Deutscher Philosoph, der Musikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Theologie sowie Philosophiestudiert hat und seit1951 Professor in Hannover, seit 1954 in Erlangen; war. Kamlah war Schüler von Rudolf Bultmann und Martin Heidegger.
Verblendung
inmitten der Welt des Wissens Das menschliche Ringen um die Wahrheit ist ja nicht erst von heute und auch
nicht erst drei Jahrhunderte alt, so daß wir unsere gegenwärtige
paradoxe Situation nicht durchschauen können ohne einen Blick in die Geschichte.
Wir finden dort mehrfach die Erfahrung eines Durchbruchs zur Wahrheit, die jedesmal
mit der Überzeugung einhergeht, daß der Mensch nicht allein hier
und da irrt, sondern daß er wesentlich dem Irren verfallen ist, so nämlich,
daß er ohne die Teilhabe am jetzt sich ereignenden Durchbruch zum Licht
die Wahrheit total verfehlt. Die Möglichkeit also, daß er wesentlich
schon erleuchtet, wesentlich aufgeklärt sein könnte und dabei zugleich
wesentlich verblendet, wird in diesen Durchbruchserfahrungen gerade nicht in
Betracht gezogen. Vielmehr tritt dann immer eine reiche Bildersprache auf, die
den eindeutigen Gegensatz von
Unwahrheit und Wahrheit zeigt durch Ausdrücke wie Finsternis, Blindheit,
Verstrickung und dergleichen auf der einen Seite und durch die Bilder des Lichts,
der Sonne und so fort auf der Gegenseite. Zum Beispiel in Platos
Höhlengleichnis sind die Menschen, wie sie gewöhnlich leben,
Gefesselte in einer dunklen Höhle, von denen einzelne dann befreit und
zum Licht der Sonne heraufgeführt werden. Oder im Lehrgedicht des Parmenides
ist vom Tor
zur Wahrheit die Rede, das durch die Sonnenjungfrauen aufgestoßen
wird. Oder das Evangelium erzählt von der Nacht, in der den Hirten der
Engel erschien, »und die Klarheit des Herrn leuchtete
um sie«.
So unverwechselbar verschieden diese Berichte vom Durchbruch
zur Wahrheit sein mögen, gemeinsam ist ihnen doch dies: Es wird
da immer ein entscheidender, einmaliger Akt genannt, der den Übergang aus der Dunkelheit der Irre ins Licht
der Wahrheit bedeutet. Was da gewonnen wird,
ist einmalig die eine, wesentliche Wahrheit, nicht aber eine vereinzelte wahre
Einsicht unter anderen. Und was da überwunden wird, ist die wesentliche
Illusion, nicht aber eine beliebige Täuschung unter möglichen anderen.
Und an diesem wesentlichen Erleuchtungsakt gemessen, sind nun fernerhin die
fatale Ungreifbarkeit und Unbestimmtheit der Illusionen des heutigen Menschen
derart, daß er auch nicht sieht, oh er eine einmalige, wesentliche Befreiung
von so entscheidender Bedeutsamkeit überhaupt noch erwarten darf. Sind
die Illusionen, die ihn beirren, denn überhaupt wurzelhaft vereinigt in
so etwas wie einer Grundillusion, der dann »die« Wahrheit als die einmalig gründende und befreiende gegenüberstünde?
Oder gibt es für ihn nur noch vielerlei Illusionen, die allenfalls mehr
oder weniger miteinander zusammenhängen, aber doch so, daß wir jetzt
in die eine geraten und dann in irgendeine andere?
Parmenides und Plato glauben an die eine, wesentliche Wahrheit, die ereignishaft aufleuchtet und
alle einzelnen Wahrheiten, die sich dann aussprechen lassen, wurzelhaft und
ursprünglich in sich befaßt. Plato kennt
zwar das wahrhaft Seiende als die Vielheit von »Ideen«, über denen jedoch einigend wie die Sonne die Idee
des »Guten« steht. Wie aber verhält es sich mit der Unsumme vielfältiger Wahrheiten,
die von der Wissenschaft seither angehäuft wurde und die wir nun in einer
durchaus nicht einmaligen, sondern durch Jahre von Schule und Bildung anhaltenden
Erleuchtung mehr oder weniger erlernen? Ist noch so etwas wie ein einigender
Quellpunkt erkennbar, von dem her alle diese Wahrheiten einzelner Sätze
mit so etwas wie der Grundwahrheit gespeist werden? Offenbar erwarten wir zumindest
dies nicht mehr, daß wir die eine Wahrheit
als Ganzheit aller jener
Wahrheiten zu ergreifen hätten.
