Johann Heinrich Jung-Stilling, eigentlich Jung (1740 -1817)
Deutscher
Augenarzt, Ökonom und Schriftsteller, der mehr als 1000 Patienten
das Augenlicht operativ rettete und auf Anregung
Goethes seine Lebensgeschichte schrieb, die er unter dem Pseudonym und
seinem späteren Beinamen Stilling veröffentlichte
(in Anlehnung an Psalm 35, 20 wurden die Pietisten
zu jener Zeit »die Stillen im Lande«
genannt). Jung-Stilling vertrat einen
weltoffenen Pietismus, der der jedem einzelnen
das Streben nach persönlicher Vervollkommnung ermöglichte. Warum
er den Freimaurern beitrat, ist nicht bekannt.
In seiner Jugend las er u. a. mit Vorliebe Homer,
Paracelsus und Jacob
Böhme. Während seiner ärztlichen Tätigkeit in
Elberfeld traf er auch mit J. C. Lavater
und F. H. Jacobi zusammen. Nach dem
Studium der Philosophie von
Leibniz und Wolff ist er nach eigenem
Bekunden in die »schwere Gefangenschaft des
Determinismus gerathen«,
Kant aber habe nun in seiner »Kritik
der reinen Vernunft« bewiesen, »dass
die menschliche Vernunft außer den Gränzen der Sinnenwelt ganz
und gar nichts weiß.« Daraus zieht er den Schluss, dass
deshalb der Vernunft im Bereich der
Theologie allenfalls eine formal-ordnende Funktion, aber niemals eine
inhaltlich normierende Bedeutung zukommen darf. Begeistert teilt er seine
Schlussfolgerung am 1.3. 1789
Kant mit und erhält von ihm folgende diplomatische
Antwort: »Sie tun auch daran sehr wohl, dass
Sie die letzte Befriedigung Ihres nach einem sichern Grund der Lehre und
der Hoffnung strebenden Gemüts im Evangelium suchen...«. 1808
verfasst er eine »Theorie der Geisterkunde«,
in der er die Frage beantworten will, »was von
Ahnungen, Geschichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt
werden müsse«. In Jung-Stillings
Jenseitsschau verschmelzen Mystik,
Okkultismus und
christliche Elemente in einer eigenartig anrührenden Einheit.
Einige der folgenden Texte stammen aus seinem zweibändigen Werk »Szenen
aus dem Geisterreich«. Einige Links zu Jung-Stilling: Forschungsvorhaben Jung-Stilling , Wikipedia , Projekt Gutenberg-DE , Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon , |
Inhaltsverzeichnis
Theorie
der Geisterkunde
Lichthülle,
Lichtmaterie und Äther
Der tierische Magnetismus beweist unwidersprechlich, dass wir einen
innern Menschen, eine Seele haben, die aus dem göttlichen Funken,
dem Vernunft und Willen habenden
ewigen Geist und einer
von ihm unzertrennlichen
Lichthülle besteht.
Die Lichtmaterie, die elektrische, magnetische,
die galvanische Materien und der Äther scheinen alle ein und das nämliche Wesen unter verschiedenen Modifikationen
zu sein. Dies Lichtwesen oder Äther ist das Element, welches Leib und Geist, die Sinnenwelt und die Körperwelt miteinander verbindet.
Der Körper
ist der Kerker der Seele
Wenn der innere Mensch
die Menschenseele die innere Werkstätte der Sinnen verlässt und nur
noch die Lebensbewegungen fortsetzt, so gerät der Körper in den Zustand einer Ohnmacht oder eines tiefen Schlafs. Während dieser
Zeit wirkt die Seele viel freier,
mächtiger und tätiger, alle ihre Eigenschaften sind erhöht (exaltiert).
Je freier die Seele vom Körper ist, desto größer, freier und
mächtiger wird ihr innerer Wirkungskreis.
Sie bedarf also des Körpers keineswegs zu ihrem Leben und Bestehen; er
findet sie vielmehr daran; sie ist in diesen trägen,
traurigen Kerker verbannt, weil er ihr Organ zur Sinnenwelt ist, deren sie in ihrem gegenwärtigen Zustand zu ihrer Veredlung
und Vervollkommnung bedarf.
Der Raum
existiert nicht wirklich
Der Raum ist bloß
die Wirkung der körperlichen, sinnlichen Werkzeuge, außer ihnen existiert
er gar nicht. Sobald
also die Seele diese verlässt, so hören alle Nähen und Entfernungen
auf. Wenn sie daher mit einer Seele in Rapport
steht, die viel tausend Meilen von ihr entfernt ist, so kann sie ihr aus ihrem
Körper Kenntnisse mitteilen und von jener empfangen, und das alles in der
Geschwindigkeit, wie die Gedanken aufeinander folgen.
Diese Wirkungen noch lebender Menschen aufeinander würden, wenn die Türen
zu diesen Geheimnissen leicht zu öffnen wären, in der gegenwärtigen
Periode des menschlichen Lebens eine schreckliche Verwirrung anrichten. Aber
der Allerbarmer hat dafür gesorgt, dass das nicht so leicht möglich
ist. Bei der immer zunehmenden Aufklärung in allen Fächern und dem
immer wachsenden Abfall von Christo und seiner
allerheiligsten Religion wird es nun auch dahin kommen, dass man auch diese
Türen aufbricht und das Allerheiligste plündert; dann aber ist auch
das Maß voll. Fluch über den, der
solche Heiligtümer öffentlich bekannt macht!
Das Ahnungsvermögen
Durch den Magnetismus, durch Nervenkrankheit, durch langwierige Anstrengungen
der Seele und durch andere verborgene Mittel kann
ein noch lebender Mensch, wenn er anders eine natürliche Anlage dazu hat,
seine Seele bis auf einen gewissen höhern oder niedern Grad von ihrer körperlichen
Organisation entbinden; in dem Verhältnis, wie dies geschieht, kommt sie mit der Geisterwelt in Berührung (Rapport).
Das, womit sie ihre Gegenstände empfindet, nenne ich das Ahnungsvermögen oder Ahnungsorgan und seine Entbindung von dem
feinsten Nervensystem seine Entwicklung.
Wenn ein unbekehrter, weltlich gesinnter Mensch sein Ahnungsvermögen entwickelt, so gerät er in Gefahr der Abgötterei und Zauberei.
Die Religionslehrer und die Ärzte sollen also die Unwissenden über
diesen wichtigen Punkt belehren.
Man muss wahre Ahnungen, wenn die Vorsehung jemand durch den Dienst der Engel vor einem Unglück
warnen lässt, vom entwickelten Ahnungsvermögen wohl unterscheiden.
Jenes ist immer zweckmäßig, dieses aber hat gewöhnlich keinen
Zweck.
Leiden
im Hades
Alle Seelen solcher Menschen, die in diesem Leben
zwar nicht lasterhaft, doch aber auch nicht wahre
Christen waren, sondern nur ein ehrbares bürgerliches Leben geführt
haben, müssen im wüsten, leeren Hades durch die Leiden der Entbehrung alles dessen, was ihnen lieb ist, und jeden Genusses und dann
durch das traurigste Heimweh nach dem verschwundenen Erdenleben lange geläutert und so allmählich zum geringsten Grad der Seligkeit zubereitet werden.
Genuss
der Seligkeit in den Lichtregionen
Die Seelen wahrer Christen, die hier den Weg der Heiligung gewandelt haben,
im wahren Glauben
an Jesum Christum, an seine Versöhnungsgnade
und mit gänzlicher Resignation auf alles Irdische gestorben sind, werden
gleich bei dem Erwachen aus dem Todesschlummer von den Engeln in Empfang genommen
und ohne Aufenthalt aufwärts in die reinen Regionen
des Lichts geführt, wo sie der Seligkeiten Fülle genießen.
Spuk
Seelen, die der Welt noch nicht
abgestorben sind, deren Imagination noch mit lauter Lieblings-Vorstellungen
aus ihrem vergangenen Leben angefüllt ist, suchen diese Vorstellungen zu
realisieren; aber es sind leere Dunstwesen, die
keinen Genuss gewähren können, und ebenso wenig ist auch die Seele
fähig zum Genießen, sie hat keine sinnlichen Werkzeuge mehr. Daher
die bekannten Spukereien in alten Gebäuden, wo die verarmten Geister ihre
ehemaligen Lustbarkeiten zu wiederholen suchen.
Seelenwanderung
Die Seelenwanderung
ist in den Gesetzen und in der Natur des Geisterreichs nicht
gegründet. Eine Seele kann Jahrhunderte lang im Hades zubringen, ehe sie weiter gefördert wird; aber sie kehrt nie wieder in
einen menschlichen Körper zurück, die Geisterwelt hat Läuterungsmittel
genug, es bedarf nicht der Rückkehr ins Sinnenleben.
Geistererscheinungen
Wenn Seelen mit einer unbefriedigten
Sehnsucht aus diesem Leben scheiden, so empfinden sie schwere Leiden,
wenn sie auch sonst der Seligkeit fähig sind. Um diese Leiden loszuwerden,
sehnen sie sich oft nach einem lebenden Menschen, der jene Sehnsucht befriedigen
soll, und wenden die ihnen bekannten Mittel an, zu ihrem Zweck zu gelangen,
daher denn die Geisterscheinungen.
Der
Somnambulismus
Wenn ein Mensch, männlichen oder weiblichen Geschlechts, von einem andern
Menschen, auch männlichen oder weiblichen Geschlechts, über die Kleider (das Ausziehen derselben ist unnötig) nach
gewissen Regeln nur leise bestrichen und dies oft wiederholt wird, so geraten
viele, einige früher, die andern später, viele auch gar nicht, in
den so genannten magnetischen Schlaf (Somnambulismus);
in diesem Zustand ruhen alle Sinne, kein Schall, kein plötzlich helles
Licht, keine starke Berührung kann sie wecken, und der Körper ist,
außer denen zum Leben nötigen Wirkungen, gleichsam tot. Der innere
Mensch aber gerät in einen erhöhten und sehr angenehmen Zustand, welcher
dem Grad nach immer mehr zunimmt, je öfter das Magnetisieren, nämlich
das Bestreichen, nach gewissen Regeln wiederholt wird. Die Erhöhung des inneren Menschen steigt bei vielen so hoch, dass sie
mit dem Geisterreich in Berührung kommen und alsdann gar oft verborgene
Geheimnisse, auch Merkwürdigkeiten entdecken, die in der Ferne vorgehen
oder in der Zukunft geschehen werden.
Sehr merkwürdig und in der Tat erstaunlich ist folgender Umstand: während
diesem magnetischen Schlaf empfindet der Mensch von der ganzen Sinnenwelt auch
nicht das Geringste, nur die Person, die ihn magnetisiert und mit der er in
Beziehung (Rapport) steht, sieht er, aber nicht
mit den Augen, denn sie sind entweder krampfig zugeschlossen oder, wenn sie
auch offen sind, so sind die Pupillen so weit wie im vollkommenen schwarzen
Star; ich hielt selbst einer solchen Person eine brennende Kerze nahe vor die
Augen, aber die Pupillen blinzelten weit und unbeweglich, vom Lichte bemerkte
sie nicht das Geringste, sondern sie sieht die Person, die sie magnetisiert,
aus der Gegend der Herzgrube — und zwar in einem lichten
himmelblauen Glanz. Bei vielen steigt die Erhöhung des innern Menschen
nach und nach so hoch, dass sie die Gedanken und Vorstellungen ihres Magnetiseurs
in seinem Innern erkennen.
