Karl Joel (1864 – 1934)
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Deutsch-jüdischer
Philosoph, der in seinen frühen Jugendjahren von seinem früh verstorbenen Vater geprägt wurde, welcher nach seinen Worten eine »heiter beschauliche Gelehrtennatur« war, die den »altererbten Beruf des Rabbiners nicht nur in freiester Toleranz« im Kontakt mit andersgläubigen
Geistlichen ausübte, sondern mit einem universalen philosophischen
Interesse verband. Beeindruckt vom frühen Nietzsche suchte Joel den »Weg vom Naturalismus
durch Romantik zur Klassik, vom naiven Hängen an der Realität
durch Sehnsucht und Gärung zur reifen Erfassung der Welt aus dem
Geist«. Durch »Vergleichung der altgriechischen
Naturphilosophie mit der Naturmystik der Renaissance und der Romantik« kam er zu dem Schluss, dass die Mystik
ein wichtiger »Trieb und Quell der Erkenntnis« für die menschliche Seelenentwicklung ist. |
Inhaltsverzeichnis
Das Universale in der mystischen Seelenerweiterung
Mystische Religiosität bei den antiken Naturphilosophen
Das verkannte religiöse Element, Das Absolute, Inspiration, Eschatologie
Das
Universale in der mystischen Seelenerweiterung
In der Mystik zuerst weitet sich die Seele
ins Universale; denn die Welt musste zuerst erlebt d. h. erfühlt
werden, ehe sie erkannt wird. Im Fühlen erfasst die Seele noch ihren
Gegenstand unmittelbar in Einheit mit sich selbst, und eben in der Mystik erfasst
so das seiner Natur nach ins Unbegrenzte schwellende Gefühl
zugleich das Unbegrenzte selbst als Gott und Natur.
Einheit der Seele mit Gott und Natur ist so, was
die Mystik erlebt und verkündigt. Die alten Naturphilosophen, bisher meist
einseitig als Physiker vorgeführt, deren nun einmal vielfach bezeugte poetische
und religiöse Elemente unverstanden als Archaismen, Konzessionen oder Widersprüche
abgetan wurden, bekamen nun in der von mir mit bewußter ergänzender
Einseitigkeit herausgearbeiteten Fühlung mit ihrem mystisch-lyrischen Zeitgeist
ein neues Gesicht und leuchtendes Leben und gewannen innere Erklärung und
Konsequenz und zugleich typische Bedeutung durch die in Parallelzügen belegte
Verwandschaft mit späteren Werdezeiten der Naturspekulation. S.13
Aus: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Mit einer
Einführung herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt
Erster Band: Paul Barth / Erich Becher / Hans Driesch / Karl Joel / A. Meinong
/ Paul Natorp / Johannes Rehmke / Johannes Volkelt. Leipzig / Verlag von Felix
Meiner / 1921
Mystische Religiosität
bei den antiken Naturphilosophen
Das
verkannte religiöse Element
Die letzte Betrachtung ergab für die alten Naturphilosophen eine lyrische,
schließlich mystische Schwellung des Selbstgefühls, dann eine echt
mystische Erhebung alles Seelischen und Lebendigen überhaupt, endlich eine Erhebung des ja höchstbeseelten Menschen zur Weltbedeutung, zum Typus
der Naturerkenntnis, zum Mikrokosmos, kurz eine Vermenschlichung und damit Beseelung
der Natur.
Insgesamt also ergab sich die Einheit
von Seele und Natur. Aber die Mystik enthält und fordert mehr:
die Einheit beider mit Gott. Vier Einheiten zeigten
sich darin gegeben:
die Einheit der Seele mit Gott,
die Einheit Gottes mit der Natur,
die Einheit der Natur mit der Seele, endlich als
Folgerung aus diesen
die Einheit der Natur selbst.
Die Natur, die Welt gibt
sich zunächst als eine Mannigfaltigkeit, die in sich keine Forderung trägt,
als Ganzes, als Einheit zusammengefasst zu werden.
Die Einheit der Welt ergibt sich erst, wenn die Welt gleich der an sich einheitlichen
Seele, wenn Gott als Weltseele,
als Band der Welt und der Seele gefaßt wird; also ergibt sich die Einheit
der Welt erst aus der Einheit von Gott, Seele, Welt, und das heißt aus
der Mystik. Man kann den Begriff der Natur nicht fassen, man kann die
Natur nicht denken, ohne sie als Ganzes, eben im Begriff Zusammenzuschließendes,
als Einheit erfaßt zu haben. Die Erfassung der Natur setzt die Erfassung
ihrer Einheit voraus; die Erfassung ihrer Einheit stammt aus der Mystik: somit
stammt der Anfang der Naturerkenntnis
aus der Mystik.
Es ist wohl klar: die Natur kann bei ihrer Buntheit nicht aus sich heraus als
Einheit gefasst werden, sie kann es erst, wenn anderes neben ihr gefasst
ist. Die Natur präsentiert sich als Ganzes erst von einem anderen als Standpunkt
aus gesehen; die Natur als solche präsentiert sich erst als vis-à-vis der Seele, als das große Andere, das
Objekt gegenüber dem Subjekt. Also muss das Subjekt, die Seele
sich selbst erfassen, um das Objekt, die Natur zu erfassen. Daher der Anfang
der Naturphilosophie im Zeitalter des lyrischen Ichgefühls, der mystischen
Seelenbetonung, des erwachten Menschenbewusstseins. Aber das bloße
fremde Gegenüber des seelischen Subjekts und des Naturobjekts genügt
nicht; es läßt die Natur unverstanden als das Fremde zur Seele, und
es eint die Natur nur negativ, dem Subjekt gegenüber; denn der Objekte
als solche können viele sein. Nur das Subjekt, die Seele ist an sich Einheit.
Das Verständnis, die Einheitsfassung der Natur verlangt also, dass sie gleich der Seele verstanden wird, verlangt damit ein tertium, in dem Seele und Natur geeint sind. Die Welt kann nur
nach der Seele verstanden werden, wenn es eine Weltseele gibt. In
Gott als Weltseele konzentriert sich also die erste mystische Erfassung der
Natur.
Die Erfassung des Göttlichen als Voraussetzung der
Naturerfassung — das scheint hier nur logische Konstruktion. Wollen
denn die Tatsachen dazu stimmen? In der Renaissance gewiß, aber sie hat
mehr als ein Jahrtausend tiefster religiöser Erziehung hinter sich, die
der klassischen Antike fehlt. Sollten die Griechen gerade aus religiöser
Kraft, fast der einzigen, in der sie doch dem Orient nachstehen, gerade die
Philosophie geschaffen haben, durch die sie doch das Volk der Aufklärung
und Skepsis wurden? Es ist bedenklich, ein Volk von reicher Geschichte wie die
Griechen und eine geistige Allgemeinerscheinung wie die Religion als feste,
gleichmäßige Bestimmtheiten anzusehen. Gewiß, die Griechen
sind das Volk des Individualismus, der kritisch wird. Aber es gab für den
Individualismus eine junge Zeit, da er noch wesentlich positiv, wesentlich Subjektivismus,
da er noch mehr Gefühls- als Intellektsteigerung war, und es gibt für die Religion eine Form, in der sie den Individualismus
voll in sich aufnimmt, eben die Mystik. In jener
stark subjektiven, lyrischen Epoche, von der wir sprechen wurden die Griechen
religiös und sozusagen die Religion griechisch. Das
Individuum hob sich im Gefühl und die Religion senkte sich ins Individuum,
und gerade aus dieser Berührung von Himmel und Erde, von Gott und Seele
entstand die Mystik. Der erwachende Individualismus vertieft die Religion, er zieht sie in die Seele. Und
so hatte auch Hellas mit dem Erwachen seiner Individualitäten, mit seiner
Renaissance gleichzeitig seine Reformation. Gewiß an Tiefe, Kraft und
Wirkung nicht vergleichbar der christlichen, aber doch eine Bewegung, die die
Seelen in frommen Regungen schwellen und schauern machte, die Lebensauffassung
des sinnenfrohen Volkes vertiefte, vergeistigte, versittlichte, einen Gefühlsidealismus aufströmen ließ, der nur intellektuell und künstlerisch geformt
und gefestigt werden mußte, kurz eine Bewegung, ohne die Hellas nicht
zu denken ist, weil sie Hellas erst Tiefe gab.
Man hat die hellenische Mystik früher zu wenig beachtet; man hat sie neuerdings
mit einer gewissen Vorliebe als breite, mächtige Unterströmung hervorgezogen,
die das irreligiöse, intellektuelle Hellas mit dem Glauben und Aberglauben
aller alten Völker verbindet. Aber das Wichtige ist nicht so sehr das Allgemeine
und Ursprüngliche daran, als gerade das Hellenische, Späte und Entwickelte.
