit neuen belästigenden
Anordnungen eben vermehren oder auch aus den von ihm zuerst getroffenen besondere
heilige und für sich selbst als Religionsstücke verpflichtende Handlungen
machen zu wollen.
Man kann nach dieser Beschreibung die Person nicht verfehlen, die zwar nicht
als Stifter der von allen Satzungen reinen, in
aller Menschen Herz geschriebenen Religion (denn
die ist nicht von willkürlichem Ursprunge), aber doch der ersten wahren
Kirche verehrt werden kann. — Zur Beglaubigung
dieser seiner Würde als göttlicher Sendung wollen wir einige seiner
Lehren als zweifelsfreie Urkunden einer Religion überhaupt anführen;
es mag mit der Geschichte stehen, wie es wolle (denn in
der Idee selbst liegt schon der hinreichende Grund zur Annahme), und
die freilich keine anderen als reine Vernunftlehren werden sein können;
denn diese sind es allein, die sich selbst beweisen, und auf denen also die
Beglaubigung der anderen vorzüglich beruhen muß.
Zuerst will er,
daß nicht die Beobachtung äußerer
bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur
die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen
könne (Matth. V, 20—48);
daß Sünde in Gedanken vor Gott der Tat gleich
geachtet werde (V. 28),
und überhaupt Heiligkeit das Ziel sei, wohin er streben
soll (V. 48);
daß z.B. im Herzen hassen soviel sei als töten
(V.22);
daß ein dem Nächsten zugefügtes Unrecht
nur durch Genugtuung an ihm selbst, nicht durch gottesdienstliche Handlungen
könne vergütet werden (V.24),
und im Punkte der Wahrhaftigkeit das bürgerliche
Erpressungsmittel*, der Eid, der Achtung für die Wahrheit selbst Abbruch
tue (V.34-37); -
*Es ist nicht wohl einzusehen, warum
dieses klare Verbot wider das auf bloßen Aberglauben, nicht auf Gewissenhaftigkeit
gegründete Zwangsmittel zum Bekenntnisse vor einem bürgerlichen Gerichtshofe
von Religionslehrern für so unbedeutend gehalten wird. Denn daß es
Aberglauben sei, auf dessen Wirkung man hier am meisten rechnet, ist daran zu
erkennen, daß von einem Menschen, dem man nicht zutraut, er werde in einer
feierlichen Aussage, auf deren Wahrheit die Entscheidung des Rechts der Menschen
(des Heiligsten), was in der Welt ist, beruht, die Wahrheit sagen, doch geglaubt
wird, er werde durch eine Formel dazu bewogen werden, die über jene Aussage
nichts weiter enthält, als daß er die göttlichen Strafen (denen
er ohnedem wegen einer solchen Lüge nicht entgehen kann) über sich
aufruft, gleich als ob es auf ihn ankomme, vor diesem höchsten Gericht
Rechenschaft zu geben oder nicht. — In der angeführten Schriftstelle
wird diese Art der Beteuerung als eine ungereimte Vermessenheit
vorgestellt, Dinge gleichsam durch Zauberworte wirklich zu machen, die doch
nicht in unserer Gewalt sind.— Aber man sieht wohl, daß der weise
Lehrer, der da sagt: daß, was über das Ja, Ja! Nein, Nein! als Beteuerung
der Wahrheit geht, vom Übel sei, die böse Folge vor Augen gehabt habe,
welche die Eide nach sich ziehen: daß nämlich die ihnen beigelegte
größere Wichtigkeit die gemeine Lüge beinahe erlaubt macht.
dass der natürliche, aber böse Hang des menschlichen
Herzens ganz umgekehrt werden solle; das süße Gefühl der Rache
in Duldsamkeit (V.39, 40) und
der Haß der Feinde in Wohltätigkeit
(V. 44) übergehen müsse.
So sagt er, sei er gemeint, dem jüdischen Gesetze völlig Genüge
zu tun (V. 17), wobei aber sichtbarlich nicht Schriftgelehrsamkeit,
sondern reine Vernunftreligion die Auslegerin desselben sein muß; denn
nach dem Buchstaben genommen, erlaubte es gerade das Gegenteil von diesem allem.