Die Somnambule
von Lyon
Die Geschichte einer Somnambule in Lyon, sagt das
Journal de Paris, bietet eine Reihe so auffallender Tatsachen dar, dass man
geneigt sein würde, die ganze Sache für Scharlatanerie und Betrug
zu erklären, wenn glaubwürdige Augenzeugen nicht die Wahrheit derselben
verbürgten. Man mag lächeln, wenn man behaupten hört, eine hysterische
Frau besitze die seltsame Gabe, denjenigen, mit denen sie, nach der Kunstsprache,
in Rapport steht, verborgene Dinge zu offenbaren; aber es ist dem so - der Weise
glaubt ohne Übereilung und zweifelt mit Behutsamkeit. Herr Petetain, ein geschätzter Arzt in Lyon, der die Krankheit,
an welcher diese Dame leidet, lange beobachtet hat, ist damit beschäftigt,
seine gesammelten Erfahrungen darüber zu ordnen und dem Publikum mitzuteilen;
bis zur Erscheinung des angekündigten Werkes des Herrn Petetain wollen
wir folgende Tatsachen anführen, die ein achtungswürdiger Augenzeuge, Herr Ballanche erzählt.
Seit langer Zeit sprach man in Lyon von einer kataleptischen (in
Entzückung fallenden) Dame; schon hatte Herr Petetain
mehrere äußerst auffallende Sachen über dieselbe bekannt
gemacht, als Herr Ballanche neugierig wurde, die erstaunlichen Wirkungen dieser
Krankheit selbst kennen zu lernen. Er wählte den Augenblick, um die Dame
zu besuchen, da sie sich der Krisis näherte; an der Tür erfuhr er,
dass sich nicht jedermann ohne Unterschied dem Bette der Kranken nähern
dürfe, sondern dass sie selbst die Erlaubnis dazu erteilen müsse.
Man fragte sie demnach, ob sie Herrn Ballanche annehmen wolle, welches sie bejahte. Dieser näherte sich darauf dem Bette,
in welchem er eine Frau ohne Bewegung liegen sah, die allen Kennzeichen zufolge
in den tiefsten Schlaf versunken war. Er legte, wie man ihm angedeutet hatte,
seine Hand auf den Magen der Somnambule und begann
dann seine Fragen. Die Kranke beantwortete sie alle aufs Bestimmteste. Dieser überraschende Erfolg reizte nur die Neugierde des Fragenden. Er hatte mehrere
Briefe von einem seiner Freunde bei sich, von denen er einen nahm, dessen Inhalt
er am besten zu kennen glaubte, und verschlossen der Kranken auf den Magen legte.
Er fragte darauf die Schlafende, ob sie den Brief lese, welches sie mit Ja beantwortete.
Dann fragte er, ob derselbe nicht einer gewissen Person erwähne, die er
nannte. Sie verneinte es. Herr Ballanche, gewiss, dass die Kranke sich irre,
wiederholte dieselbe Frage, auf welche er dieselbe verneinende Antwort erhielt.
Die Somnambule schien sogar über den Zweifel ärgerlich und stieß die Hand des Fragenden und den Brief von sich. Herr Ballanche, über diesen
Starrsinn betroffen, geht mit seinem Brief auf die Seite, liest ihn und findet
zu seinem größten Erstaunen, dass er den Brief nicht auf den Magen
der Schläferin gelegt hatte, welchen er hatte auswählen wollen, und
dass demnach der Irrtum auf seiner Seite war. Er näherte sich dem Bette
zum zweiten Mal, legte diesen Brief an die Stelle, und die Kranke sagte mit
einer gewissen Zufriedenheit nun lese sie den Namen, den er zuvor genannt habe.
Dieser Versuch hätte ohne Zweifel hundert andere befriedigt; aber Herr
Ballanche ging weiter; man hatte ihm gesagt, die Kranke sehe durch die dunkelsten
Körper und lese Briete und Schriften durch Mauern; er fragte, ob es sich
damit so verhalte, und sie bejahte es. Er nahm also ein Buch, ging in ein anstoßendes
Zimmer, hielt mit der einen Hand ein Blatt dieses Buches an die Mauer und fasste
mit der andern einen von den anwesenden Menschen, die bis zur Kranken eine Kette
bildeten, auf deren Magen der letzte seine Hand gelegt hatte. Sogleich las die
Kranke die an die Mauer gehaltenen Blätter, die öfters umgeschlagen
wurden, und las sie ohne den geringsten Fehler. —
Diese Erzählung enthält nichts, das nicht durch unzählige Erfahrungen
bestätigt wird; nur der eine Umstand ist merkwürdig, dass die Dame
auch ohne unmittelbare Berührung in der Entfernung lesen kann, wenn nämlich
eine Reihe Menschen sich einander an den Händen fassen, ihr der Erste die
Hand auf die Herzgrube — nicht auf den Magen, das hat mit dieser Sache
nichts zu tun — legt und der Letzte dann den Brief hält. Indessen
liest sie weder durch die Wand noch durch die Mauer, sondern vermittelst der
Vereinigung so vieler Menschen, durch die Seele dessen, der das Buch oder den
Brief hält. Eben durch solche Vereinigung oder Kette
(chaine) pflanzt sich ja auch die Elektrizität, der elektrische
Schlag, fort.
Sich-selbst-Sehen
Wenn mich jemand fragt, wie es möglich sei, dass sich ein
Mensch selbst erscheinen könne, oder wie das Sichselbstsehen in der menschlichen Natur gegründet sei? — so antworte ich: dass
nicht mehr dazu erfordert werde, als Engel und Geister zu sehen, wo keine sind
oder doch wenigstens nicht in die Sinne fallen. Der berühmte
Friedrich Nicolai in Berlin geriet einstmals in einen Zustand, dass er
viele geistige Wesen um sich her sah, die aber alle nach und nach verschwanden,
sowie er auflösende oder abführende Mittel gebrauchte. So wie nun
fremde Gestalten in der Einbildungskraft so lebhaft werden können, dass
sie den äußern sinnlichen Eindrücken gleich sind, ebenso kann
auch die eigene Gestalt den nämlichen Eindruck machen.
Ahnung
durch einen Traum
Eine äußerst merkwürdige Ahnung durch einen Traum wird im
zweiten Heft des ersten Bandes des Museums des Wundervollen folgendermaßen
erzählt:
Kurz vorher, ehe die Fürstin Ragozky von Warschau
nach Paris reiste, hatte sie folgenden Traum: sie träumte, dass sie sich
in einem unbekannten Zimmer befinde, wo ein gleichfalls ihr unbekannter Mann
mit einem Becher zu ihr kommt und ihr daraus zu trinken anbietet. Sie erwidert,
dass sie keinen Durst hätte, und dankt ihm für sein Anerbieten. Der
unbekannte Mann wiederholt seine Bitte und setzt hinzu: sie möchte es ihm
nicht weiter abschlagen, denn dies sei der letzte Trank ihres Lebens. Sie erschrak
heftig hierüber und erwachte.
Im Oktober 1720 langte diese Fürstin munter
und gesund in Paris an und bezog ein Hotel garni (eine
möblierte Wohnung), wo sie bald nach ihrer Ankunft ein heftiges
Fieber überfiel Sie schickte sogleich zu dem berühmten Arzt des Königs,
dem Vater Helvetius. Der Arzt kam, und die Fürstin
geriet in ein auffallendes Erstaunen. Man fragte nach der Ursache desselben,
und sie gab zur Antwort, dass der Arzt ganz vollkommen dem Manne gleich sähe,
den sie zu Warschau im Traum erblickt hätte; »doch
diesmal werde ich noch nicht sterben, denn dieses Zimmer ist nicht dasselbe,
das ich damals zugleich mit im Traume sah.«
Die Fürstin wurde bald darauf völlig wiederhergestellt und schien
ihren Traum ganz vergessen zu haben, als sie durch einen neuen Umstand
wieder mit der größten Lebhaftigkeit daran erinnert wurde: sie war
mit ihrem Logis in dem Hotel nicht zufrieden und verlangte daher, dass man ihr
eine Wohnung in einem Kloster zu Paris zubereiten möchte, welches auch
geschah. Die Fürstin zog in das Kloster ein; allein kaum war sie in das
für sie bestimmte Zimmer getreten, als sie überlaut zu schreien anfing: »Es ist um mich geschehen, ich werde nicht wieder
lebendig aus diesem Zimmer herauskommen: denn es ist eben dasselbe, das ich
zu Warschau im Traum gesehen habe«. Sie starb wirklich nicht
lange darauf, zu Anfang des Jahres 1721, und zwar
in dem nämlichen Zimmer, an einem Halsgeschwür, das durch die Herausnahme
eines Zahns entstanden war.
Auch dieser Traum rührte von einem guten Engel her, der die Fürstin
auf ihr bald bevorstehendes Ende aufmerksam machen wollte. S.
204 - 216
Aus: Geist und Geisterwelt, Fragmente aus der Literatur des Übersinnlichen
von Thomas Wandler, Rudolf Kaemmerer Verlag, Berlin-Dresden 1923
Szenen aus der Geisterwelt
Das
große Geheimnis
Abdiel, Seluniel und Tabrimon
(Im Kinderreiche.)
Abdiel. Sei mir gegrüßt, mein
Bruder Seluniel! Du wandelst ja so einsam im Dunkel des Myrtenhains, als wenn du Geheimnisse
der Ewigkeit enthüllen
wolltest.
Seluniel. Ich empfinde hier das sanfte Wehen der allbelebenden Natur
und feiere dem Erhabenen.
Abdiel. Ich lese in deinem Antlitz hohe Gedanken; dein
Geist arbeitet im Unermesslichen.
Seluniel. Siehst du jenen großen
Fremdling, wie er feierlich ernst am Hügel unter den Palmen wandelt?
Abdiel. Ich sehe ihn, er blickt mit Unruhe
nach dem Lichte, es scheint ihm hier nicht wohl zu sein.
Seluniel. Er sehnt sich nach seiner Versöhnung
mit Gott.
Abdiel. Glaubt er denn das Geheimnis der
Erlösung nicht?
Seluniel. Er ist ein Brahmine und hat
die christliche Religion nie kennen gelernt.
Abdiel. Ist sein Leben geprüft?
Seluniel. Ich hab‘ ihn herbeigeführt,
er ist einer der edelsten Geister, und eben jetzt bereite ich mich, ihm das
Geheimnis der Versöhnung zu enthüllen.
Abdiel. Es gab einen Zustand, in welchem die Engel dieser Enthüllung
mit Sehnsucht entgegenjauchzten.
Seluniel. Gelobet sei die Quelle
des Urlichts für diese Offenbarung!
Weißt du auch, mein himmlischer Bruder, dass dieses Licht schon drunten
im Tale der Schatten und des Todes die höchsten Gipfel der Berge vergoldet?