Die Mystik, von der ich spreche, ist
nicht jene urwüchsige, allmenschliche Glaubenswelt, aus der sich
Hellas intellektuell herausgearbeitet, sondern es ist ein
bewußtes Wiederanknüpfen an sie in neuer, individualisierter, geistiger
Form. Es ist eine Wiederkehr, aber darum
etwas ganz anderes als das Ursprüngliche, weil sie
eigene geistige, sittliche Tat ist, bewußte Umkehr, Abkehr von der gegebenen
Welt, freie Wiederherstellung, Reformation. Entschluß und Tat der
Erneuerung zeigen einen andern Menschen und sind wichtiger als das Erneuerte
selbst. Die »Mystik« der Naturvölker ist von der späteren,
bewußten Erneuerung so verschieden wie die Bildersprache der Naturvölker
von der individuellen Kunstpoesie der schreibenden Zeit. Wie diese erst die
eigentliche Kunst, so jene erst die eigentliche Mystik.
Wie die Kunst ein freies Wiederherstellen der ursprünglichen Gefühlseinheit
der Seele mit einem Gegenstand, des Subjekts mit einem Einzelobjekt ist, so
die eigentliche Mystik ein freies Wiederherstellen der
ursprünglichen Einheit des Subjekts mit der Totalität der Objekte
im Allgefühl. Die Freiheit des Subjekts gehört dazu, und darum
kommt diese Mystik erst auf höherer Entwicklungsstufe, darum kommt sie
gerade bei dem Volke, das die Freiheit der Persönlichkeit klassisch entwickelt,
darum gerade zu der Zeit, da in Hellas die Seelen frei werden, die Individualitäten
erwachen. Die reiche, klare Vorstellungswelt der homerischen Dichtungen, die
sich so hoch schon aus den dumpfen Gefühlen der Urmystik
herausdifferenziert hatte, mußte wieder versinken
in die Gefühlseinheit des Subjekts, damit die bewußte Mystik entstehen
konnte. Im 6. Jahrhundert, als das griechische
Mittelalter abgestorben, bricht der neue religiöse Drang mit einer fast
plötzlichen Stärke hervor, daß alle, denen die Geschichte geradliniger
Fortschritt zur »Aufklärung« ist,
verblüfft vor einem unlösbaren Rätsel stehen. Mysteriendienst.
Heroenkult, Kathartik aller Art, orphische, theogonische Dichtung erfüllen
die griechische Welt — und eben in dieser Epoche, gleichzeitig mit diesem
höchsten religiösen Aufschwung von Hellas erblüht die Naturphilosophie.
Es ginge nun wider alle Wahrscheinlichkeit, ja Möglichkeit, wider allen
geschichtlichen Geist, hier keinen Zusammenhang zu sehen. Nun sind uns ja auch
wirklich in den naturphilosophischen Systemen religiöse Momente überliefert;
aber man behandelt diese heute im wesentlichen noch als Unkraut, als fremden
Eindringling in die philosophischen Systeme. Man stellt Religion und Philosophie
als fremde Mächte einander gegenüber und stellt die Frage: hat die
Religion auf die (ja jüngere) Philosophie
Einfluß geübt? Und nun findet man hauptsächlich einen negativen
Einfluß und dankt mit Zeller (Ph.
d. Gr. I 48 f.) der griechischen Religion, daß sie die griechische
Philosophie so frei und unabhängig ließ. An positivem Einfluß findet man wesentlich die Lehre von der Seelenwanderung,
die von den Priestern zu den Philosophen gekommen sei.
»Indessen fragt es sich, ob man ihre philosophische
Bedeutung in der älteren Zeit hoch anzuschlagen hat. Sie findet sich allerdings
bei Pythagoras und seiner Schule, der sich hierin Empedokles anschließt;
von einem höheren Leben nach dem Tode redet auch Heraklit. Aber keiner
von diesen Philosophen hat jene Lehre mit seinen wissenschaftlichen Annahmen
in eine solche Verbindung gebracht, daß sie zu einem wesentlichen Bestandteil
seines philosophischen Systems würde, sondern bei ihnen allen geht sie
als ein für sich stehender Glaubenssatz neben der wissenschaftlichen Theorie
her, und niemand würde in dieser eine Lücke finden, wenn sie fehlte«
(ib. S. 65).
Und so findet Zeller insgesamt, daß »wir der
Mysterienreligion kaum eine größere Wichtigkeit für die Entstehung
der griechischen Philosophie beilegen können als der öffentlichen« (a. a. 0.). Aber war nicht vielleicht in den alten Naturphilosophen selbst
ein religiöser Trieb, der sie eigene theologische Lehren aufstellen ließ?
Woher sie auch kamen, es ist eine gewichtige Tatsache, daß kaum
bei einem einzigen dieser Naturphilosophen, selbst in den
dürftigen Fragmenten, religiöse Momente
fehlen. Wie hat sich unsere Forschung damit abgefunden? Da Zeller
den bisher geltenden Standpunkt z.T. mitbestimmt, jedenfalls aber am reifsten
und klarsten zum gebracht hat, ist es wohl am Platze seine Behandlung dieser
alten Religionsphilosophie zu überblicken.
Die Theologie der alten Ionier ist damit
erledigt, daß die Überlieferungen, die sie ihr
Weltprinzip Gottheit nennen lassen, mehr oder minder unglaubwürdig
befunden werden (bei Thales a.a.O.
S. 190ff, bei Anaximander S.218, bei Anaximenes
S.243). Thales speziell ist in seinem religiösen
Glauben griechischer Polytheist, in seiner philosophischen
Ansicht pantheistischer Hylozoist (S. 192, 1)!
—
Größere Schwierigkeit bot das Religiöse im Pythagoreismus; aber es wird einfach als unphilosophisches Element draußen gelassen, so
wichtig es auch auftritt. »Keine andere von den
pythagoreischen Lehren ist bekannter, und keine läßt sich mit größerer
Sicherheit auf den Stifter der Schule zurückführen als die Lehre von
der Seelenwanderung und dem Fortleben nach dem Tode« (S. 449). »So
wichtig aber dieser Glaube den Pythagoreern unstreitig war, so wenig scheinen
sie ihn doch mit ihren philosophischen Annahmen verknüpft zu haben« (S. 454). Ist dies nicht absonderlich?
»Unser Dogma erscheint mithin überhaupt nicht
als ein Bestandteil der pythagoreischen Philosophie, sondern als eine Tradition
der pythagoreischen Mysterien, die wahrscheinlich aus älteren, orphischen
Überlieferungen entsprungen, mit dem philosophischen Prinzip der Pythagoreer
in keinem wissenschaftlichen Zusammenhang steht« (S.455). Auch
in den Sonnenstäubchenseelen, die doch nicht schlechter sind als die ionischen
Luft— und Feuerseelen, darf nicht ein Philosophem, sondern nur »einfach
ein Stück pythagoreischen Aberglaubens« gesucht werden (S.
453). Zur pythagoreischen Philosophie können auch »ihre
theologischen Vorstellungen streng genommen nicht gerechnet werden« (S.
458), da die Pythagoreer sie »aller
Wahrscheinlichkeit nach gleichfalls mit ihrem philosophischen Prinzip in keine
wissenschaftliche Verbindung gebracht haben. Daß die Gottesidee nichtsdestoweniger
als religiöse Idee die größte Bedeutung für sie hatte,
läßt sich nicht bezweifeln« (S. 456 f.)!
—
Und nun die Eleaten! Xenophanes
erscheint wesentlich als kritischer Bestreiter der Volksreligion und zwar
wahrscheinlich im pantheistischen
Sinn (S. 536). Parmenides weist allerdings der weltregierenden Gottheit, der
Erzeugerin aller Götter und Dinge, ihren Sitz in der Mitte des Weltganzen
an. »Für sein astronomisches System
hat aber diese mythische Gestalt so wenig, wie der von ihr hervorgebrachte,
aus den alten Kosmogonien entlehnte Eros, eine »ernstliche Bedeutung«
(S. 578). Daß Parmenides Seelenwanderung oder Präexistenz
gelehrt, ist (trotz seiner pythagoreischen Einflüsse
und trotz Simpl. Phys. 39, 19!) unwahrscheinlich (S.
581). »Eher könnte man sich die Nachricht
gefallen lassen, daß Melissus jede Äußerung über die Götter
abgelehnt habe. — Indessen ist der Zeuge ungenügend, und wenn dieses
Melissus auch wirklich geäußert haben sollte, so wollte er damit
der verfänglichen Erklärung über das Verhältnis seiner Ansicht
zum Volksglauben ausweichen« (618). —
Heraklit lehrte ausgesprochensten Pantheismus (672).