Wir bewundern noch universal Wissende wie Leibniz,
aber wir suchen nicht mehr Universalität wissenschaftlichen Wissens als
Totalität eines einmalig Ganzen. Denn wir halten wissenschaftliche Erkenntnisse
für »interessant« und auch für
praktisch notwendig, aber weder im ganzen noch im einzelnen in einem erheblichen
Sinne für lebensnotwendig. Was »interessant« ist, kann auch uninteressant sein, und so mag sich der eine für Atomphysik,
der andere für vergleichende Sprachwissenschaft interessieren. Es wäre
dann zu fragen, ob vielleicht das Wesentliche von Wissenschaft
in jeder
besonderen wissenschaftlichen Forschung zu erfahren sei. Aber sehr viel skeptischer
würden wir fragen, ob auch das Wesentliche einerGrundwahrheitan allen jenen Fundstätten verborgen
liege, das uns entscheidend von so etwas wie der wesentlichen Illusion befreit.
Wenn wir also nach alter Tradition noch immer zu sagen gewohnt sind, daß
die Wissenschaft nach der Wahrheit frage, so denken wir dabei kaum noch an jene
ursprüngliche und einigende Wahrheit, deren wesentliches Aufleuchten einst
die Erfahrung griechischer Denker war. Zwar sind auch wir nochmittelbarauf die vielen Wahrheiten der vielen Wissenschaften
angewiesen, weil wir auf das Funktionieren von Apparaten angewiesen sind, die
auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis entwickelt wurden. Aber unmittelbar
zum Lebenkönnen bedürfen wir der Wahrheit einzelner wissenschaftlicher
Sätze, mögen sie noch so interessant sein, in keinem Falle. Platos
Höhlengleichnis ist auf moderne Physik oder Philologie
nicht mehr anwendbar.
Wir sehen aber noch etwas anderes an jenen einmaligen Durchbrüchen von
Wahrheit, die als datierbare Ereignisse unserer Geschichte bekannt sind. Der
eigentümlichen Weise, in der man die durchbrechende Wahrheit versteht,
entspricht jeweils eine eigentümliche Angabe des verantwortlichen Trägers
der Illusion.
Wo wie im Christentum der Durchbruch der Wahrheit die göttliche Offenbarung
ist, da ist der Träger des Irrens die menschliche Sünde. Der gefallene Mensch in seinem widergöttlichen Hochmut ist der verblendete,
in Finsternis verstrickte Mensch. Bei den Griechen hingegen, wo die Vernunft
die Wahrheit vernimmt, sind es die Sinne, die man für Blindheit und Täuschung
verantwortlich macht. In der neuzeitlichen Aufklärung wiederum ist gerade
die überlieferte Religion,
die einst die Wahrheit gebracht hatte, für die Torheiten und Unmenschlichkeiten
des Aberglaubens verantwortlich. Seit aber die eine Wahrheit in eine Unsumme
interessanter Wahrheiten zerfiel, ist auch der eine, entscheidend verantwortliche
Illusionsträger nicht mehr zu finden.
Sinnestäuschungen sind heute nur noch ein Spezialkapitel der Psychologie
oder der Sinnesphysiologie. Niemand wird mehr die paradoxe
These des Parmenides wiederholen wollen, daß es gerade unsere Sinne
seien, die uns
blind und taub machen. Aber auch die Sünde hindert den Chemiker
nicht, glänzende Entdeckungen zu vollbringen und insofern jedenfalls an
Wahrheit teilzuhaben. Und durch Aufklärung sind wir zwar klüger als
abergläubische Buschmänner und doch keineswegs vor wesentlichen Illusionen
gesichert. Wir rechnen vielmehr mit der Möglichkeit, daß gerade die
überlieferte Religion eine Wahrheit bergen könnte, die aller Aufgeklärtheit
überlegen ist, indem wir zugleich Illusionen eben der Aufgeklärtheit
kennengelernt haben, der Verkehrung sachlichen Wissens, die den Täuschungen
des Primitiven zumindest gleichrangig sind. Seit dem Zeitalter der Aufklärung
tritt daher immer wieder die These auf, die Vernunft selbst, die ratio, sei
der verantwortliche Träger der wesentlichen Illusion, von der nur die Rückkehr
in den Ursprung des Mythos befreien könne. Jedoch auch dieser Antirationalismus
hat sich als ein unzulässiges Generalrezept erwiesen. Der sichere Griff
nach dem allein verantwortlichen Träger jeglichen Irrens gelingt nicht
mehr.
Dies also hat uns der Blick in die Geschichte gezeigt: Im Christentum wird der
Mensch in einer Verblendung gesehen, die ihn durch und durch entstellt, die
ihn als satanische Verblendung daran hindert, gut zu handeln und sein Heil zu
gewinnen, woraufhin dann, wie übrigens ähnlich in der antiken Gnosis,
der Erleuchtungsakt Reinigung und Erlösung zugleich bedeutet. Aber auch
im Griechentum bedeutet der Durchbruch zum Wissen ursprünglich eine totale
Umwendung und Befreiung des Menschen zum Licht. Erst im Verlauf der abendländischen
Geschichte und auf eine in dieser Kürze nicht beschreibbare Weise zersplittert
die eine Wahrheit der befreienden Vernunft in die vielen Wahrheiten einer methodischen
Wissenschaft, die nun dazu verleitet, die Täuschung nur noch als Unkenntnis
hinsichtlich partieller Sachverhalte zu verstehen. Da diese Wissenschaft aber
von ihrem antiken Ursprung her und dazu durch ihre neuzeitlichen Erfolge beglaubigt
den Anspruch aufrecht erhält, Träger der wesentlichen Wahrheit zu
sein, wird jene paradoxe Situation möglich, daß wir inmitten eines
nie gekannten Lichtes sachlichen Wissens zugleich alten Täuschungen des
Menschseins preisgegeben sind, die wir in dieser wahrhaft blendenden Helligkeit
nur schwer durchschauen.