Abdiel. Ja, ich habe erfahren, dass verschiedene unter den
Sterblichen helle Blicke in dies Geheimnis tun; auch dafür sei der Herr
gelobt! -- Denn nun wird bald das Licht
die Finsternis völlig besiegen.
Seluniel. Begleite mich, Abdiel
— wir wollen zusammen dem Fremdlinge uns nähern.
Abdiel. Sehr gerne, mein Bruder!
Seluniel. Friede sei mit dir, Tabrimon,
in den Tälern des Friedens! — Sage uns doch, warum deine
Seele so arbeitet, und warum du im Lande der Ruhe keine Ruhe finden kannst? — Entdecke uns dein Innerstes ganz.
Tabrimon. O wie gern will ich euch, ihr göttlichen Jünglinge,
die Geschichte meines sittlichen Lebens erzählen, und dann bitte ich euch,
strömt Licht in meine Dunkelheit!
Seluniel. Das soll mit Freuden geschehen.
Tabrimon. Ich bin ein Brahmine, und wurde
zwar in den Geheimnissen des Brahma unterrichtet, allein mein Vater belehrte mich schon in meiner frühesten
Jugend, daß die höchste Pflicht, die Mutter aller Pflichten, in der
Ausübung der Liebe gegen alle Menschen bestünde; jedermann wohlzutun,
an jedes Menschen sittlicher Vervollkommnung unaufhörlich und mit allen
Kräften zu arbeiten, das sei es allein, was uns dem Wesen aller Wesen wohlgefällig
machen könne. Alles nun, was uns zur Ausübung dieser Pflicht geschickt
mache, sei Tugend. Unter allen Tugenden aber müsse uns die Verleugnung
aller sinnlichen Vergnügen, als die vornehmste, von der Kindheit an bis
zum Tode unablässig
begleiten, denn dadurch würde die Eigenliebe getötet, die uns sonst
immer hindere, unparteiisch zu unserer und unseres Nebenmenschen sittlicher
Vollkommenheit zu wirken. Besonders aber wurde mir der, unserem Stamme so gewöhnliche
Stolz, als ein Tod aller Wirksamkeit zum Guten, aufs lebhafteste vorgestellt. Mein Vater sagte: der Stolz liebt sich nur selbst
und schätzt alle andere gering; er ist also dem Gesetze der Menschenliebe
gerade entgegen; der Stolz wird von jedermann gehaßt, seine Lehren und
seine Wirkungen zum besten anderer können also unmöglich Eingang finden;
der Regierer aller Dinge lenkt und beherrscht alles auf eine
unerforschliche Weise, der kurzsichtige Mensch wirkt in diese verborgenen
Gänge mit ein. Wenn er nun stolz ist, so will er immer eigenmächtig
nach seinen Grundsätzen handeln; er strebt also dem
Allweisen und Allmächtigen in seinen erhabenen Wegen immer entgegen. Der wahre Demütige
und Sanftmütige aber wird von jedermann geliebt, er lässt sich
gern von anderen belehren, und nimmt also immer an Weisheit
zu; er schätzt sich nach seinem wahren Wert,
und findet immer mehr Unvollkommenheiten an sich selbst, als an andern; er bestrebt
sich also unaufhörlich, immer sittlich vollkommener zu werden, und alle um sich her mit sich fortzuziehen, und endlich forscht er
immer mit tiefer Unterwerfung, was wohl in jedem Augenblicke der Wille sein
möchte; er wandelt in seiner Gegenwart, und wirkt dann nicht
als Selbstherrscher, sondern als Diener des Allerhöchsten. Seht,
das sind nun die Grundsätze, die ich von meiner Jugend an bis zu meinem
Tod nach allen meinen Kräften zu beachten gesucht habe.
Abdiel. Gelobet sei der Herr, der diese
Worte des Lebens in aller Menschen Seelen ausgesprochen hat! — Aber wenige
suchen und finden diesen Schatz, der so tief in ihnen verschlossen liegt! —
Er hat ihn uns enthüllt, der Erhabene, als wir noch danieden im Fleische
wandelten, Halleluja in
Ewigkeit! — Kannte dein Vater die Lehre der
Christen? — Und hast du sie gekannt?
Tabrimon. Wir haben oft von ihr gehört,
aber uns immer mit Abscheu von ihr entfernt gehalten.
Abdiel. Warum?
Tabrimon. Wie kann ein Mensch, der als ein Übeltäter mit
Schande hingerichtet worden, ein Gott sein? —
Und wie kann ein Volk, das in den schrecklichsten Lastern lebt, zum Teil gröberer
Abgötterei ergeben ist, als irgend eine Nation, zum Teil gar keinen Gottesdienst
hat, und übrigens mit dem unbändigsten Stolze grenzenlose Habsucht,
Raub, Mord und zügellose Wollust verbindet, die wahre
Religion und eine göttliche Lehre haben?
Abdiel. So hast du die Christen in deinem
Vaterlande kennen gelernt; hast du nie ihre heiligen Bücher gelesen?
Tabrimon. Was konnte mich dazu aufmuntern
oder anlocken? Aber Himmlischer, warum fragst du mich nach diesem verworfenen
Volke?
Abdiel. Das wirst du bald erfahren!
Seluniel. Du sagtest vorhin, du hättest alle Grundsätze
deines Vaters von Jugend an bis in deinen Tod nach allen deinen Kräften
zu beobachten gesucht; warum bist du denn nun nicht zufrieden?
Tabrimon. Das ist eben der Punkt, worauf es jetzt ankommt, und kannst
du mir dieses große Geheimnis enthüllen, so bin ich selig; ich will
dir also alles sagen: So, wie ich in Erkenntnis meiner selbst und in der sittlichen
Vollkommenheit zunahm, so entdeckte ich immer größere
Tiefen des Verderbens in meiner Natur; erst fand ich bei scharfer Selbstprüfung,
daß auch meine größten und edelsten Handlungen nicht rein und
lauter, nicht bloß aus Pflichtgefühl entsprungen waren, sondern dass immer Stolz, Eigenliebe, Empfindung meiner Vollkommenheit, Eitelkeit und dergleichen unreine Triebfedern mehr, sich mit dazu gemischt
hatten; ja, ich nahm endlich zu meiner größten Bestürzung wahr, dass ich zwar Anlagen zum Guten in meinem Wesen hätte, dass sie
aber alle mit einem unergründlichen Verderben umgeben und gleichsam wie
gelähmt wären. Woher nun diese tiefe Verdorbenheit in der menschlichen
Natur? —
Das reinste, heiligste und gerechteste Wesen kann unmöglich den Menschen so unrein und verdorben
geschaffen haben, und der Mensch ist doch von Grund aus böse; wer das leugnet, hat noch nie einen Blick in die Tiefe
der menschlichen Seele getan. Welch ein Widerspruch.
—
Bei einer ferneren treuen und langwierigen Untersuchung fand ich, dass
die Vorsehung einen ganz besonderen Gang mit den Menschen gehe, die mit Ernst
an ihrer eigenen und anderer Vervollkommnung arbeiten und sich unablässig
bestreben, Gott wohlgefällig zu wandeln; sie
führt diese Menschen so heilig und so zweckmäßig, dass
man blind sein müßte, wenn man nicht sehen könnte, dass
sie alle, auch die kleinsten Umstände, so lenkt, wie es die sittliche Vervollkommnung
am schleunigsten und mächtigsten befördert. Daraus folgt also unwidersprechlich, daß die Gottheit
das grundverdorbene menschliche Geschlecht dennoch liebe,
und jeden zu seiner anerschaffenen Bestimmung führe, sobald er nur
ernstlich will. —
Das reinste, heiligste und vollkommen gerechte Wesen liebt gegen seine Natur
ein unreines, unheiliges und ungerechtes Wesen; ist das nicht abermals ein Widerspruch? —
Das unbegreiflichste aber, und was mir noch immer vor der Zukunft bange macht,
ist: Gewissheit, dass Gott vermöge
seiner unendlichen und höchst vollkommenen Gerechtigkeit auch nicht das
allergeringste Unrecht ungestraft lassen kann. Nun hab‘ ich aber, aller
meiner Treue im Wandel ungeachtet, täglich von Jugend auf bis zu meinem
Tod, viel Gutes unterlassen, das ich hätte unter den Menschen stiften können,
und mit Gedanken, Worten und Taten viel Böses ausgeübt, das nun noch
immer auf der Erde fortwirkt, folglich muss die Gerechtigkeit
Gottes schlechterdings für das versäumte
Gute Ersatz von mir haben, und für das positive
Böse, das ich veranlasste, muss ich nach Verhältnis
gestraft werden. So gewiss ich nun mein trauriges
Schicksal erwarte und für meine Sünden büßen muss,
so wahr ist es doch, dass alsdann mein Los das Los aller Sterblichen ist. Wie lässt sich nun das mit der Weisheit und Güte Gottes vereinigen? —
O ihr Verklärten! Könnt ihr, so enthüllt mir dieses große
und wichtige Geheimnis.
Seluniel. Selig sind, die da hungern und
dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen gesättigt werden. Du erkennest doch im Lichte der Wahrheit, dass Gott, sobald er vernünftige
Wesen schaffen wollte, diese vollkommen frei, das heißt: weder mit einem
überwiegenden Hange zum Bösen, noch zum Guten schaffen musste.
Tabrimon. Nicht zum Bösen, das sehe
ich ein, aber warum nicht zum Guten?
Seluniel. Kann denn ohne vollkommene Freiheit Sittlichkeit, und ohne Sittlichkeit Zurechnung gedacht werden? —
Wenn ein anerschaffener Hang im Menschen stattfände,
so würde dieser Hang, aber nicht die Vernunft, Triebfeder des Willens. Das vernünftige Wesen wäre also zugleich nicht vernünftig; denn
nur insofern ist ein Geist vernünftig, als er sich von der Vernunft bestimmen
lässt.
Tabrimon. Das ist wahr! Gott schuf
also den Menschen vollkommen frei; aber woher kommt denn nun sein natürlicher
Hang zum Bösen?
Seluniel. Glaubst du, dass ein Kind,
wenn es von einem vollkommen weisen und heiligen Vater, mit ununterbrochener
Aufmerksamkeit von den kleinsten Regungen an, bis zu ihrem Übergange in
Tatsachen geleitet, bewacht und erzogen würde, einen überwiegenden
Hang zum Guten bekommen müsste?
Tabrimon. Ganz gewiss!
Seluniel. Wenn also ein böser Vater
durch Beispiel und Leitung das Gegenteil von dem
tut, so wird das Kind einen Hang zum Bösen bekommen?
Tabrimon. Unstreitig!
Seluniel. Du weißt doch auch, daß in der physischen Natur Reize oder Triebfedern zum Bösen liegen, die von den Eltern auf die Kinder fortgeerbt werden?
Tabrimon. Allerdings!
Seluniel. Folglich wirst du nun einsehen, dass ein physisch
und moralisch verkommener Vater auch einen physisch und moralisch verdorbenen,
das ist, einen zum Bösen geneigten Sohn erzeugt,
und notwendig erzeugen muss?
Tabrimon. Das sehe ich vollkommen ein.