Mit seinen physikalischen Ansichten brachte er »die
mythischen Vorstellungen über das Leben nach dem Tod in eine Verbindung,
die durch seine philosophischen Voraussetzungen allerdings nicht gefordert war«
(709). Hierbei scheint er z. T. »die
gewöhnlichen Vorstellungen vom Hades beibehalten zu haben« (713). Es zeigt sich, daß die Annahme der
Unsterblichkeit »nicht aus seinem System
herausgewachsen, sondern von außen in dasselbe hineingetragen war«
(714). Er knüpft in einigen Lehren an die
Orphiker an (729). Er greift manche Vorstellungen
und Gebräuche der Volksreligion heftig an (727 ff.)
»aber doch scheint es nicht, daß Heraklit
die Volksreligion im ganzen in ihrem Bestand antasten wollte« (727.732). —
Noch schwankender erscheint Empedokles. »So
wichtig ihm dieser Glaube (an die Seelenwanderung) und diese Vorschriften für
seine Person waren, mit seinem philosophischen System hängen sie innerlich
nur teilweise zusammen, während sie ihm nach einer anderen Seite unverkennbar
widersprechen«(S. 809). Er hat es »unterlassen einen wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen seinen religiösen
und physikalischen Lehren herzustellen, oder auch nur ihre Vereinbarkeit nachzuweisen«
(810). »Es bleibt mithin nur die Annahme
übrig, er habe die Lehre von der Seelenwanderung, und was damit zusammenhängt,
aus der orphisch-pythagoreischen Überlieferung aufgenommen, ohne diese
Glaubensartikel mit seinen philosophischen Überzeugungen wissenschaftlich
zu verknüpfen« (811). In seinen
theologischen Lehren knüpft er z. T. an den Volksglauben an (813
ff.), z. T. sucht er ihn zu läutern (816).
»Auch diesem reineren Götterglauben
fehlt es jedoch an einer wissenschaftlichen Verknüpfung mit seinen philosophischen
Ansichten« (816). »Die
geistigere Gottesidee unseres Philosophen steht daher neben seinen wissenschaftlichen
Ansichten ebenso unvermittelt, wie der Volksglaube, an den sie zunächst
anknüpft, und wir werden sie deshalb nicht unmittelbar aus jenen, sondern
nur aus anderweitigen Gründen herleiten können« (817). —
Anaxagoras ist »auf
die Religion schwerlich näher eingegangen«, und über
das Verhältnis seiner astronomischen Annahmen zum Volksglauben hat er »sich
wohl kaum ausdrücklich geäußert« (1018
f.). Spätere Zeugen behaupten »wahrscheinlich
mit Unrecht«, daß er den Nus als Gottheit
bezeichnet habe (996). —
Endlich Demokrit. »Daß
er den Götterglauben seines Volkes nicht teilen konnte, liegt am Tage«
(936). »Das Göttliche
im eigentlichen Sinne ist ihm nur die Natur.« »Nur Sache des Ausdrucks
ist es, wenn hiefür in populärer Sprache die Götter gesetzt werden.«
»In den Göttern der Mythologie dagegen konnte er nur Gebilde der
Phantasie sehen« (die er z. T. aus dem Eindruck
außerordentlicher Naturerscheinungen erklärt). »So frei er sich nämlich dem Volksglauben gegenüberstellt, so
kann er sich doch nicht entschließen, alles das, was von Erscheinungen
höherer Wesen und von ihrer Einwirkung auf die Menschen erzählt wurde,
schlechtweg für Täuschung zu erklären« (936
f.). »Der Sache nach sind dieselben (die
Idole) nichts anderes als die Dämonen des Volksglaubens, und Demokrit kann
insofern als der erste betrachtet werden, der zur Vermittlung zwischen Philosophie
und Volksreligion den in der späteren Zeit so gewöhnlichen Weg einschlug,
die Götter zu Dämonen herabzusetzen.« »Keineswegs mochte
er sich berechtigt glauben, sich mit der bestehenden Religion in Widerspruch
zu setzen« (939). Noch in einigen
anderen Annahmen folgt Demokrit »zunächst
ebenfalls mehr dem Volksglauben als seinem naturwissenschaftlichen System, wenngleich
er sie nachträglich auch mit diesem auszugleichen sucht« (940).
Um nun also die bisher vorwiegende, in Zeller klassisch gewordene Auffassung
des religiösen Elements bei den alten Naturphilosophen zusammenzufassen,
so ist dieses Element z. T. nicht vorhanden oder ungenügend besetzt; wo
es sicher vorhanden und bezeugt ist, steht es mehr oder minder unvermittelt,
ja z. T. widerspruchsvoll neben dem Philosophischen, als
bloßes Glaubensdogma, aus fremden Quellen stammend, aus dem Anschluß
an die Orphik oder an den Volksglauben; wo es vom Volksglauben abweicht, ist
es einfach Bestreitung des Volksglaubens, z. T. aus Schonung unausgesprochen,
oder dessen Korrektur und Reinigung oder Vermittlung zwischen Philosophie und
Volksglaube. Insgesamt also, das religiöse Element ist bei den Naturphilosophen,
wenn überhaupt da, nur da als Negation oder als Konzession, als Bestreitung,
Korrektur, Anpassung, Vermittlung, jedenfalls als ein Fremdes, nicht in den
Philosophien selbst erwachsen noch organisch mit ihnen verbunden. Die Philosophie verhält sich da zum Religiösen erzgleichgültig
oder feindlich oder kühl gastlich, nach einiger Säuberung in einem
Winkel ihm Platz machend. Im Grunde erscheint da das Religiöse den
Herren von der andern Fakultät gehörig, mit denen die Philosophen
eigentlich nichts zu tun haben wollen, denen aber ganz zu widersprechen sie
meist »sich nicht entschließen können«.
Demgegenüber ist nun zu fragen, ob nicht das religiöse
Element in jenen Naturphilosophen ein notwendiges
und ursprüngliches ist, ja vielleicht gar das ursprüngliche,
so daß umgekehrt als bisher zu fragen ist: nicht wie sie vom Philosophischen
zum Religiösen, sondern wie sie vom Religiösen zum Philosophischen
kamen. Nicht nur daß jenes nun einmal früher da ist, und dieses eben
in seiner Entstehung aus anderm zu erklären ist: die auch von Zeller hervorgehobene
hohe Wichtigkeit, die das Religiöse für so manche dieser Philosophen
hat, verträgt sich einfach nicht damit, daß es nur fremdes Anhängsel
sein soll. Sollen gerade die ersten Philosophen schon so zweiköpfig kompliziert
gewesen sein, daß Glaube und Wissen in ihnen geschieden war? Die »zwei
Wahrheiten« kommen als späte Resignation nach langem Kampf.
Zudem weist auf prinzipiellen Charakter, daß das Religiöse selbst
in unserer dürftigen Überlieferung der Naturphilosophen nicht nur
bisweilen sehr wichtig erscheint, sondern auch, wie gesagt, nirgends ganz fehlt.
Das
Absolute
Würde das Religiöse etwa beim letzten von ihnen fehlen, so hätte
dies für Ursprung und Charakter dieser Naturphilosophie gewiß nicht
viel zu sagen; wohl aber, wenn es beim ersten fehlte. Doch nun meldet uns gerade
schon von Thales ein aristotelisches,
anerkannt zuverlässiges Zeugnis, daß er gelehrt habe:
alles sei voll Götter.
Gomperz (Griech. Denker 12, 5. 423) sieht
darin einen Rest fetischistischer Anschauungsweise, ein Stück primitivster
Naturreligion und zieht indianische u. a. Naturvölker zum Vergleiche heran.
Ich sehe darin keinen Rest, sondern einen Anfang, den Anfang der bewußten
Naturmystik, die allerdings vielleicht unbewußt an die Urmystik
wiederanknüpft, aber eben dadurch schon ein Anderes ist.