—
Er läßt überdem doch auch unter den
Benennungen der engen Pforte und des schmalen Weges die Mißdeutung
des Gesetzes nicht unbemerkt, welche sich die Menschen erlauben, um ihre wahre
moralische Pflicht vorbeizugehen und sich dafür durch Erfüllung der
Kirchenpflicht schadlos zu halten (VII, 13).*
*Die enge Pforte
und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels,
die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist
die Kirche. Nicht als ob es an ihr und ihren Satzun¬gen liege, daß
Menschen verloren werden, sondern daß das Gehen in dieselbe
und Bekenntnis ihrer Statute oder Celebrierung ihrer Gebrauche für die
Art genommen wird, durch die Gott eigentlich gedient sein will.
Von diesen reinen Gesinnungen fordert er gleichwohl, dass sie sich gegen Taten
beweisen sollen (V.16), und spricht dagegen denen
ihre hinterlistige Hoffnung ab, die den Mangel derselben durch Anrufung und
Hochpreisung des höchsten Gesetzgebers in der Person seines Gesandten zu
ersetzen und sich Gunst zu erschmeicheln meinen (V. 21).
Von diesen Werken will er, daß sie um des Beispiels willen zur Nachfolge
auch öffentlich geschehen sollen (V, 16) und
zwar in fröhlicher Gemütsstimmung, nicht als knechtisch abgedrungene
Handlungen (VI, 16), und daß so, von einem
kleinen Anfange der Mitteilung und Ausbreitung solcher Gesinnungen, als einem
Samenkorne in gutem Acker oder einem Ferment des Guten, sich die Religion durch
innere Kraft allmählich zu einem Reiche Gottes vermehren würde (XIII,
31, 32, 33). — Endlich faßt er alle Pflichten
1) in einer allgemeinen
Regel zusammen (welche sowohl das
innere als das äußere moralische Verhältnis der Menschen in
sich begreift), nämlich: tue deine Pflicht aus keiner anderen Triebfeder
als der unmittelbaren Wertschätzung derselben, d. i. liebe Gott (den Gesetzgeber
aller Pflichten) über alles,
2) einer besonderen
Regel, nämlich die das äußere
Verhältnis zu anderen Menschen als allgemeine Pflicht betrifft: liebe einen
jeden als dich selbst, d. i. befördere ihr Wohl aus unmittelbarem, nicht
von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem Wohlwollen; welche Gebote nicht
bloß Tugendgesetze, sondern Vorschriften der Heiligkeit
sind, der wir nachstreben sollen, in Ansehung deren aber die bloße
Nachstrebung Tugend heißt. — Denen
also, die dieses moralische Gute mit der Hand im Schoße als eine himmlische
Gabe von oben herab ganz passiv zu erwarten meinen, spricht er alle Hoffnung
dazu ab. Wer die natürliche Anlage zum Guten, die in der menschlichen Natur
(als ein ihm anvertrautes Pfund) liegt, unbenutzt
läßt, im faulen Vertrauen, ein höherer moralischer Einfluß
werde wohl die ihm mangelnde sittliche Beschaffenheit und Vollkommenheit sonst
ergänzen, dem droht er an, dass selbst das Gute, was er aus natürlicher
Anlage möchte getan haben, um dieser Verabsäumung willen ihm nicht
zu statten kommen solle (XXV, 29).
Was nun die dem Menschen sehr natürliche Erwartung eines dem sittlichen
Verhalten des Menschen angemessenen Loses in Ansehung der Glückseligkeit
betrifft, vornehmlich bei so manchen Aufopferungen der letzteren, die des ersteren
wegen haben übernommen werden müssen, so verheißt er (V,
11. 12) dafür Belohnung einer künftigen Welt; aber nach Verschiedenheit
der Gesinnungen bei diesem Verhalten, denen, die ihre Pflicht um der Belohnung
(oder auch Lossprechung von einer verschuldeten Strafe)
willen taten, auf andere Art als den besseren
Menschen, die sie bloß um ihrer selbst willen ausübten. Der, welchen
der Eigennutz, der Gott dieser Welt, beherrscht, wird, wenn er, ohne sich von
ihm loszusagen, ihn nur durch Vernunft verfeinert und über die enge Grenze
des Gegenwärtigen ausdehnt, als ein solcher (Luc.