Seluniel. Wenn nun alle Menschen, soweit
wir sie kennen, zum Bösen geneigt sind, oder einen
Hang zum Bösen haben, so muss dieser Hang angeerbt sein, und diese
Erbschaft muß bis zum Stammvater aufsteigen?
Tabrimon. Die Wahrheit dieses Schlusses
sehe ich vollkommen ein; denn wie sollten sich alle Menschen vereinigt haben,
den Hang zum Bösen in ihre Natur aufzunehmen? — Wenn das wäre,
so setzte das ja schon einen Hang
zum Bösen voraus.
Seluniel. Du urteilst ganz recht! —
So verhält es sich auch; der Stammvater der Menschen wurde vollkommen frei,
ohne Hang zum Bösen, geschaffen, er ward aber durch ein höheres böses
Wesen verführt, und er ließ sich verführen.
Tabrimon. Das ist mir nun alles begreiflich;
aber noch immer sehe ich nicht ein, warum Gott Wesen
schuf, von denen er im voraus wusste, dass sie
abfallen würden?
Seluniel. Wie wenn er nun eine große
Menge von Geschlechtern vernünftiger Wesen mit vollkommener Freiheit schuf,
und sie in eine solche Lage setzte, dass ihnen die
Bestimmung zum Guten zu erreichen, leicht,
der Hang zum Bösen aber bloß möglich war; und unter den unzähligen Klassen gäbe es bloß zwei, die
abfielen, und auch diesen zweien ließe er nicht allein ihre Freiheit,
gut zu werden, sondern er gäbe ihnen auch noch Mittel an die Hand, was
wolltest du da dem Allgütigen zur Last legen?
Endlich bedenke auch noch, dass Gott die ganze
Unendlichkeit in einem Blick fasst; Er weiß
jeden in der Hülle der verborgenen ewigen Zukunft noch unentwickelt liegenden
Erfolg; vor Ihm ist die moralische Welt ein großes Ganzes, das
Er dem Raum und der Zeit nach auf einmal übersieht; ist es nun nicht viel
gewagt und sogar Torheit, wenn ein endlicher
Geist unendliche
Dinge begreifen will?
Tabrimon. Vergib mir, du Verklärter!
Du hast mir abermals eine neue Unart entdeckt; ich fühle, dass ein geheimer verborgener Stolz die Ursache meines Forschens
war; warum will ich begreifen, was in sich unbegreiflich ist? —
Aber belehre mich ferner! Ich will nur Sachen fragen, die mein Geschlecht betreffen;
da nun einmal alle Menschen einen überwiegenden Hang
zum Bösen haben, folglich nicht mehr vollkommen
frei sind, wie kann da die göttliche Gerechtigkeit
fordern, dass sie ihre Bestimmung zur Vollkommenheit
erreichen sollen? —
Und doch muss sie das fordern; denn die vollkommene Gerechtigkeit eines
unumschränkten Oberherrn kann ja nicht zugeben, dass ein Untertan
dem andern Untertan recht tut.
Seluniel. Merke wohl, Tabrimon, was ich dir jetzt sagen werde. Sobald Gott
vernünftige Wesen außer sich
schuf, so konnten diese nicht unendlich sein, wie Er; begreifst du das?
Tabrimon. Ja, das begreif‘ ich, sie wären sonst selbst Gott, also Er
selbst gewesen.
Seluniel. Ganz recht! Diese Endlichkeit muss
aber darin bestehen, daß sie nicht alle
Ideen auf einmal, sondern
eine nach der andern haben, dass sie also in der Zeit leben.
Tabrimon. Das ist unwidersprechlich.
Seluniel. Da nun Gott
alles auf einmal erkennt und alles auf einmal ist, die endlichen Wesen aber in
der Zeit leben, folglich ihnen der göttliche
Wille in einzeln aufeinander folgenden Ideen oder Begriffen offenbart werden
muß, so gebar Gott von Ewigkeit her ein Wesen aus sich selbst, welches auf einer Seite
die Unendlichkeit des göttlichen Verstandes umfaßt, alles weiß,
was Gott weiß, selbst Gott ist, aber auch auf der anderen Seite die Fähigkeit
hat, eine Idee nach der andern aus dem göttlichen Verstande zu entwickeln
und an die endlichen Wesen zu offenbaren. Dieser Hochheilige heißt
das ewige Wort, oder der
eingeborene Sohn Gottes. Du kannst leicht einsehen, dass ohne
dieses Mittelwesen durchaus keine Mitteilung oder
irgend eine Gemeinschaft zwischen dem Unendlichen und
dem Endlichen möglich wäre.
Tabrimon. Jetzt geht mir ein großes
Licht auf.
Seluniel. Nun höre ferner: Dieses Wort
oder der Sohn Gottes spricht in jedem endlichen Wesen, folglich auch in jedem
Menschen, auch im verdorbensten, unaufhörlich das große und allgemeine
Gesetz aus, und diese wirksame Kraft in jedem endlichen Wesen heißt der
Geist, der vom Vater und Sohn ausgeht.
Tabrimon. Ach, wie wohltätig sind diese göttlichen Wahrheiten!
Jetzt erkenne ich, was das moralische Gefühl und das Gewissen im Menschen
ist.
Seluniel. Jeder Mensch wird bei genauer
Selbstprüfung finden, dass ihm das Wort Gottes
bei jeder Gelegenheit in seinem Geiste offenbart, was recht ist, und daß er ungeachtet seines Hanges zum Bösen doch
immer noch die Kraft hat, dem Gesetze Gottes zu folgen, wenn er nur will; er braucht nur treu und unaufhörlich gegen seinen Hang zu kämpfen,
so wird jene in ihm wohnende göttliche Kraft ihn
immer mehr unterstützen. Ja, er darf nur ernstlich gut und heilig
werden wollen, so fehlt‘s ihm an Kraft nie.
Tabrimon. Ja, das ist alles vollkommen
wahr, und ich hab‘ es an mir selbst erfahren; allein dem allen ungeachtet
sind doch bei weitem die meisten Menschen böse und werden immer böser;
diese Anstalten zu ihrer Besserung scheinen mir also auch nicht kräftig
genug zu sein.
Seluniel. Ist es denn Gott geziemend, freie Geschöpfe zu zwingen? Und
muss denn alles auf der ersten Stufe des menschlichen Daseins im Erdenleben
geschehen? Kannst du wissen, was in dieser zweiten Periode und in den künftigen
geschieht?
Tabrimon. Verzeihe, Herrlicher! Ich habe wieder töricht geurteilt.
Nun belehre mich auch noch über die übrigen Punkte; besonders in Ansehung
der Versöhnung mit Gott!
Seluniel. Von Herzen gerne! — Der Hang
zum Bösen nahm vom ersten Stammvater an unter den Menschen immer zu, und
wurde immer herrschender und der Verführer breitete sein Reich immer weiter
auf Erden aus.
Tabrimon. Wer ist dieser Verführer?
Seluniel. Ein mächtiger Fürst,
der mit der ganzen Klasse seiner Art vor den Menschen auf der Erde wohnte und aus eigenem Triebe, ohne Verführung von Gott abfiel. Du wirst ihn und seine Verfassung noch kennen lernen.
Tabrimon. Ich habe in meinem vorigen Leben einige Kenntnis von dieser
Sache gehabt.
Seluniel. Die Vorsehung machte allerhand
Anstalten, die Menschen zur Erkenntnis ihres Verderbens und auf den Weg zum
Guten zu leiten; sie errichtete sogar einen eigenen
Staat, zu dem sie ein besonderes Volk wählte, dem sie den
eingeborenen Sohn Gottes zum Regenten gab, der sich ihm unter dem Namen
Jehova sinnlich und auf mancherlei Weise offenbarte; allein auch das
war vergeblich, denn dies auserwählte Volk wurde fast noch schlimmer, als
andere Nationen.
Tabrimon. Das ist entsetzlich und unbegreiflich! — Wer war dies höchst strafwürdige Volk?
Seluniel. Die Juden.
Tabrimon. Die Juden! Nun wundre ich mich nicht mehr, warum dieses
Volk so verworfen und verlassen auf Erden herumirrt, und warum es so ganz sittenlos
und verdorben ist.
Seluniel. Noch mehr: Als das Verderben unter den Menschen allenthalben
wuchs, auch der Versuch mit dem Volke Gottes misslungen war, so traf die
ewige Liebe eine Anstalt, über deren wunderbaren,
weisen und unbegreiflich liebevollen Plan der ganze Himmel erstaunte
und in hohem Jubel feierte. Der Sohn Gottes, oder
der Jehova hatte seinen Heiligen unter seinem Volke, wenn sie das allgemeine
Verderben beweinten, gewisse Winke gegeben, es werde dereinst ein Erlöser
erscheinen, daher entstand eine allgemeine Sage von einem Könige der Juden,
der dereinst auftreten, und ein ewiges Reich des Friedens, worin nichts als
Gerechtigkeit herrschen sollte, stiften würde. Diese Sage wurde nun zwar
allgemein geglaubt, aber jeder erklärte sie sich nach seinen Wünschen,
und da die meisten sehr sinnlich dachten, so erwartete man nichts anderes, als
einen weltlichen Monarchen, der die Juden zu Herren
der Welt machen werde.
Tabrimon. Das war weit gefehlt! Ich erklärte
mir vielmehr diese Sage so, dass ein Lehrer auftreten
sollte, der die menschlichen Pflichten allgemein bekannt machen würde,
damit sich niemand mehr mit der Unwissenheit entschuldigen könnte: weil
das hochgestiegene Verderben die Ohren so verstopft hatte, dass sie die
Stimme des ewigen Worts in ihren Seelen nicht mehr hörten.
Seluniel. Ganz recht! — Aber wer
dieser Lehrer war, das errätst du nicht. Jehova selbst, das ewige
Wort, der eingeborene Sohn Gottes, belebte durch seinen Geist,
ohne Zutun eines Mannes, einen menschlichen Keim in einer sehr frommen
jüdischen Jungfrau, und ward von ihr, also als wahrer
Mensch, aber ohne Hang zum Bösen, folglich vollkommen frei, so wie der
Stammvater der Menschen vor dem Falle war, geboren.
Tabrimon. O, das ist erstaunlich! —
Wie weislich war diese Anstalt getroffen! — Da trat also wieder ein neuer
Stammvater auf. Ach warum weiß das nicht jeder Mensch auf Erden?
Seluniel. Ein großer Teil der Menschen
weiß es, und die übrigen alle erfahren es hier.
Tabrimon. Wer sind denn die glücklichen
Völker, denen das große Geheimnis bekannt ist?
Seluniel. Nur Geduld! Du wirst es erfahren.
Der Sohn Gottes war nun Mensch und zwar einer aus der niedrigsten Volksklasse, obgleich seine damals arme Mutter von königlichem Geschlecht herstammte;
er wurde in aller Heiligkeit erzogen, wuchs heran und zeigte einen außerordentlichen
Verstand und alles übertreffende Kenntnisse.
Tabrimon. Das ist wahrlich kein Wunder!