Was sie vom Geisterglauben der Naturvölker scheidet, ist auch das stärkere
Totalitätsgefühl. Es ist doch ein Anderes, hier und dort und weiter
überall Geister zu wittern, als es auszusprechen und das Gesamturteil zu
fällen: alles ist voll von Göttern. Es
liegt dies gerade so weit auseinander, wie die Anwendung und die Aussprache
des Identitätssatzes. Und jenes Urteil stammt auch gerade so wenig aus
Induktion wie der Identitätssatz. Hat Thales die Götter in der Natur
zählend gesammelt? Eine Seele voll Weltgefühl gehört zu diesem Urteil, die die Einheit ihres Bewußtseins auf das
Ganze (d. h. nicht auf das Zusammengesetzte, Gesammelte) der Welt gerichtet, eine Seele, die das All sich gegenüber hat, voll Mut
es zu fassen und gerade nach sich selbst es zu fassen. Denn die Allvergöttlichung hängt ja mit der Allbeseelung zusammen, wie
Aristoteles andeutet (de an. 1 5. 411 a). … Da er nach Aristoteles auch den Stein für
beseelt erklärte, lehrte er ja die Allbeseelung,
und er ist dabei so wenig Fetischist wie Paracelsus
oder Fechner. …
Es ist ein deutlicher Zusammenhang, ja eigentlich nur ein Sinn in den Lehren des Thales: alles
ist voll Götter oder Dämonen, alles ist beseelt, lebendig, alles ist
in strömender Bewegung, d. h. alles ist Wasser, wie ja das Meer die Wiege
des Lebendigen ist (vgl. S. 69f.). Die Allbeseelung,
Allbelebung erklärt sowohl den Pandämonismus wie das Wasserprinzip und erklärt allein die Vereinbarkeit beider, die sonst ganz unverständlich
nebeneinander stehen. Solange man beide Lehren nicht vereinigt, ist das Wasserprinzip
unverstanden. Nur eine Seele voll Lebensgefühl findet: alles lebt, und
das heißt sowohl: alles ist voll dämonischer
Kräfte, wie: alles ist Flut, strömt aus unendlicher Quelle. Die
allgemeinen Lebenskräfte und Lebensquellen betont
Thales. Dämonisches, strömendes Leben fühlt er als Weltleben
aus seiner Seele heraus. Drei Sätze nur spricht Thales:
alles ist Wasser, alles ist beseelt, alles ist des Göttlichen voll;
aber in diesen drei Sätzen haben wir die Grundlehren
der Mystik: die Einheit der Natur, die Allbeseelung, die göttliche Immanenz. Nehmen wir die drei Sätze des Thales zusammen, so ergeben sie die vier
mystischen Einheitslehren:
die Einheit der Natur (alles
aus einem Stoff und von seelisch-dämonischer Kraft),
die Einheit der Seele und Natur (Allbeseelung),
die Einheit von Seele und Gott (alles beseelt = alles voll von Göttlichem),
die Einheit Gottes und der Natur (allgemeine
göttliche Immanenz, nicht pantheistisch-materialistische Identität
…).
Der erste Naturphilosoph ist so in allen Hauptstücken zugleich grundlegender
Mystiker. Nicht nur Jakob Böhme spricht vom klaren Wassergeist der göttlichen Liebe, dem Samen aller Dinge,
noch Helmont, der Schüler des Paracelsus
und des Thomas a Kempis, vereinigt die
drei Sätze des Thales:
Wasser das Urelement der Dinge, die ganze Natur beseelt, und Gott in allen Dingen
enthalten.
Das Thaleswort: alles ist voll vom Göttlichen,
hat ja dann in der Spätantike eine große Rolle gespielt. Die Mystik
hat dann selbständig diesen ihren Grundgedanken in aller Tiefe ausgekostet,
doch zitiert z. B. Agrippa von Nettesheim auch ausdrücklich von den Heiden das Diktum: alles sei voll von Gott. Man
sage nicht, die eher mystische singulare Fassung gehöre erst der Spätantike,
Thales bekenne nur einen primitiven Dämonenglauben. Wenn dies nur fetischistischer
Aberglaube ist, dann sitzt er jedenfalls in der alten Naturphilosophie sehr
tief; denn auch Pythagoras wird
Diog. VIII, 32 ein sehr ähnliches und Heraklit ib.
IX, 7 geradezu dasselbe Diktum zugewiesen: alles sei voll von Seelen
und Dämonen.
Aber auch die Naturmystik der Renaissance hat, wie gesagt, solchen Pandämonismus,
und er hat Paracelsus gerade so wenig verhindert,
von dem einen, alles erfüllenden göttlichen Wesen zu sprechen, wie
Heraklit. Wir pressen von unserm heutigen Standpunkt aus den Gegensatz des Monotheismus
und Polytheismus in einem Grade, der für die klassische Antike und eigentlich
auch für alle Mystik (im Gegensatz zum Supranaturalismus)
keinen Sinn hat. Namentlich die älteren Naturphilosophen betonen
das eine göttliche Allwesen, und doch reden sie und ebenso alle Späteren
zugleich auch von den Göttern, ohne sich eines Widerspruchs bewußt
zu sein. Schließt die Allkraft die Einzelkräfte
aus? Jene sprechen von Göttern und Dämonen so gut wie Paracelsus
von seinen Naturgeistern oder Böhme von seinen Quellgestalten oder
Müttern, und doch sind beide von der Einheit des göttlichen Allwesens
besonders tief durchdrungen. Aber eben weil es das Eine im Sinne des Totalen,
Allumfassenden, Absoluten, nicht im Sinne des Einzigen. Exklusiven ist, kann
es relativ göttliche Einzelgestalten ertragen, ja fordert sie sogar.
Die mystische Allgottheit macht alles zu Göttern.
Es ist gerade das Wesen der Mystik, daß sie alles Einzelne vergöttlicht;
auch jeder Mensch wird ihr ein »Götterlein«, und alle
Dinge haben Religion, wie Campanella sagt. Wer
in der Gerechtigkeit ist, sagt Eckehart,
der ist in Gott, ja ist selber Gott. Gott ist der Mystik
nicht nur der Eine, auch nicht nur das Ganze der Welt, sondern Gott ist auch
alle Dinge, wie jedes Ding auch Gott ist, nicht etwa nur ein Teil von Gott.
Und darum kann gerade die Mystik, da ihr Gott nicht nur eins, sondern auch alles
ist, Gott auch vervielfältigen und könnte sowohl sagen: alles ist
voll Götter oder Dämonen, wie: alles ist voll Gott.
Die spätere Antike hat auch hier für Thales
keinen Unterschied gemacht; sie hat ihn auch von der einen
Gottheit als der alles durchdringenden und bildenden Weltvernunft reden
lassen (Plac. I 7, 11, Philop. de an. C 7, Athenag. suppl.
c. 23, Cyrill. c. Jul. II p. 28 c, vgl. Diels, Doxogr. p. 128. 301). Man
pflegt dieser Überlieferung zu mißtrauen und jene Thaleslehre als
späte Fiktion anzusehen, da sie gar zu stoisch klinge. Ich habe mich »Sokrates« II 874ff. diesem allgemeinen Mißtrauen angeschlossen, doch dabei
schon zweierlei dargelegt:
1. daß diese Lehre mit andern dem Thales zugewiesenen in festem, geschlossenem
Zusammenhang steht,
2. daß diese ganze Folge von Lehren nicht von der Stoa, sondern schon
früher, von ihrem kynischen Vorläufer als Thaleslehre vorgebracht
ist, wie auch bereits Aristoteles Thalesdarstellungen zitiert (de
an. 405 a ).
Nun gehe ich noch einen Schritt weiter und nehme an, daß auch der Kyniker
diese Thaleslehren im wesentlichen nicht erfunden, sondern überliefert
erhalten hat. Warum will man durchaus in ihnen späte Erfindung sehen? Weil
sie stoisch sind? Aber darum können sie doch schon altionisch sein, wie
ja ausdrücklich die Stoa der verwandten Lehre Heraklits
folgt. Hätten wir nicht gar zu viele Fragmente von ihm, ich fürchte,
man würde heute auch den ganzen Heraklit für
stoische Erfindung erklären.
Doch jene Thaleslehre soll Fiktion sein, weil zu dem Gedanken
einer Weltseele, einer göttlichen Weltvernunft eine Scheidung der bewegenden
Kraft vom Stoff und ihre Analogisierung mit dem menschlichen Geist gehöre,
die erst von Anaxagoras aufgebracht seien (Zeller S. 190.
192)? Aber hat denn nicht bereits Heraklit ohne
solche Scheidung die Weltseele und Gott als Weltvernunft? Nur
Ciceros ungeschickter Ausdruck (nat. deor. I 10,25) konnte verführen, die Lehre dualistisch zu verstehen und sie darum Thales
abzusprechen. Und die Analogie mit dem menschlichen Geist ist nicht eine späte
Entdeckung, sondern liegt, wie sich zeigte, der ganzen griechischen Naturphilosophie
zugrunde. Thales schon spricht ja diese Analogie aus als Beseeltheit aller Dinge.
Anaximenes sagt es klar: »Wie unsere Seele
Luft ist und als solche uns zusammenhält, so umspannt Odem und Luft das
ganze Weltall« (Frg.