XVI, 3—9) vorgestellt, der jenen seinen Herrn durch sich selbst
betrügt und ihm Aufopferungen zum Behuf der Pflicht abgewinnt. Denn, wenn
er es in Gedanken faßt, daß er doch einmal, vielleicht bald, die
Welt werde verlassen müssen, dass er von dem, was er hier besaß,
in die andere nichts mitnehmen könne, so entschließt er sich wohl
, das, was er oder sein Herr, der Eigennutz, hier an dürftigem Menschen
gesetzmäßig zu fordern hatte, von seiner Rechnung abzuschreiben und
sich gleichsam dafür Anweisungen, zahlbar in einer anderen Welt, anzuschaffen;
wodurch er zwar mehr klüglich als sittlich,
was die Triebfeder solcher wohltätigen Handlungen
betrifft, aber doch dem sittlichen Gesetze, wenigstens dem Buchstaben nach,
gemäß verfährt, und hoffen darf, daß auch dieses ihm in
der Zukunft nicht unvergolten bleiben dürfe. Wenn man hiermit vergleicht,
was, von der Wohltätigkeit an Dürftigen aus bloßen Bewegungsgründen
der Pflicht (Matth. XXV, 35—40) gesagt wird,
da der Weltrichter diejenigen, welche den Notleidenden Hilfe leisteten, ohne
sich auch nur in Gedanken kommen zu lassen, daß
so etwas noch einer Belohnung wert sei und sie etwa dadurch gleichsam den Himmel
zur Belohnung verbänden, gerade eben darum, weil sie es ohne Rücksicht
auf Belohnung taten, für die eigentlichen Auserwählten zu seinem
Reich erklärt: so sieht man wohl, daß der Lehrer des Evangeliums,
wenn er von der Belohnung in der künftigen Welt spricht, sie dadurch nicht
zur Triebfeder der Handlungen, sondern nur (als seelenerhebende
Vorstellung der Vollendung der göttlichen Güte und Weisheit in Führung
des menschlichen Geschlechts) zum Objekt der reinsten Verehrung und des
größten moralischen Wohlgefallens für eine die Bestimmung des
Menschen im ganzen beurteilende Vernunft habe machen wollen.
Hier ist nun eine vollständige Religion, die allen
Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt
werden kann, die über das an einem Beispiele, dessen Möglichkeit
und sogar Notwendigkeit, für uns Urbild der Nachfolge zu sein (soviel Menschen
dessen fähig sind), anschaulich gemacht worden, ohne daß weder die
Wahrheit jener Lehren noch das Ansehen und die Würde des Lehrers irgend
einer anderen Beglaubigung (dazu Gelehrsamkeit oder Wunder,
die nicht jedermanns Sache sind, erfordert würde) bedürfte.
Wenn darin Berufungen auf die ältere (Mosaische) Gesetzgebung und Vorbildung,
als ob sie ihm zur Bestätigung dienen sollten, vorkommen, so sind diese
nicht für die Wahrheit der gedachten Lehren selbst, sondern nur zur Introduktion
unter Leuten, die gänzlich und blind am Alten hingen, gegeben worden, welches
unter Menschen, deren Köpfe mit statutarischen Glaubenssätzen angefüllt,
für die Vernunftreligion beinahe unempfänglich geworden, allezeit
viel schwerer sein muß, als wenn sie an die Vernunft unbelehrter, aber
auch unverdorbener Menschen hätte gebracht werden sollen. Um deswillen
darf es auch niemand befremden, wenn er einen den damaligen Vorurteilen sich
bequemenden Vortrag für die jetzige Zeit rätselhaft und einer sorgfältigen
Auslegung bedürftig findet: ob er zwar allerwärts eine Religionslehre
durchscheinen läßt und zugleich öfters darauf ausdrücklich
hinweist, die jedem Menschen verständlich und ohne
allen Aufwand von Gelehrsamkeit überzeugend sein muß.S.176-181
Aus: Immanuel Kant: Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft (S.63-65,
142-144, 176-181)
Meiner Philosophische Bibliothek Band 45