Seluniel. Endlich, als er nun im Begriffe
stand, als Lehrer aufzutreten und den Zweck seiner Sendung zu verkündigen,
so wagte der Fürst der Finsternis bei Ihm
das nämliche, was er auch bei dem ersten Menschen versucht hatte, denn
diesem Manne traute er nicht; er suchte ihn auf eine blendende und feinere Art
zu verführen.
Tabrimon. Da kam er gewiss übel an!
Seluniel. Allerdings! Er wurde mit seinen eigenen
Waffen aus dem Felde geschlagen. Jetzt fing nun der Sohn Gottes an, seinem Zwecke
gemäß zu wirken. Da die Sinnlichkeit eigentlich der Sitz alles Bösen
im Menschen ist, so griff Er diese recht an der Wurzel an, und eben darum war
Er auch in der niedrigsten Volksklasse Mensch geworden. Er
offenbarte das Gesetz der Sittlichkeit rein und lauter, und belebte es selbst
im höchsten Grade, so dass er das höchste Ideal der vollkommenen
Menschheit wurde; seine Lehren begleitete Er mit außerordentlichen
Taten zum Wohle seiner irdischen Brüder, dass der gemeinste Menschenverstand
überzeugt werden musste, Er sei ein solcher Gesandter Gottes an die
Menschen; mit einem Worte, Er war der liebenswürdigste,
vortrefflichste Mann, der je gelebt hat und je leben wird!
Tabrimon. Das glaub ich! — O mein
Geist jauchzt vor Liebe zu diesem vortrefflichen Namenlosen! — Aber wie
benahm sich sein Volk dabei?
Seluniel. Der Urheber
alles Bösen bot seine ganze Macht gegen ihn auf: denn er begriff
gar leicht, dass dieser Mann ihm und seinem Reiche gefährlich war;
sein Plan ging also dahin, ihn durch den Tod aus dem Wege zu räumen; zu
dem Ende erfüllte er die Obersten und Priester der Juden mit Wut gegen
Ihn, so dass sie Ihn auf alle mögliche Weise verfolgten und eine Ursache
an dem Unschuldigsten aller Menschen suchten, um Ihn mit einigem Scheine des
Rechts schmählich hinrichten zu können.
Tabrimon. Ich begreife wohl, dassäußerst sinnliche, grundverdorbene Menschen diesen Heiligen, der
gerade das Gegenteil von ihnen selbst war, unmöglich lieben konnten, vielmehr
dass sie ihn im höchsten Grade hassen mußten: allein, dass
ihnen ihre Anschläge nicht gelungen sind, das versteht sich von selbst.
Seluniel. Guter Tabrimon so denkt der kurzsichtige Mensch gerade dieses Planes der allergrimmigsten
Bosheit bediente sich der
Sohn Gottes, um seinen erhabenen Zweck auszuführen.
Tabrimon. Wie! — Wie soll ich das
verstehen?
Seluniel. Das will ich dir erklären, und dann wirst du in tiefster
Demut die unergründliche Weisheit Gottes anbeten. Du wirst doch einsehen,
dass der Mann, der das höchste Urbild der sittlichen Vollkommenheit
und das höchste Muster der Heiligkeit sein
sollte, in allen, auch den höchsten Proben, bewährt
werden musste?
Tabrimon. O ja, das sehe ich wohl ein!
Seluniel. Dies war die erste Ursache,
warum der Sohn Gottes freiwillig
sich dem schmählichsten Tode unterzog, dem er ja leicht hätte
ausweichen können; auch hier besiegte er das sittliche Verderben in der
menschlichen Natur in so hohem Grade, dass er in der
schrecklichsten Marter, nahe vor seinem Tode, noch für seine Feinde
bei seinem himmlischen Vater um Vergebung bat.
Tabrimon. O der unaussprechlich Gute!
Seluniel. Der zweite Grund, der ihn bewog,
zu sterben, bestand darin, daß er sich durch diesen Sieg über alles
sittliche Verderben, und durch die Erkämpfung der höchsten, dem Menschen
nur immer erreichbaren Tugend das Recht erwerben musste, ein ewiger
König der erlösten Menschheit zu werden.
Tabrimon. Diesen über alles erhabenen
und herzerhebenden Gedanken fasse ich noch nicht recht.
Seluniel. Du erinnerst dich doch noch
dessen, was ich vorhin sagte, dass die Gottheit für
sich außer aller Zeit, und in der Ewigkeit jedem endlichen Wesen unbegreiflich
und schlechterdings unzugänglich sei; und dass sie zu dem Ende
das ewige Wort ausgebäre, wodurch sie sich
den endlichen Wesen mitteile?
Tabrimon. Ich erinnere mich dessen sehr
wohl, und sehe ein, dass es nicht anders sein kann.
Seluniel. Nun, so wirst du auch erkennen, dass dieser eingeborene
Sohn Gottes, der allein erkennbare Gott, der König und Regent aller endlichen
Wesen, der Repräsentant der Gottheit sein
müsse.
Tabrimon. Ja, das ist ganz richtig.
Seluniel. Da nun dieser Repräsentant
der Gottheit sich mit der menschlichen Natur in Einer Person und unzertrennlich vereinigte, musste da nicht
diese menschliche Natur in Ihm zur höchsten sittlichen
Würde, bis zu seiner göttlichen Natur
hinauf geadelt werden, wenn nicht zwei sich widersprechende Prinzipien
in Ihm stattfinden sollten?
Tabrimon. Jetzt sehe ich das hohe Geheimnis
ein: dieser erhabene und wunderbare Mensch konnte
nicht zugleich ein unvollkommener Mensch und vollkommener Gott sein.
Seluniel. Jetzt wirst du aber auch begreifen
können, dass die menschliche Natur des Sohnes Gottes nicht anders
die höchsten Proben der Tugend und Heiligkeit durchkämpfen konnte,
als auf dem Wege des höchsten Leidens, dessen ein
Mensch nur fähig ist.
Tabrimon. Ja, nun begreife ich alles! — Gott! Welche unergründliche Weisheit! — Gerade durch den
Plan, wodurch der Feind alles Guten seinen Gegner stürzen und besiegen
wollte wird er selbst gestürzt und besiegt!
Seluniel. Aber lieber Tabrimon, wie sehr wirst du erstaunen. wenn ich dir nun auch die
dritte Ursache des Leidens und Sterbens des Gottmenschen erkläre! — Denn dadurch wird die Quelle aller deiner Traurigkeit
versiegen. Du hast sehr recht geurteilt, dass die Gerechtigkeit
vollkommenen Ersatz für alles versäumte Gute, und angemessene Strafe
für alles begangene Böse fordern müsse. Dieser Gerechtigkeit
tat nun endlich der Sohn Gottes vollkommen Genüge,
indem Er als der allerheiligste Mensch die Strafe des größten Lasters
erduldete, und also als ein Sühnopfer für die Sünden der Menschen
starb; in diesem Tode, in diesem Opfer, lieber Tabrimon, liegt die Genugtuung dessen, was du versäumt, und dessen, was du Böses
getan hast.
Tabrimon. O, der
unaussprechlichen Liebe dieses großen und anbetungswürdigen
Erlösers! — O Verklärter! Du eröffnest mir eine unversiegbare Quelle der Seligkeit. Aber noch Eins:
wie kann die göttliche Gerechtigkeit durch die Genugtuung eines andern
versöhnt werden? Nach ihren unveränderlichen Gesetzen muss doch
gerade der ersetzen, der versäumt, und der gestraft werden, der gesündigt
hat?
Seluniel. Ich will dir einen Blick in dieses, einem endlichen
Geiste nie völlig begreifliche Geheimnis eröffnen, der dich
ganz beruhigen wird. Der Sohn Gottes starb, und durch seine göttliche Kraft
verklärte er am dritten Tage seine menschliche Natur, seinen Leib zur Herrlichkeit
des Himmels. Er stand also aus dem Grabe auf und setzte sich auf den Thron aller Welten zur Rechten seines Vaters, wo
er nun in Ewigkeit herrscht und regiert. Nun, merke
wohl, lieber Tabrimon! Du wirst dich noch
erinnern, daß ich vorhin sagte: der Sohn Gottes
spreche in jedem menschlichen Geiste das erhabene Sittengesetz aus; durch
seine, durch Leiden und Tod höchst vollkommen gewordene menschliche Natur
ist dies Wort Gottes in der Seele näher mit
der menschlichen Natur verwandt und ihr ähnlicher
geworden; dadurch wird also die Umkehr vom Bösen
zum Guten, und die Überwindung des Hangs zum Bösen sehr erleichtert. Wenn daher der Mensch ernstlich und unwiderruflich den
Vorsatz fasst, dem Worte Gottes in sich zu
folgen und das Böse mit allem Eifer unablässig
zu bekämpfen: so werden seine Kräfte
durch die menschlichen Kräfte des Sohnes Gottes in
ihm erhöhet, und so wächst er von Kraft zu Kraft, und wird seinem himmlischen Urbilde, das sich wesentlich in ihm
spiegelt, immer ähnlicher. Siehst du nun ein, inwiefern der Erlöser Anteil an der Vervollkommnung jedes
sich bessernden Menschen hat?
Tabrimon. O ja, jetzt begreife ich erst,
wie es möglich ist, dass die schwächeren Kräfte zum Guten, die stärkeren zum Bösen überwinden
können; das war mir ehemals ein unerforschliches
Geheimnis, und doch bemerkte ich an allen wahrhaft tugendhaften Menschen,
dass es wirklich geschah.
Seluniel. Nun höre weiter! In einem
solchen Menschen finden sich jetzt zwei Gestalten, oder eigentlich zwei
Naturen die eine Person ausmachen, so leidet
der neue Mensch der in demselben vereinigt ist und sich von ihm regieren lässt;
und der alte verdorbene Mensch, der unaufhörlich emporstrebt und nach der
Herrschaft ringt. Da nun die immer fortdauernde Abtötung des alten Menschen
viele Schmerzen und immer anhaltende Leiden verursacht, der alte und der neue
Mensch aber nur eine Person ausmachten, so leidet der neue Mensch und in demselben
der Sohn Gottes mit. Ferner, da auch nicht die
bösen Handlungen des Menschen und seine Unterlassungen,
sondern der höhere oder niedrigere Grad des bösen
Prinzips in der Seele, in seinem genauesten Verhältnisse, vor dem Gerichte
der göttlichen Gerechtigkeit die Zurechnung des höheren oder niedrigeren
Grades der Strafe verdient, die soeben
bemerkten Leiden der Abtötung aber sich genau so, wie der Grad jenes Prinzips
verhalten, so wirst du einsehen, dass jeder bekehrte Mensch genau so viel
leide, als er verdient; dass diese Leiden fortdauernde Leiden
des Gottmenschen sind, wozu der Anfang in
seinem eigenen Leiden und Sterben gemacht worden; und daß dieses die eigentliche
wirkende Ursache aller dieser Abtötungen, folglich der Grund aller Genugtuung
sei, dass also der Sohn Gottes in jedem Frommen
die Gottheit versöhnt, indem jeder durch seine Kraft genau so viel leidet,
als sein Grad des Verderbens verdient.
Tabrimon. Ich werde durch diesen Beweis unaussprechlich beruhigt!