2). Also unsere Seele ist Luft. und was für uns unsere Seele,
ist die allgemeine Luft für die Welt: deutlicher kann man die Weltseele
nicht lehren. Er betont sein Luftprinzip als Grund und
Urkraft der Welt, als unendlich, alles bewegend, umfassend, seelengleich alles
zusammenhaltend und eines Wesens mit der Seele — und er soll dies sein
Absolutes nicht Gottheit genannt haben?
Ich verweise wieder auf die Naturmystik der Renaissance. Joh.
Baptist Porta in seinem Buch von der natürlichen Magie sagt: ein allgemeiner Weltgeist oder Lebenshauch verbindet
alle Dinge, er vereinigt und erzeugt auch unsere Seelen. Und die Luft
ist ja auch nach Agrippa der alles durchdringende, bewegende, verbindende, erfüllende Lebenshauch. Gleichwie
die Luft alles erfüllt, lehrt Seb.
Franks tiefe Mystik, und nirgends nicht ist oder etwas leer läßt
und doch in keinem Ort beschlossen werden mag, also ist Gott
— und alles in ihm beschlossen. Agrippa (des
Empedokles »vier Wurzeln
aller Dinge« erneuernd) rühmt auch heraklitisch (wie
Böhme) vom Feuer, daß es überall waltet und alles belebt, und wiederum könne ohne
das Wasser nichts leben und wachsen. Wie die Wasser des Flusses, sagt Reuchlin,
dem Quell entspringen und wie das Meer diese in seinem Busen aufnimmt, so umfaßt
Gott das All.
Die Renaissance denkt ja gewiß theistisch reiner; dennoch kann man aus
ihrer Naturmystik am besten die alte Naturphilosophie verstehen, und man hat,
wie gesagt (S. 73. 77 f. 104 f.), allen Grund die
Elementarprinzipien der alten Ionier zugleich real und symbolisch zu fassen
(vgl. noch Heraklit Frg. 67). Es ist der eingewurzelte
Grundirrtum der bisherigen Auffassung, daß die Ionier den Weltstoff suchen.
Sie suchen die Weltkraft,
die sie in einem Stoff typisch verbildlichen, veranschaulichen, die sie aber
zugleich nach der ihnen bekannten Kraft der eigenen Seele, als
Weltseele und so als Gottheit fassen.
Daß Thales, Anaximander und Anaximenes
von unbestimmt vielen Weltgöttern sprechen, spricht nicht gegen,
sondern eher für die Annahme einer Allgottheit, die
sich in den Einzelkräften schaffend entfaltet, wie auch Empedokles
sowohl den Sphairos Gott
nennt wie seine Glieder, die Elemente und auch die Kräfte Liebe und Haß
als Götter bezeichnet. Die gleichzeitige Einheit
und Vervielfältigung des Göttlichen liegt, wie gesagt, im Wesen der
Mystik.
Mit welchem Recht bezweifelt man also, daß die älteren Ionier von
der einen Weltgottheit als Allprinzip sprachen?
Die Alten melden es nicht nur von Thales, sondern
auch von Anaximander (Aristot.
Phys. 3,4 p. 203 b) und von Anaximenes (Doxogr.
302 b 5. 531 a 17. b 1 f.). Sie geben ihrem Prinzip alle Eigenschaften,
die nur der Gottheit zukommen. Denn auch Anaximander
erklärt sein Prinzip nicht nur als das allumfassende
Unendliche und den Anfang aller Dinge, sondern auch als »alles steuernde« Urkraft und als ewig und »unsterblich«und E. Rohde
hat recht: »Unsterblich und göttlich sind
Wechselbegriffe; das wesentliche Prädikat des Gottes und nur des Gottes
ist eben die Unsterblichkeit«. Das einzige Bruchstück Anaximanders lehrt im wörtlichsten Sinne eine moralische Weltordnung — ohne Weltgottheit?
Xenophanes‘ ganze Lehre ist nur die Verkündigung
der einen Weltgottheit, Heraklit lehrt die Allgottheit
als Weltvernunft, der Pythagoreismus lehrt uns durch den Mund des Philolaos:
Alles ist von der Gottheit umschlossen wie in einer
Haft — und nur die alten Ionier sollen nicht die Weltgottheit lehren
dürfen den Parallelen zum Trotz, den Zeugnissen zum Trotz und dem Sinn
ihrer Lehren zum Trotz, die das Absolute mit den göttlichen Prädikaten und Funktionen belegen? Der
Sinn der ganzen älteren Naturphilosophie ist nicht Hylozoismus, auch nicht
Pantheismus, wenn man darunter versteht, daß sie
den Stoff, die Welt als belebt und göttlich fassen, sondern
ihre Lehre ist die der Mystik,
Panentheismus. Gott oder das Weltprinzip ist ihnen
mehr als die Welt. Für den Pythagoreismus bezeugt das eben gegebene Zitat
wörtlich den Pantheismus: die
Welt von Gott umschlossen! Der Begründer des Eleatismus lehrt so
eifrig die eine Weltgottheit, daß
darüber die bunte Welt versank und von seinen Nahfolgern geleugnet ward.
Und die Ionier (Heraklit eingeschlossen) lehren
ja das periodische Vergehen der Welt, die Zurücknahme
der Welt ins göttliche Weltprinzip.
Ja, die Welt ist »sterblich« (vgl. Empedokles
Frg. 22.119), aber die Sehnsucht nach dem unsterblichen
Absoluten beherrscht namentlich die ältere Naturphilosophie. Sie
feiert dies göttliche Absolute kaum minder überschwenglich wie die
Mystik der Renaissance. Das ewig wallende göttliche Chaos Böhmes,
der göttliche Un- und Urgrund tut sich schon
auf in Anaximanders unerschöpflich hervorbringenden (und zurücknehmenden)
göttlichen Unbestimmten, auch einer Einheit von Gegensätzen
als, die ja Heraklit (Frg.
67), ebenso wie der Cusaner, Weigel
und Böhme, Gott erklärt, wie auch Paracelsus
lehrt:
Gott ist der Grund aller Dinge, alle Uranfänge sind
im großen Mysterium, im Chaos eingeschlossen, aber es bedarf des Gegensatzes,
daß sie hervortreten. Gott, lehrt Heraklit,
ist Tag und Nacht, Hunger und Sättigung, und die ethischen Gegensätze,
die die Menschen sehen, verschwinden bei ihm, bei dem alles
schön, gut und gerecht ist (Frg. 67,
Frg. 102). Die Namen versagen
Heraklit wie dem
Cusaner für dies göttliche Urwesen,
das zugleich Zeus und nicht Zeus, zugleich
Hades und Dionysos und »nach Belieben« mit allen möglichen Namen benannt werden könne (Frg.
15. 32. 67), wie
in der Renaissance Mutianus Rufus lehrte: es ist ein Gott
und eine Göttin, aber viele Namen: Jupiter,
Sol, Apollo, Moses, Christus, Luna, Ceres, Proserpina,
Tellus, Maria — doch das müsse in Schweigen gehüllt werden
wie die Mysterien.
Gerade die mystische Auffassung vermag Gott auch weiblich zu benennen, wie Parmenides
Aphrodite zur Weltgottheit macht (Frg.
12 f.) und ähnlich Empedokles (Frg.
17, 24), die Liebe als Weltkraft emporhebend. Ähnlich preist auch Heraklit die Weltordnung … wie die Pythagoreer Apoll, als Kraft der
Weltharmonie. Man darf nach Heraklit Gott mit allen
möglichen Namen nennen, weil er verschieden erscheint, sich wandelt (Frg.
67) — wie Gott bei Böhme u. a.
Mystikern. Man darf vom mystischen Standpunkt, wie die alten Naturphilosophen
es tun, Gott bald vereinheitlichen, bald vervielfältigen,
bald die eine Weltkraft, bald alle Elemente, alle Gestirne, ja alles einzelne
als Gott oder göttlich ansprechen, die göttliche Totalität bleibt
gewahrt; man darf wie sie alle Götter des Volkes zitieren, denn
es sind Lebenspotenzen; man darf nur eins nicht vom mystischen Standpunkt: Gott
einschränken, Gott bestimmen, Gott in irgend eine Gestalt und Einzelheit
bannen — dies widerstrebt dem lebendigen Allgefühl der Mystik.