Wir haben also Anlaß, nun weiter zu fragen, ob jene vergangene, der Antike
weithin gemeinsame Auffassung
der menschlichen Illusionen als einer heillosen, wesentlichen Verblendung das
Wesen des Menschen und damit unserer selbst nicht vielleicht genauer angibt,
als wir noch zu erkennen gewohnt sind. Achten wir noch einmal auf jene Ansätze
zu eben dieser Auffassung, die wir in unserer zwielichtigen Gegenwart doch immer
noch finden: Wir machen die Erfahrung, daß wir gute Stunden haben, in
denen wir »klarer sehen«, gleichsam
in einer reineren Atmosphäre Erkenntnisse haben, die uns dann freilich
wieder entgleiten. Solche Erkenntnisse gehen einher mit einer Verwandlung unserer
selbst, und desgleichen kennen wir Verfassungen unserer selbst, in denen wir
wenigstens spüren, daß sie uns die Wahrheit verstellen.
Wir verstehen doch noch ganz gut, was die Philosophen der Antike meinten, wenn
sie etwa von der Blindheit der Affekte sprachen, die der Klarheit der Vernunft
entgegensteht. Wer zum Beispiel verärgert ist, der weiß irgendwie,
zumindest hernach, daß er in seinen Vorwurf en gegen den anderen übertreibt,
die wahren Sachverhalte entstellt, daß er, wie unsere Sprache so aufschlußreich
sagt, den Dingen und den Menschen um ihn nicht »gerecht wird«. Oder
der Verzweifelte siebt ein partielles Leiden als die totale Vereitelung seines
Lebenkönnens und ist erbittert gegen denjenigen, der seinen notwendigen
Untergang als einen solchen nicht anerkennt. Oder der Gekränkte sinnt auf
eine mörderische Rache, die in keinerlei gerechtem Verhältnis zu seiner
Kränkung steht, und sieht dabei wiederum die Dinge im »falschen Licht«.
Oder im Bereich des Geschlechtlichen bedeuten Verliebtheit, Eifersucht, Sehnsucht, Überdruß illusionäre Affekte mit der Folge fehlgeleiteten Handelns
mannigfacher Art. An dem vieldiskutierten Kinsey-Report ist das Mißlichste
doch wohl dies, daß wissenschaftliches Sachwissen in einem Raume Licht
verbreiten soll, dessen verworrene Dunkelheit nun einmal nicht der bloßen
Unkenntnis hinsichtlich partieller Sachverhalte zuzuschreiben ist, weil hier
vielmehr Übermächte walten, die am ehesten verstehen lassen, warum
die Alten die Verblendung zugleich als »Verstrickung« verstanden,
als heillose Fesselung eines Wesens, das seiner selbst nicht mächtig ist.
Nehmen wir als harmlosesten Fall die bekannte Täuschung des Verliebten.
Was ihr zu folgen pflegt, ist die »Enttäuschung«,
in der nun aber keineswegs die Täuschung behoben, sondern durch eine gegenläufige
Täuschung abgelöst wird, durch die ungerechte Entstellung des anderen
nun zum Schlimmen.
Gerade dort, wo Menschen einander am nächsten begegnen, sind sie am wenigsten
fähig, einander so zu sehen, wie sie in Wahrheit sind. Da aber ein Mensch
überhaupt kein beobachtbares Ding ist wie ein Baum oder ein lebloses Objekt,
da er vielmehr sich anders gar nicht erschließt als in der Kommunikation
mit anderen Menschen, entsteht so die Frage, ob es denn überhaupt jemandem
möglich sei, irgendeinen anderen Menschen wahrhaft zu erkennen. Wir sagen
zwar, jemand habe jetzt »sein wahres Gesicht gezeigt«.
Aber gerade diese Rede pflegt eine Formel der Anklage zu sein, der Gerechtigkeit
nicht zuzutrauen ist. Und auch die gereifte Liebe, die den anderen nun endlich
wahrhaft zu kennen vermeint, wird erfahren müssen, daß dieser andere
sich immer wieder neu offenbart, daß er niemals festzulegen ist auf seinen
»eigentlichen Charakter«, daß gerade der nächste Mensch
sich fort und fort ins Unerkennbare verbirgt. Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 243, Mensch und Menschlichkeit, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe
des Süddeutschen Rundfunks S. 55-61
Copyright 1956 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart. Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlags,
Stuttgart