O Dank dir, du Herrlicher, für diese Belehrung; auch ich habe von Jugend
auf bis in meinen Tod sehr viel gelitten. Aber noch eine Schwierigkeit ist mir
übrig. Ich begreife nun wohl, wie die Versöhnung
mit Gott geschieht, und bin in Ansehung der Strafe beruhigt; aber weder
durch das Leiden des Erlösers, noch seiner Erlösten,
wird denn doch das versäumte Gut ersetzt, und das ausgeübte Böse
ungeschehen gemacht; und beides ist doch eine unbedingte Forderung der göttlichen
Gerechtigkeit.
Seluniel. Auch diese Schwierigkeit will
ich dir heben; der Sohn Gottes regiert alle Handlungen
der Menschen auf eine unbegreifliche und höchst weise
Art, so dass alles Böse zu lauter guten
Zwecken wirkt; denn da Er in jedem menschlichen Geiste, bösen und
guten, sein Tribunal hat, so weiß Er, ohne Einschränkung
der Freiheit, jeder Handlung eine solche Richtung zu geben, dass sie Gutes
wirkt; denen nun, die sich nicht bekehren, kommt dieses nicht zu gute.
denn sie werden nach dem Grade des bösen Quells ihrer Handlungen gerichtet;
den Frommen aber kann das gewirkte Böse nicht mehr zugerechnet werden,
denn ihr böser Quell ist verstopft, der gute geöffnet, und alle ihre
Handlungen, böse und gute, wirken zu heilsamen Zwecken.
Tabrimon. Wie einem Gefangenen, dem man
eine Fessel nach der andern abnimmt, oder wie einem Blinden, der von Grad zu
Grad sein Gesicht wieder bekommt, gerade so ist mir zu Mute! Nun erkläre
mir doch auch noch, wie das versäumte Gute eingebracht wird?
Seluniel. Bist du nicht unsterblich,
und hast du nicht die ganze Ewigkeit vor dir, in
welcher du unaufhörlich Gelegenheit finden wirst, alles Versäumte
wieder einzubringen? Denn glaube mir, in diesem erhöhteren Zustande deiner
Kräfte kannst du weit mehr ausrichten, als auf der ersten Stufe deines
Lebens.
Tabrimon. Das ist wahrlich wahr, und ich
werde tun, was nur immer in meinen Kräften steht; aber die göttliche
Gerechtigkeit fordert doch, dass jede gute Handlung zu ihrer Zeit, nämlich
dann, wann sie versäumt wird, geschehen muss, dieser versäumte
Zeitpunkt ist doch nicht wieder einzubringen.
Seluniel. Die Gottheit
weiß von keiner Zeit, sie stellt sich
die ganze ewige Dauer eines jeden endlichen Wesens
auf einmal und in einer
Idee vor; seine
ewige Annäherung zu ihr und seine ewig steigende
Vollkommenheit ist ihre Forderung, und diese wird bei jedem Geiste, der wirklich
bekehrt ist, erfüllt; daher sieht sie auch jeden schon in Gnaden an, sobald
er seine ewige Richtung in ihr angefangen hat, insofern sie weiß, dass er in dieser Richtung beharren wird. In dem Verstande Gottes ist die
ganze erlöste Menschheit ein einziger Mensch, von welchem sein Sohn das
Haupt ist; alle einzelnen Menschen aber sind seine Glieder: da Ihm nun das Vergangene
so gegenwärtig ist wie das Zukünftige, und Er die ganze Unendlichkeit
in einen Blick fasst, so sieht Er diesen großen moralischen Menschen
in aller seiner steigenden Vollkommenheit: Er sieht in ihm die vollkommene Menschheit
seines Sohnes, in aller ihrer Wirksamkeit; Er sieht, dass die Quelle
alles Guten im irdischen Leben des Erlösers durch Leiden und Tod eröffnet wurde, und dass dieser große Mensch immer genau in
dem Verhältnisse leidet, in welchem er noch unvollkommen ist, dass
also seiner Gerechtigkeit völlige Genüge geschieht. Siehe, lieber Tabrimon, das ist die Eröffnung des großen Geheimnisses, insofern
ein endlicher Geist davon stammeln kann.
Tabrimon.. Gelobet sei Gott — und
gelobet sei sein Sohn in alle Ewigkeit! — Meine ewige Dauer soll Ihn unablässig
verherrlichen und alle meine Kräfte sollen Ihm gewidmet sein! —
Jetzt bin ich vollkommen beruhigt, und in meinem Geiste
eröffnet sich eine Quelle des ewigen Friedens. Aber sage mir, du Himmlischer, warum sind diese großen Wahrheiten auf Erden nicht bekannt?
Seluniel. Sie sind vielen Millionen Menschen
bekannt.
Tabrimon. Gott! — Wer sind diese
Glücklichen?
Seluniel. Lieber Tabrimon!
— die Christen!
Tabrimon. Allmächtiger
Gott — und Christus ist der eingeborene
Sohn Gottes, der Erlöser?
Seluniel. Ja, kein anderer!
Tabrimon. Während deiner Erzählung
erwachte eine geheime Ahnung in mir, die mir aber jetzt erst deutlich wird.
O Du Unbegreiflicher! Wie dunkel sind Deine Wege! —
O vergib, Du menschgewordener Gott — dass ich Deinen Namen hasste,
— nun will ich Dich desto stärker lieben und anbeten. Aber sage mir
doch, Du Verklärter, wie kommt es, dass diese erhabene Anstalt zur
Erlösung der Menschen abermals misslingt? —
Die Christen sind ja, meines Bedünkens, noch weit schlimmer, als die Juden?
Seluniel. Das ist natürlich; je heller das Licht der Wahrheit ist, desto größer ist der Grad der Bosheit derer, die es nicht
erkennen wollen. Du hast aber auch die ganze Christenheit nicht kennen
gelernt; sie enthält doch nach Verhältnis weit mehr gute und heilige
Menschen, als andere Völker.
Tabrimon. Warum ist aber die Wahrheit
von Christo nicht
allen Völkern bekannt geworden?
Seluniel. Die ernstliche
Umkehr des Willens vom Bösen zum Guten ist
dem Christen beinahe so schwer, als dem Nichtchristen,
und in jedem Menschen spricht die Stimme des Gewissens laut, in jedem sagt der
menschgewordene Sohn Gottes, was recht und gut ist, ob ihn gleich der Mensch
dem Namen nach nicht kennt. Wenn es nun unter den Christen etwas leichter ist, gut zu werden, so ist auch die Verantwortung und die Zurechnung
bei dem, der es nicht wird, desto schwerer, und wenn ein Nichtchrist
sich der Heiligkeit widmet, so wird sein
Lohn desto größer, und bei dem, der es nicht tut, die Strafe desto
erträglicher sein. Gott ist gerecht, und seine Gerichte sind gerecht! —
Die christliche Religion wird immer mehr ihr Licht verbreiten
und nach und nach alles aufklären. So wie die Kräfte
des Reichs der Finsternis wachsen, so werden
auch die Kräfte des Reichs des Lichts zunehmen, und
endlich, wenn das Maß der Bosheit voll ist, so wird
im letzten schrecklichen Kampfe der Sohn Gottes über den Fürsten der Finsternis und alle
seine Anhänger siegen und an den Ort der Qual verbannen,
wo sie niemand mehr verführen, niemand mehr schaden können.
Tabrimon. O ihr Herrlichen, wie bin ich nun so selig! Aber ich brenne
vor Verlangen, den Herrn zu sehen, und Ihn in seinem Anschauen zu verherrlichen;
wie unaussprechlich gut ist Er, dieser Mensch auf dem Throne Gottes! —
Ein Mensch — mein Bruder! — Gott und Regent aller Welten! Welch
ein Geheimnis! Welch eine Quelle von unbegreiflichen Freuden, und doch
so wahr, so angemessen allen menschlichen Bedürfnissen! — Dürft
ihr mich denn nicht zu Ihm führen, ihr himmlischen Brüder?
Abdriel. Du sollst ihn sehen und dich mit
unaussprechlicher Freude freuen; erst musst du aber mit himmlischer
Herrlichkeit verklärt werden und dein Strahlengewand
anziehen.
(Tabrimon fängt an zu strahlen, indem er
mit Herrlichkeit bekleidet wird; er verstummt und feiert! Seluniel
aber verwandelt seine Gestalt.)
Seluniel. Kennst du mich nicht mehr, Tabrimon.
Tabrimon. Du bist mein Vater! —
O wie überschwänglich ist die Güte und Barmherzigkeit Gottes! — Nun hast du auch die Belehrung vollendet, die du angefangen hattest.
Seluniel. Aber nur hier konnte ich sie
vollenden, denn dort wusste ich nicht mehr, als du. Komm nun, lieber Tabrimon
zum Anschauen des Herrn!
Tabrimon. Führt mich hin! —
Gott schenke mir nur Kraft, dass ich die unaussprechliche
Empfindung, die dann meinen Geist erfüllen wird, möge ertragen können. S.140ff.
Aus: Heinrich Jung-Stilling, Szenen aus dem Geisterreich, 1. Band, 11. Szene,
Karl Rohm Verlag, BietigheimDie
Hölle
Adriel und Mahlon (im Reiche des Lichts).
Adriel. Du weißt doch, dass
ich im Reiche der Finsternis gewesen bin?
Mahlon. Ich hörte, dass ein
gewisser Ilai von dort ins Kinderreich
übergeführt worden, vielleicht bist du sein Führer
gewesen?
Adriel. Ja, und ich freute mich des Auftrages unaussprechlich, denn
ich kannte ihn in seinem Erdenleben, und seine Verdammnis,
so gerecht sie auch war, betrübte mich sehr.
Mahlon. Erzähle mir doch seine Geschichte,
mein Bruder!
Adriel. Sehr gerne. Die Gerechtigkeit
des Allerhöchsten und seine unaussprechliche
Liebe wird unsere Freude erhöhen und wir werden uns durch diese
Erzählung eine hohe und heilige Feier bereiten. Siehe, wie dort ein Kreis
himmelhoher Bäume purpurne Schatten über ein blumichtes Grün
hinstreut? Dort ruhen wir so lange und ich erzähle.
Mahlon. Hier ist‘s schauerlich schön,
ernste Stille um uns her, lieber Adriel! Ich
bin aufmerksam.
Adriel. Ilai
war der Sohn eines frommen Bürgers zu Wallental; seine Eltern
erzogen ihn nach der gewöhnlichen Art; er wurde in Schulen und Kirchen
zur Erkenntnis der Religion geleitet; in seinem väterlichen Hause sah er
das gute Beispiel eines christlichen Wandels, und jede Unart wurde durch Warnen,
Ermahnen und Bestrafen bekämpft.
Mahlon. Dein Ausdruck: nach der gewöhnlichen
Art, scheint mir doch zu sagen, dass es bei den Eltern am ernstlichen Ringen,
Wachen und Beten für ihr Kind gefehlt haben mag.