Man mißversteht Xenophanes, wenn man in seinen
Protesten gegen die plastische Vermenschlichung Gottes nur einen Protest gegen
den Anthropomorphismus oder nur eine reine Vergeistigung
Gottes sieht. Der xenophanische
Gott, der auch »ganz Auge« und
»ganz Ohr« ist und »am
selben Ort verharrt«, der vor allem laut Aristoteles und Theophrast
eins ist mit dem Weltganzen, ist ja gar nicht rein
geistig, und die Menschenfigur Gottes wird gerade dadurch lächerlich gemacht,
daß die Tierfigur für ihn ebenso berechtigt und naheliegend gefunden
wird (Frg. 15). Nicht das Körperliche und
nicht das Menschliche als solches widerstreitet Gott, sondern die
Einschränkung auf sterbliche Form ist wider die Natur des Absoluten. Der
Myste, des Gottes voll, kann den Gott in jeden Bilde zerreißen, weil ihm
keines genügt. Jedes Bild ist ihm tot gegen den Gott, den er überströmend
lebendig in Seele und All fühlt. Man verstehe hier
Xenophanes, Heraklit und Empedokles aus
den Bilderstürmern der Reformationszeit.
Auch Agrippa eifert gegen die Gottlosigkeit, die
darin liege, daß man tote, stumme Bilder auf die Altäre stelle, mit
Wachskerzen erleuchte und anbete. »Sie beten zu
diesen Götterbildern«, sagt
Heraklit Frg. 5, »wie wenn einer mit den Wänden reden würde.
Sie kennen eben nicht das wahre Wesen der Götter und Heroen.« Man
kann, sagt Empedokles Frg.
133 f., die Gottheit sich nicht in Sichtbarkeit und
Greifbarkeit nahebringen, wie sonst die Menschen sich von etwas überzeugen,
denn die Gottheit hat nicht Kopf, Arme, Beine, sie ist alles durchfliegender
Weltgeist. Er spricht auch von den Gliedern des
Weltgottes, des Sphairos. Die Kugel ist die Körperform des Absoluten auch für die Eleaten.
Es liegt im Absoluten ein Doppeltes: das Eine Allumfassende
und das Höchste, Vollkommene, also das Absolute an Sein und das Absolute
an Wert. Die ausschließliche Betonung der ersten Bedeutung würde Pantheismus ergeben, die der zweiten
Theismus; der Panentheismus vereinigt
beide, und eben dies ist bei den alten Naturphilosophen gegeben. Gott ist ihnen nicht nur das eine Seinsprinzip, das Alleine, sondern zugleich
das Höchste. Naiv kommt es bei Xenophanes
heraus: Ein einziger Gott ist, unter Göttern und
Menschen der größte, weder an Gestalt noch an Gedanken den Sterblichen
vergleichbar (Frg.
23).
Der einzige Gott und der größte — ein anscheinender Widerspruch, aber der mystische Panentheismus,
der Gott einerseits ontologisch total, andererseits superlativisch faßt,
löst ihn. Xenophanes hat die vielen Götter,
von denen er auch sonst spricht, nicht geleugnet (Freudenthals
Nachweis besteht hier zu recht); er hat sie neben Gott als Welteinem
so wenig geleugnet, wie er neben dem Welteinen Menschen und Dinge geleugnet
hat. Das Absolute hat ihm nicht nur totale, sondern auch graduelle Bedeutung,
nicht nur Seinsbedeutung, auch Wert- d. h. Gefühlsbedeutung. Es ist nicht
nur das Eine der Welt, sondern auch das Ideal der Welt.
Ja, die zweite Bedeutung ist ihm wohl wichtiger. Aus der Vollkommenheit Gottes,
der keine Macht außer sich haben könne, und dem es
»nicht zieme hierhin und
dorthin zu wandern«, erfaßt er die Einheit
und Unveränderlichkeit der Welt. ... der ganze Eleatismus ist nur
erklärbar aus diesem theologischen Ursprung. Die ungeheure Paradoxie der
Leugnung aller Vielheit und Wandelbarkeit, die kahle, leere Seinseinheit wäre
unerträglich, wenn ihr nicht, wie bei Spinoza, Gefühlsinhalt, religiöse
Idealprädikate zukommen, die sie auch selbst bei Parmenides und Melissos
trägt (s. S. 104 und vgl. Gomperz a. a. 0. S. 150).
Der Eleatismus stammt aus tiefster Mystik, die
die Welt für Gott opfert.
Fast genau die eleatischen Prädikate legt auch das Philolaosfragment
20 Gott bei. Der Pythagoreer ib.
Frg. 11 heißt die Zahl in den göttlichen und dämonischen
Dingen wirksam sein, und Frg. 20 läßt das pythagoreische »heilige
Wort« und Philolaos in den Bakchen
Theologie durch Mathematik lehren, was der Cusaner, Reuchlin und all die anderen Zahlenmystiker der Renaissance wiederholen. Gerade die quantitative
Weltauffassung wird naturgemäß eine graduelle; die Zahlen
sind den Pythagoreern Werte. Aber auch Heraklit baut Stufen und preist Gott als das Höchste: der
schönste Mensch sei gegen Gott wie der schönste Affe gegen den Menschen
(Frg. 82 f.), und der
Mann stehe unmündig unter Gott wie das Kind unter dem Mann (79).
Bei Gott ist alles schön, gut und gerecht (102).
Weil ihnen Gott das absolute Ideal ist, darum streiten sie alle, »Pythagoras« (Diog. VIII 21) wie Xenophanes
(Frg. 1. 11 f.), Heraklit
(Frg. 5. 14 f. 42. 69 etc.) wie
Empedokles (Frg. 128. 137) so leidenschaftlich
gegen unmoralischen Kult und unmoralische Mythen, die namentlich Homer
und Hesiod über die Götter verbreitet haben.
Die beiden Bedeutungen des Absoluten, die ontologische und die normative, die
Welt- und die Wertbedeutung vereinigen sich in der Gottheit als immanenter Weltordnung,
als regierender, vernünftiger, alles durchdringender Weltkraft. Die Ionier
bekennen sie: Anaximanders Fragment verkündet die moralische Weltordnung,
Anaximenes verkündet die alles lenkende, umfangende Luft als Weltgottheit,
Heraklit redet am lautesten und schönsten vom göttlichen Gesetz, vom
feurigen Gott als Weltvernunft, die alles durchzieht, lenkt und richten wird. »Denn alles, was da kreucht, wird mit Gottes Geißel
zur Weide getrieben«, so übersetzt Diels Frg.
11. Keiner bleibt ja verborgen vor dem Unvergänglichen,
mahnt wohl moralisch Frg.
16. Des Menschen Sinn plant nicht weit, wohl aber
der göttliche (Frg.
78). Folge Gott, lautet der oft wiederholte Grundsatz der Pythagoreer, die
zugleich Gott als Harmonie erklären. Aber mehr: sie setzen das Zentralfeuer
als Grundkraft und Halt der Welt, als »Göttermutter«, als »Burg
des Zeus« oder »Altar«, den die Gestirne in feierlicher Ordnung
singend umtanzen: also der Kosmos ein Heiligtum, ein wohlgeordneter Gottesdienst!
Daneben »schwingt« der
Gott des Xenophanes »mühelos das All
mit der Vernunft Geisteskraft« (Frg.
25), und in der Mitte der parmenideischen Sinneswelt steht die alles
wissende, alles lenkende und paarende Göttin (Frg. 1. 12),
und des Empedokles Gottheit durcheilt mit raschen Gedanken
das ganze Weltall (Frg.
134), in dem das Weltgesetz breit ausgespannt ist
(135), und
das im Spiel seiner Elemente eine göttliche Bußordnung erfüllt (115).
Endlich lehren ja Diogenes von Apollonia und Anaxagoras die weltbewegende,
immanente, allwissende Vernunftkraft, materiell erscheinend bei beiden,
nur bei Anaxagoras ungemischt mit andern Stoffen. Die Späteren melden,
daß er diesen Nus als Gottheit bezeichnet habe; Zeller bezweifelt es,
aber doch nur, weil ältere Erwähnungen, die jenen übrigens als
deus ex machina charakterisieren, sich mit dem bezeichnenderen, spezielleren
Namen Nus begnügen; auch Zeller gibt zu, daß
»der Nus der Sache nach jedenfalls der Gottheit entspricht«, insgesamt
also hebt die materielle (richtiger: zugleich materielle) Fassung des göttlichen
Weltwesens gerade so wenig den stark religiösen Charakter der älteren
Natursysteme auf, wie sie ihn bei der Stoa oder bei Tertullian
aufhebt.
Inspiration
Der Panentheismus, den die Mystik verkündet: Gott
alles umfassend, alles aus Gott und Gott in allem, ist also in der älteren
Naturphilosophie gegeben, aber ja auch schon in der Orphik (Orph.
fragm. 46 ed. Abel). Es scheint mir ein beginnender Durchbruch richtiger
Auffassung der alten Naturphilosophie, daß man neuerdings so eifrig nach
orphischen Einflüssen auf sie sucht. Man fand sie, von dem gar zu schweigsamen
Thales abgesehen, schon in den Anfängen der Philosophie: schon im Weltbußefragment Anaximanders (vgl. Diels, ein orph. Demeterhymnus,
Festschrift für Gomperz, S. 1). Schon Pythagoras
hat nach Rohde die Einwirkung vorgefundener orphischer Gemeinden in Unteritalien
erfahren, und der Pythagoreismus ist ja überhaupt untrennbar mit der Orphik
verstrickt und ohne sie nicht zu denken. Namentlich Diels
und Otto Kern haben den Blick geöffnet für
Orphisches bei Heraklit, bei Parmenides, bei Empedokles. Eine antike Tradition,
die Orpheus zum ältesten Philosophen machte, ließ sogar Anaxagoras
seine Lehre von der ursprünglichen Mischung aller Stoffe der mystischen
Poesie entnehmen (Diog. Laert. proöm. 4 f.).
Man wird sich nicht wundern, daß die Renaissancemystik auch auf diese
Liebe zurückkommt, wie z. B. Marsilius Ficinus dem
Orpheus folgen will, und Pico von Mirandola den
Hymnen des Orpheus größere Wirkung zuschreibt als irgend einer Körperkraft.
Sie haften allerdings einen mit Zutaten der Spätantike überdeckten
»Orpheus« vor sich, aber wie neuere Funde mancherlei »Spätes« wieder erstaunlich hoch hinaufdatiert haben
und auch die rhapsodische Theogonie doch wohl mit Recht (vgl.
besonders Dümmler, Kl. Schr. II S. 155 ff.) aus hellenistisch-römischer
Zeit in das Jahrhundert der ersten Naturphilosophen versetzt hat, so sah eben
überhaupt
— das ist ein Hauptresultat dieser ganzen Untersuchung
— die griechische Frühzeit der religiösen Spätantike geistig
viel ähnlicher, als sich unser historischer Rationalismus träumen
ließ.
Indessen der Versuchung, die orphischen »Einflüsse« in der alten Naturphilosophie weiter zu verfolgen, will ich widerstehen, da
ich diesen neueren Bestrebungen doch nicht ganz zu folgen vermag, nicht etwa
weil ich die starken Berührungen zwischen Orphik und Naturphilosophie nicht
sehe, sondern weil ich sie nur zu sehr sehe, um die »Einflüsse« so zu betonen, als wären beide von Anfang an fremd. Um es kurz zu sagen,
die älteren Naturphilosophen scheinen mir gewissermaßen selber Orphiker,
jedenfalls viel zu sehr eines Geistes mit den Orphikern, um ihrer Einflüsse
zu bedürfen, die gewiß oft vorhanden, aber sicher gegenseitig sind
und öfter noch vielmehr sich als natürliche Übereinstimmungen
gleichgerichteter Geister erklären. Es ist eine grundlegend wichtige Tatsache:
Orphik und Naturphilosophie blühen gleichzeitig auf, im 6. Jahrhundert,
sind Kinder eines Zeitgeistes! Weil sie orphischen Geistes sind, schreiben Xenophanes,
Parmenides, Empedokles ihre Philosophie als Dichtung.
Ein theologischer Rhapsode begründet die eine der drei alten Schulen der
Naturphilosophie, die eleatische. Auf die »alten
Theologen und Seher« beruft sich Philolaos (Frg.
14). Was von dem »Sohne Apolls« Pythagoras
wie später von Empedokles an Wundergeschichten
erzählt wird (Anwesenheit an mehreren Orten, Totenerweckung,
unnatürlicher Tod u. dgl.), hat seine Parallelen bei den »Magiern«
Agrippa und Paracelsus. Nur die älteste, die ionische Schule, soll des hieratischen Elements entbehren?
Aber ihre Heimat Milet hatte (wie auch die Vaterstadt
des Xenophanes) sicher nicht umsonst in ihrem Gebiet ein berühmtes
Orakel Apolls und in den Branchiden ein mächtiges Priestergeschlecht. Und
gar Ephesos war ein religiöses Zentrum, und Heraklit gehörte dort
einem traditionsreichen Geschlecht an, in dem sich das Aufsichtsamt über
die eleusinischen Mysterien vererbte. Hier suche
man auch seinen geistigen Ursprung.
Man wird einwenden, er schilt ja die Magier, Bacchanten, Mysten, den ganzen
Schwarm- und Sühnekult (Frg. 5. 14 f.) und
den mystischen Synkretismus des Pythagoras. Aber
Pico della Mirandola, Agrippa,
Kepler schelten auch den astrologischen Aberglauben,
Agrippa auch das kabbalistische Allegorienspiel, und doch bekennen sie
sich zur Magie oder mystischen Weltauffassung. Heraklit schilt den mystischen
Kult, weil er ihm nicht mystisch genug ist, weil sie »das
wahre Wesen der Götter und Heroen nicht kennen« (Frg.
5), weil die mystischen Weihen »in unheiliger
Weise« stattfinden (14).
Und er droht den Mysten — mit der Mystik, mit der
Strafe nach dem Tode, mit dem feurigen Gericht (ib.) Die
Orgien wären schändlich, wenn sie nicht dem Dionysos gefeiert würden,
der für den Mystiker eins ist mit dem Todesgott (Frg.
15), und man mag bei Rohde nachlesen, wie
es tief im Kult des Dionysos wurzelt, daß er auch »Herr der Seelen« in der Unterwelt
ist. Heraklit will mystisch sein und bekennt sich als
Prophet. Der Herr
des delphischen Orakels, der geheimnisvoll spricht (Frg.
93), ist sein Vorbild, und die Sibylle, die rasenden Mundes Ungelachtes
und Ungeschminktes und Ungesalbtes tönen läßt und deren Stimme
durch tausend Jahre dringt kraft des Gottes (92).
So bekennt er die Erleuchtung des Inspirierten, die Gotterfülltheit.
Thomas Campanella hat sich zeitlebens für einen Seher gehalten,
und Agrippa von Nettesheim unterschied vier Arten
der Inspiration:
die poetische, von den Musen stammend,
die prophetische, visionäre, dem
Dionysos zugeschriebene,
die Weisheit enthüllende, apollinische, und
die von der Venus erweckte Liebe des Göttlichen.
Man kann all diese Inspirationsformen bei den alten Naturphilosophen finden,
nur sie schwer scheiden. Ist Heraklit prophetisch mit dem Vorbild Apollos, so
fühlen sich auch die Pythagoreer als begeisterte Jünger und Pfleger
gerade dieses Gottes, und zugleich legt doch Philolaos
seine mathematische Theologie, die die Einheit des Kosmos verkündet,
in seinen »Bakchen« nieder (Frg. 17.
19). Und wiederum beginnt Xenophanes (der übrigens Frg. 20 die mystische Gestalt des 150jährigen Epimenides
zitiert) bacchantisch, bei bereitetem Gelage, vor
geschmücktem Altar, wo verständige Männer zuerst die Götter
preisen sollen mit frommen Reden und reinen Worten; nach dem Trunke gilts einen
rechten Sang; und stets der Götter zu gedenken ist gut (Frg.
1). Empedokles ferner, der sich als Magier schildert (Frg.
111 f.), der sich in die Reihe der mystischen Katharten stellt mit seinem »Sühnelied«, hebt nicht nur in diesem, sondern auch im Naturgedicht
die Muse als seine göttliche Führerin empor:
»Götter, haltet jenen Wahnsinn ab von meiner
Zunge und laßt von frommen Lippen reinen Quell entströmen. Und dich,
vielgefeierte, weißarmige Musenjungfrau‘ flehe ich an, sende von
der Frömmigkeit her den lenksamen Wagen« usw. (Frg. 4).
»Erkenne, wie die Offenbarungen unserer Muse gebieten« (5).
»Dies wisse klar, da du (durch mich) von Gott her die Rede vernommen« (23).
»Wenn du, unsterbliche Muse, auf unser Streben den Sinn richtetest so
stehe auch jetzt wieder mir Flehendem bei, da ich über die seligen Götter
eine gute Rede kundtun will« (131).
Und endlich haben wir bei Parmenides die Liebesgöttin als Offenbarerin
aller Wahrheit, zu deren »Pforte« sich der philosophische Dichter
emporschwingt in einer großen Vision, deren orphischen Charakter und Abstammung
von der apokalyptischen Literatur Diels (Parm. 14ff.) gezeigt hat.
Wie heißt es bei Jakob Böhme? »Da
ist mein Geist durch der Hölle Pforten durchgebrochen bis in die innerste
Geburt der Gottheit und allda mit Liebe umfangen worden wie ein Bräutigam
seine Braut umfähet.«
Wir sind noch nicht zu Ende mit Inspiration und Vision bei den Vorsokratikern.