Adriel. Du hast recht geurteilt, Lieber, es blieb bei der gewöhnlichen
christlichen Erziehung; daher wuchs bei dem Knaben das Unkraut stärker als der Weizen, so wie er größer wurde,
so nahm auch die Menge seiner sinnlichen Bedürfnisse zu. Zuweilen hatte
er wohl fromme Anwandlungen von Rückkehr, von Besserung und Ernst, recht
gut und fromm zu werden; allein bei der ersten Gelegenheit zum Genuss schwanden
alle diese Vorsätze wie ein Hauch hinweg. Er wurde also immer sinnlicher,
immer entfernter von unserer himmlischen Natur, ohne deswegen nach dem Begriffe
der Menschen lasterhaft zu sein; sie hielten ihn im Gegenteil für einen
braven, ordentlichen und ehrlichen Mann.
Mahlon. Bei meinen Gesandtschaften auf die Erde habe ich bemerkt,
dass es der Menschen von dieser Gesinnung am meisten gibt; und daher kommt
auch eben die starke Bevölkerung des Reichs der Finsternis:
denn wie kann ein solches Wesen zur Bürgerschaft des
Reiches Gottes geschickt sein.
Adriel. Du hast recht, Mahlon, so hab‘ ich‘s auch gefunden. Das Leben des
Ilai floß so wie gewöhnlich dahin, er war ein guter Bürger,
ein Hausvater ohne Menschentadel und ein äußerlicher Freund der Religionsgebräuche; er tat nichts namhaft Böses, aber auch ebensowenig wirklich
Gutes, und der Vorsätze zur wahren Besserung wurden immer
weniger. Endlich rückte die Zeit seines Abschieds heran; er bekam die Auszehrung
und merkte bald, dass seine Stunde nun nahe sei: jetzt nahm er seine Zuflucht
zu seinem Religionslehrer; anstatt dass nun dieser Mann noch jetzt auf
die gründliche Erkenntnis der Beschaffenheit seiner sittlichen Natur und
ihrer gänzlichen Unfähigkeit zum Reiche Gottes hätte dringen und ihn zur wahren Selbsterkenntnis hätte führen sollen, wodurch der unüberwindliche Vorsatz würde
entstanden sein, von nun an seinem erhabenen Zweck gemäß zu leben,
der ihn dann auch wenigstens auf die Grenzen des Kinderreichs gebracht und nach
und nach weitergeführt haben würde; statt dessen wies er ihn auf die
überschwängliche Genugtuung des Leidens und Sterbens
des Welterlösers.
Mahlon. Gott, wie mancher geht doch durch den so übel angewandten
Begriff des größten, wichtigsten und herrlichsten aller Geheimnisse
verloren!
Adriel. Ja wohl, und es ist erschrecklich,
dass gerade diejenigen, die die Lehre von der Versöhnung
predigen und anwenden sollen, so selten selbst die Wahrheit erkennen! Viele
glauben und lehren zu viel, viele zu wenig, und nur einzelne göttlich
gesinnte Männer treffen das Ziel; indessen gehen die armen Menschen verloren. Die Wege des Erhabenen sind
unerforschlich; aber immer fallen mir die Worte unseres Freundes, des
hohen Sehers ein, die er ehemals sagte:
Wenn er seine Seele wird zum Schuldopfer gegeben haben, so soll er Samen säen,
in die Länge leben, und des Herrn Wohlgefallen wird durch seine Hände
von statten gehen. (Jes. 53, Vers 10).
Sie werden noch errettet werden, die armen Menschen, unsere Brüder! —
Unserem Ilai kamen indessen die armseligen Tröstungen des Geistlichen sehr erquickend vor, denn
so kostete ihn das Seligwerden keine Mühe;
er freute sich also auf die nahe Vollendung und auf die überschwängliche
Seligkeit, in welcher er schwelgcn wollte; seine Äußerungen wurden
für sehr erbaulich ausgeschrien, die Nachbarn kamen an sein Bette, um Sterben
zu lernen; der Prediger gab das alles für Wirkungen des Verdienstes
Christi aus, und so wurden die elenden Missbegriffe von der gesegneten
Menschenerlösung immer mehr befestigt. Wenn nur solche unnützen
Knechte des Erhabenen, die dem hohen Amte ihrer Bestimmung so schlecht vorstehen, wüssten,
welch ein schreckliches Gericht auf sie wartet. —
Ilai starb und erschien im Schattenreiche; hier konnte er sich nun gar nicht finden, er fühlte das Heimweh nach dem,
was er auf ewig verlassen hatte, mit unaussprechlichem Jammer, denn das
ganze Wesen seines Geistes war auf die verlorenen sinnlichen Gegenstände
und ihren Genuss isoliert; nur der einzige Trost blieb übrig:
er würde im Himmel noch weit größere Vergnügen wiederfinden;
an Wirken und Tätigkeit dachte er nicht, die Liebe zum allgemeinen Besten
hatte nie in seinem Herzen gekeimt, viel weniger Wurzel geschlagen. Hier musste
er eine geraume Zeit warten, bis sich sein Geist geordnet und wieder eine feste
Existenz angenommen hatte. Nun trug sich‘s zu, daß ich vom Erhabenen
den Auftrag bekam, im Schattenreiche Gericht zu
halten, dort fand ich den Ilai, unter
andern auch fähig und bestimmt; er wurde also enthüllt, und in seiner
ganzen Lebensrolle war nicht ein einziges Samenkörnchen, das in unsern
Boden gesäet werden konnte. keine einzige Tat, die
himmlischen Ursprungs, himmlischer Natur war; — die bloße,
nackte, aber mit keiner einzigen guten
Handlung befruchtete Liebe zum Erlöser, war ihm noch kurz vor seinem Tode wesentlich geworden; dieser
Magnet blieb ihm also. und dieser war stark genug, um ihn dereinst zu uns herüberziehen
zu können; jetzt aber musste erst jede sinnliche Neigung durch lange
und schwere Leiden ausgetilgt und sein Geist
in den Kinderstand zurückgeführt
werden, folglich wurde er ins Reich der Finsternis verwiesen. Kennst du auch die Beschaffenheit der Hölle und ihrer drei Reiche,
lieber Mahlon?
Mahlon. Nein, mein Bruder, ich bin noch
nicht lange verklärt, meine Verrichtungen waren bloß auf unsere
drei Reiche und auf die Erde eingeschränkt; vermutlich bin ich auch
noch nicht stark genug, in jene schrecklichen Gegenden versandt zu werden. Aber
darf ich dich bitten, lieber Adriel, mir die Hölle zu beschreiben?
Adriel. Gerne will ich dir den furchtbaren
Aufenthalt schildern, und wir werden dann den demütigsten und innigsten
Dank dem Erhabenen feiern, der uns bewahret und
in diese seligen Wohnungen geführt hat.
Mahlon. Mein ganzes Dasein ist aufmerksam.
Adriel. Die Erde wurde vor ihrem gegenwärtigen
Zustande auch von Menschen bewohnt; die ganze Oberfläche derselben war
vollkommener, und der menschliche Körper nach dem gewöhnlichen Laufe
der Natur unsterblich; alles war dem
himmlischen Urbilde näher wie jetzt. Der Stammvater dieses Geschlechts
war König aller seiner Nachkommen, und das Gesetz, wonach er regieren sollte,
wie immer, kein anderes als das Gesetz der Liebe oder
des allgemeinen Besten. Lange herrschte dieser König unter dem Einflusse
des Herrn und die Vervollkommnung und Beglückung aller seiner Kinder und
seiner selbst stieg mit jeder Periode immer höher. Endlich fing dieser
Fürst an, seinen Glanz und seine Herrlichkeit stärker
und lebhafter zu empfinden, als seine Pflicht gegen seinen Schöpfer,
und jetzt begann er eigenmächtig zu regieren;
er machte sich selbst zum Gott,
setzte das Gesetz des eigenen Besten an die Stelle des allgemeinen, und
nun folgte natürlich, daß aller Einfluss vom Herrn aufhören
musste: die göttliche Wahrheit und die göttliche
Liebe, die dem allgemeinen Besten wesentlich
sind, hörten also auf der Erde auf, und dagegen wirkten die
unzertrennlichen Eigenschaften der Eigenliebe, Falschheit und Grimm,
unaufhaltsam allenthalben. Jetzt war der Jammer unaussprechlich.
—
Jeder suchte nur sein eigenes Glück, nicht sein eigenes
Bestes, denn das ist vom allgemeinen ganz unzertrennlich, folglich wollte
jeder befehlen, aber nicht gehorchen, jeder wollte frei, das ist gesetzlos sein,
aber jeden andern unter seine eigenen Gesetze zwingen; es war also nicht anders
möglich, als dass ein Regiment entstehen musste, das sich bloß auf die Macht des Stärkeren und nicht
auf Vernunft und Liebe oder auf Wahrheit und Güte gründete; mit einem Wort: es entstand das höchste
Ideal des Despotismus. Nun denke dir Unsterblichkeit und den hohen Grad
der Vernunft- oder vielmehr Verstandes-Vollkommenheit noch dazu, verbinde das
alles nun noch mit so lang gestiegenen Kräften und vermehrten Wirkungsmitteln:
so ist dein Begriff von der höllischen Staatsverfassung vollendet.
Mahlon. Ich durchschaue all‘ den
Jammer vollkommen.
Adriel. Der Erhabene ließ diese
Rotte so lange toben, bis es die irdische Natur nicht mehr aushalten konnte,
und nun war‘s Zeit, ihnen eine Wohnung zu bereiten, die sich genau zu
ihrer Verfassung schickte, und diese Wohnung ist die Hölle. Auf der Erde
fingen die Elemente an, in Unordnung zu geraten; Feuer und Wasser, Erdbeben
und Sturmwinde, alles tobte so fürchterlich untereinander, daß der
ganze Planet zerrüttet wurde und die ganze Oberfläche im Wasser unterging;
in diesem Tumult wurden auch alle menschlichen Körper zerstört und
jeder Geist behielt nur die feinere Hülle übrig, die nun je nach den
herrschenden Leidenschaften auch eine Figur annahm, so dass die
schrecklichsten Gestalten aller Art entstanden
und einer dem andern vollends zum Schrecken und Abscheu wurde. So erschien die
ungeheure Menge im Schattenreiche; dem Thronfolger Michael wurde der Befehl erteilt, sie zu richten; sie wurden in allen ihren Gräueln
bloßgestellt und dann in den Abgrund weggeblitzt.
Nachher bekam ihr König aus weisen Ursachen die Erlaubnis, seine
ehemalige Wohnung nebst den Seinigen, so oft er wollte, zu besuchen; wie sehr
er diese Erlaubnis benützt hat, das lehrt die Geschichte der Menschheit,
und das große Geheimnis der Versöhnung wird in seiner Vollendung
zeigen, wie sehr auch das zum allgemeinen Besten diente. Welche
Mittel aber im Abgrund der göttlichen Weisheit und
Liebe noch verborgen liegen, um auch endlich die Millionen verarmter
Geister zu retten (denn gerettet werden sie gewiss), das wird die große Zukunft entwickeln und uns allen eine reiche
Quelle unnennbarer Seligkeit sein.
Mahlon. Es stehen uns also noch große Dinge bevor, lieber Adriel, wir wollen sie immer in Demut erwarten und den Herrn verherrlichen.
Adriel. Das ist unsere Pflicht. Die fürchterliche
Wohnung jenes verworfenen Geschlechts liegt auf
der Abendseite des Schattenreiches, und besteht ebenso, wie der Himmel,
aus drei Regionen;
die erste
heißt: das Reich des Jammers;
die zweite: das Reich
der Finsternis, und
die dritte:
das Reich des Feuers.
Wenn man nun im Schattenreich sein Angesicht vom
Licht ab gegen Abend richtet, und dann den Zug dorthin beginnt, so kommt
man endlich so weit, dass das Licht des Himmels
ganz verschwindet, dagegen entdeckt man vor sich
in großer Ferne, ganz niedrig über dem Horizonte, einen dunkelroten
Streifen, der sich zur Linken und Rechten sehr weithin erstreckt; er
hat das Ansehen wie Eisen, das eben anfängt zu glühen, und durch einen
schwarzen Rauch schimmert. Sowie man näher kommt, sieht man ein zackiges,
schroffes Gebirge, welches sich nach beiden Seiten in ungeheure Weite ausdehnt.
Vor diesem Gebirge ist ein ödes Tal, in welchem eine unzählbare Menge
armer Geister in schrecklicher Unruhe wie lauter schwarze Schatten durcheinander
schwärmt. Die ganze Gegend wird über das Gebirge her ebenso erhellt,
wie die fernen Gefilde von einer Feuersbrunst in
der Nacht. Von Zeit zu Zeit kommen die Fürsten der
Hölle in Riesengröße, aber mit der schrecklichsten Verzerrung der menschlichen Figur, so daß alle Glieder,
je nach den herrschenden Leidenschaften, etwas Ungeheures an sich haben,
in eine Glutwolke gekleidet, über das Gebirge herüber, wo sie alsdann
die zur Verdammnis reif gewordenen Geister aussondern, und mit allem Grimme
des Despotismus vor sich hin über die Gebirge jagen, und jedem die ihm
zukommende Region und Stelle anweisen. Sowie man sich über das Gebirge
hinschwingt, sieht man in der tiefsten Ferne abermals ein weit und breit sich
erstreckendes, noch weit höheres und schrofferes Gebirge, über welchem
die schrecklichste Glut bis hoch hinauf in die ewige Nacht tobt. Es sieht aus,
wie wenn Flammen in die Finsternis bohrten, um
sich Luft zu machen, und man hört in tiefster Ferne ein dumpfes Gebrülle,
wie von tausend Donnern, wovon die Grundfeste der Hölle zittert. Die ganze
Region, die man jetzt übersieht, ist das Reich des
Jammers; die ganze Fläche besteht aus lauter verworren durcheinander
liegenden ungeheuren Felsmassen, um welche sich enge tiefe Täler hinwinden;
hier entdeckt man nirgends etwas Grünes, sondern alles, was hin und wieder
einzeln hervorkeimt, sieht aus wie der Tod und Verwesung,
und der Boden erscheint wie ein schwarzer Gries und Asche. Die
hierher verwiesenen Geister wohnen in den weiten und geräumigen Höhlen,
welche von den Felsenmassen gebildet werden.
Mahlon. Das ist wohl ein jammervoller Aufenthalt; aber womit beschäftigen
sich diese Geister?
Adriel. Jeder beschäftigt sich je
nach seinen Neigungen und Leidenschaften; sie suchen
sich in dieser schrecklichen Einöde dasjenige
beständig wieder zu verschaffen, was sie im Leben besessen und genossen
haben; viele bestreben sich, schöne Paläste zu bauen, und wenn das
jämmerliche Ding fertig ist, so stürzt es ihnen über dein Kopfe
zusammen; andere suchen Gärten anzulegen, und in der Hölle
ein Paradies zu pflanzen, indem sie die einzelnen giftigen Gewächse
zusammen ordnen; allein die Ausdünstung dieser Gräuel betäubt sie, und wenn sie sich umsehen, so ist alles wieder Graus
und Ruin. Noch andere suchen Gesellschaft, in welcher sie sich vom vergangenen
Genuss unterhalten; viele geraten darüber in die traurigste
Verzweiflung, so daß sie ins unendliche Leere hinstürzen,
und manchmal so lange herumirren, bis sie von ihren Fürsten
wieder herbeigegeißelt werden; andere erhitzen
sich gegeneinander mit einem solchen Grimm, dass sie fürchterlich kämpfen, bis sie endlich, von einem Stärkeren gezüchtiget,
wieder in ihre Höhle zurückkehren. Nichts aber ist schändlicher
und schrecklicher, als wenn ein männlicher und weiblicher Geist sich gegeneinander
zur Wollust erhitzen, und dann in der höchsten Glut
der Leidenschaft auf einmal einer dem andern in der abscheulichsten Drachengestalt erscheint; mit dem schrecklichsten Wehklagen fahren sie dann ohne den
geringsten Genuss aus der Umarmung zurück, und fliehen von einander,
so weit sie können. Mit einem Worte, des mannigfaltigen Jammers ist kein
Ende.
Mahlon. Werden denn die Geister aus diesem
Reiche nicht in die andern versetzt; oder kommen wohl auch zu Zeiten Bewohner
der übrigen Reiche in dieses erste?
Adriel. Über dieses alles will ich
dir vollkommenen Aufschluss geben. Du weißt nun, dass die Hölle
in ihren drei Abteilungen keinen andern Zweck hat, als die Geister, die sich
durch gelinde Mittel in ihrem Erdenleben nicht wollten zu ihrer Bestimmung leiten
lassen, hier durch immer schärfere nach und nach dahin zu bringen, dass
sie endlich ihre wahre Richtung zur Vervollkommnung und Beglückung nehmen.
Da aber hier alle sinnlichen Vergnügungen gänzlich aufhören,
so finden sie auch für ihre Begierden und Leidenschaften keine Nahrung mehr; es kommt also bloß darauf an, daß sie ihre Leidenschaften
verleugnen und töten, und den unüberwindlichen
Willen fassen, von nun an zum allgemeinen Besten zu wirken. Sobald sie nur anfangen, diesem Willen gemäß zu handeln,
sich unter alle verdammten Geister zu demütigen,
jedem zu gehorchen, so lange er nichts Böses befiehlt,
und allenthalben Gutes stiften: so hört der
Stachel des Todes auf zu wüten, und der Einfluß vom Herrn beginnt
in dem Verhältnis ins Innerste des Geistes
zu wirken, in welchem der Wille zur Wahrheit steht. Sanftmut
und Liebe überwinden Satan
und Hölle. An Mitteln zu dieser Erkenntnis fehlt es auch dort nicht,
doch ist die Wiederkehr immer unendlich schwerer als im ersten Leben, und wehe
dem, der sie bis hieher spart. So wie nun ein Geist auf seiner Rückkehr
im Guten zunimmt, so wird auch seine Gestalt wieder regelmäßiger
und menschlicher, und die Gewalt des Mächtigen in
der Hölle über ihn wird immer geringer; er kann sich also aus
dem dritten Reiche ins zweite, und so wie er zunimmt, ins erste begeben; früher
oder später wird ihm dann vom Erhabenen ein Engel zugeschickt, der ihn stärkt, unterrichtet und schleuniger befördert,
und wenn er die wahre Kindereigenschaft erlangt
bat, so wird er vollends durchs Schattenreich hinüber
ins Kinderreich geführt.
Mahlon. Einem solchen Geiste muß
bei seiner Ankunft im Himmel unaussprechlich zu Mute sein. Aber erzähle
mir doch weiter, mein Bruder, wie die andern Reiche beschaffen
sind.
Adriel. Hinter dem zweiten Gebirge liegt
das Reich der Finsternis; hier ist die Gegend noch
weit schrecklicher. Ungeheure Felsenmassen liegen übereinander her, und bilden fürchterliche Höhlen und Schlünde,
in denen Riesengestalten, deren fürchterlicher Anblick einen Sterblichen
schon töten würde, umherstürmen und sich untereinander verfolgen;
alles zittert und bebt beständig und allenthalben droht Einsturz. Hier
sieht man nun auch Satans eiserne Wohnung; tief über
dem Horizont glüht schrecklich in der Ferne eine Feuerwelt, die
weit um sich her mit krachendem Donner in die endlose
Nacht blitzt; in der Mitte dieses Kreises erscheint eine dunkle Ausdehnung wie rotglühendes
Eisen, die mit einer großen Stadt ausgefüllt ist, welche gerade
so aussieht, als wenn sie durch eine Feuersbrunst ruiniert wäre. Unter
diesem Weltruin hinter der dritten Gebirgsreihe befindet sich das
Feuerreich. Hier geht nun die Wut und Zerstörung
über allen Begriff! Das Ganze besteht wieder aus ungeheuren Felsenmassen,
die aber in einem wallenden Meere, wie Inseln umher zerstreut liegen; dieses
Meer scheint wie schmelzendes Pech und Schwefel und
wird unaufhörlich durch Blitze aus jenem Weltruin
brennend erhalten. Hier sind nun die Geistergestalten am abscheulichsten,
und ihr Gewühl und Getose geht über alle Vorstellung.
Mahlon. Schrecklich, schrecklich! Aber welche
Arten von Sündern werden wohl vorzüglich in diesen schrecklichen
Ort verwiesen?
Adriel. Nur wenige
kommen gleich nach ihrem Tode in das Feuerreich; bloß die
Christushasser, und dann auch alle, die
mit Wissen und Willen und beharrlich zum allgemeinen Schaden, und zwar in hohem
Grade gewirkt haben, werden gleich nach ihrem Abschiede aus der Welt hierher
verbannt, die meisten kommen aus den übrigen Höllenreichen
nach und nach hieher; denn wenn sich ein Geist
in den ersten Graden der Zucht nicht bessert, sondern immer boshafter wird, wie dies sehr häufig geschieht, so gerät er schließlich auf
diese letzte Stufe, wo nun die äußersten Mittel, die ein endlicher
Geist ertragen kann, angewendet werden, ihn zur Rückkehr zu bringen.
Mahlon. Wo fandest du aber den armen
Ilai, und wie fandest du ihn?
Adriel. Nachdem ihm jeder Versuch, irgend
eine gewohnte Leidenschaft zu befriedigen, misslungen
war, er auch keine Kraft der Bosheit hatte, um
wie andere Höllenbewohner, Pläne aller Art zu entwerfen und auszuführen,
so wurde er ein allgemeiner Gegenstand des Spottes und
der Verachtung; aber es wurden auch keine gewaltigen Pläne gegen
ihn gemacht, folglich war keine Gelegenheit für ihn da, alle
seine Leidenschaften in ihrer Hitze zu erhöhen, oder sich in der
Bosheit zu vervollkommnen; im Gegenteil, sie verloschen allmählich und wurden immer schwächer; so wie dies
geschah, wuchs die Liebe zum Erlöser und das
Verlangen nach seinem Reiche. Endlich, als er nun von allem Eigenen entblößt
war, wurde ich beauftragt, ihn abzuholen. Er war wie ein Träumender, als ich ihn herüber führte, und für seine
Empfindungen gibt es keine
Worte.
Mahlon. Das glaub‘ ich; den Ilai
will ich kennen lernen. S.40ff.
Aus: Heinrich Jung-Stilling, Szenen aus dem Geisterreich, 1. Band, 4. Szene,
Karl Rohm Verlag, Bietigheim