Noch der letzte Große der Naturphilosophen, der Materialist Demokrit,
lehrt beide; er betont die Notwendigkeit der göttlichen Inspiration
für den Dichter, er lehrt die prophetische, visionäre Bedeutung der
Träume, er lehrt die Epiphanie der Götter als wirklicher Wesen, die
sich visionär den Menschen offenbaren, weissagend, wohltätig und verderblich
auf sie einwirken, so dass er wünschte glückliche Visionen zu
erhalten. Zeller meint: Demokrit konnte »sich
nicht entschließen«, alle Erzählungen von Erscheinungen und
Wirkungen höherer Wesen schlechtweg für Täuschung zu erklären.
Goethe aber sagt: »Wie besonders die Alten mit diesen Idolen begabt gewesen
sein müssen, läßt sich aus Demokritos‘ Lehre von den Idolen
schließen; er kann nur aus der eigenen lebendigen Erfahrung darauf gekommen
sein.« Und wiederum finden wir dieselbe Lehre von den Bildern realer Wesen,
die als Luftspiegelungen prophetische und sympathetische Fernwirkungen üben,
in der Mystik der Renaissance, bei Agrippa.
Um aber aus dieser Zeit nur eine große Parallele zu bringen für die
Behandlung der Kosmologie als eines begeisterten Hymnus für Gott, zitiere
ich Kepler, der ähnlich
den Pythagoreern nicht nur die Sonne als Apoll den Planeten-Musen ewig lauschen
läßt, sondern … sich mit der Entdeckung der Weltharmonie als
Priester des lebendigen Gottes, als Organ seiner Offenbarung fühlt. Er
hebe eine heilige Rede und einen wahrhaften Hymnus für Gott an, dem es
der süßeste Opferduft sei, wenn ein Mensch seine Allmacht, Weisheit
und Güte erforsche und andern verkünde. »Ich
darf in heiliger Begeisterung vor den Sterblichen mit dem Bekenntnis frohlocken,
daß ich die goldenen Gefäße der Ägypter genommen, um fern
von den Grenzen der Ägypter meinem Gotte einen Altar daraus zu bauen.«
»Wenn wir aber unsere Stimme der idealen Melodie
anpassen und einen Gesang beginnen, der früher nicht gehört ward,
dann ahmen wir Gott nach, der die Harmonie selber ist (wie bei den Pythagoreern)
und ein Bild seines Wesens überall darstellt. Das Maß der Dinge im
göttlichen Geist von Ewigkeit gibt Muster der Weltordnung und geht mit
dem Ebenbild Gottes auf den Menschen über. Weil aber Gott in allem lebt
und so alles Symbol für ihn ist, darum haben Plato und Pythagoras uns viel
Wunderbares über die Natur der unsterblichen Wesenheit im Bild der Zahlen
und Linien gelehrt«. Und am Schluß des Werkes betet er: »O
du, der durch das Licht der Natur die Sehnsucht nach dem Licht der Gnade in
uns erregt, um uns in das Licht der Herrlichkeit zu erhöhen, dir danke
ich, Schöpfer und Herr, daß du mich über deine Werke frohlocken
läßt. — Lobet den Herrn, ihr himmlischen Harmonieen, und ihr,
die ihr die entdeckten Harmonieen erkennt! Lobe auch du, meine Seele, deinen
Gott, solange ich lebe! Denn aus ihm, durch ihn und in ihm ist alles, das Sinnliche
wie das Geistige, das was wir wissen und was wir noch nicht wissen; denn es
ist noch viel zu tun.«
Die Götter haben nicht von Anfang an den Sterblichen
alles offenbart, sondern lassen sie es allmählich entdecken, sagt
Xenophanes (Frg. 18), und er
findet die menschliche Weisheit zumal über die Götter beschränkt
(34. 36). Auch Alkmaion ist durchdrungen davon
(Frg. 1), und auch Heraklit und Empedokles klagen, daß die Wahrheit
über das Göttliche den Menschen so schwer beizubringen sei, weil es
Sache des Glaubens und Vertrauens (Heraklit Frg. 5. 18.
28. 86, Emped. 114. 132. 133), weil es unerforschlich und unzugänglich
(H. 18) und unaussprechlich (E. 134) sei. Das Göttliche ist den alten Naturphilosophen
Mysterium; es wird eben nicht mit dem leicht lehrenden Verstande, sondern mit
dem visionären Gefühl erreicht, und dadurch ward der Philosoph eins
mit dem religiösen Dichter, mit dem Orphiker.
In der Orphik haben wir die vom Einzelgefühl zum Allgefühl, also mystisch
geweitete und damit kosmische Lyrik. In Pindar
zeigt die Lyrik ihre tiefe Neigung zur Orphik, bekennt auch die Allgottheit
(vgl. z. B. Frg. 140), für die sie schon viel früher und wohl
zuerst gerade bei ihrem ursprünglich so stark religiösen Charakter
empfänglich war (vgl. Terpander Frg. 4). Gerade
die religiöse Subjektivität faßt sich gegenüber die Allgottheit,
wie gerade das weiche, wilde Gefühl auch sich gegenüber die strenge
objektive Notwendigkeit faßt. Notwendigkeit und Gesetz faßt nur,
wer auch das Gegenteil kennt. Und darum hat gerade die Lyrik zuerst so laut
die allgemeine Notwendigkeit, die verkündet (s. auch
jetzt Bakchylides X 46. 72. XX 1) … So geht wieder die Naturphilosophie,
die namentlich bei Heraklit, Parmenides und Empedokles beide betont, gerade
in der Aufstellung eines in Gesetz und Notwendigkeit geordneten Kosmos im orphisch-
lyrischen Geist, wie übrigens selbst der Name Kosmos wohl aus der orphischen
Bildersprache stammt.
Die Mystik liebt Bilder und Wortspiele; … Echt mystischen Vitalismus bekundet
auch die orphische rhapsodische Theogonie, indem sie das All aus dem Weltei
entstehen läßt. Die Welt als lebendig gefühlte Ordnung ist die
Welt als Harmonie, und hier war der Geist der Orphik bestimmend, weil ja alles,
was an Orpheus hängt, in der Musik wurzelt. Und die alte innige Verbindung
der griechischen Musik mit dem religiösen Kult ist bekannt, und gerade
im alten Milet ward sie ernst und würdig gepflegt (Athen.
XIV 625 B). Der pythagoreische Kosmos ist Gesang und Tanz der Sterne,
und Musik und Tanz sind ja wichtig namentlich im dionysischen Kult bei seinen
alten Nachtfesten in der freien Bergnatur. Die Nacht, deren Schönheit die
frühe Lyrik schildert (Alkman Frg. 60), die
Nacht, das göttliche Urprinzip orphischer Kosmogonieen, ist stets der Freund
der Mystik gewesen. Die Nacht ist‘s, in der die Sterne leuchten. Ist nicht
darin wieder die Geburtsstunde der Mystik auch die der Astronomie.
Eschatologie
Die mystischen Kulte sind die der Demeter
(und Kore) und des Dionysos,
der Kult der zwei Göttinnen und der Kult, zu dem von alters her gerade
die weibliche Ekstase, das Mänadentum, gehört Ein starker Gefühlscharakter
ist ihm nicht nur zugehörig, sondern sein Wesen. Die mystischen Gottheiten
sind die Gottheiten des Naturtriebs, der Fruchtbarkeit; aber sie sind mehr. Heraklit versöhnt sich
Frg. 15 mit dem dionysischen Orgiasmus, mit dem Phalloslied, weil
Dionysos zugleich Hades ist. Die mystischen Gottheiten
sind zugleich Todesgottheiten. Das Band von Geburt und Tod
ist in ihrem Kult sanktioniert. Die stete Parallelisierung von Hochzeit
und Tod in griechischer Poesie und Kunst ist der unmittelbare Ausdruck täglicher
religiöser Erfahrung, sagt v. Wilamowitz.
Die mystischen Kulte vornehmlich bringen den Griechen den Geist der Wandlung
zum Bewußtsein; sie geben eine Handlung als Mysterium — die klagende
und wiederfindende Demeter, die verschwindende und wiedererscheinende Persephone,
der zerrissene und wiedergeborene Dionysos! Es ist eine Wandlung von Freude
und Leid, von Entstehen und Vergehen, eine Wandlung also in der Seele sowohl
wie in der Natur — und doch zugleich ein religiös empfundenes Götterschicksal.
Erwin Rohde hat recht: Die Handlung der eleusinischen Mysterien ward von den
Gläubigen zunächst nicht als symbolische, sondern als heilige Handlung
empfunden, an der Gottheit sich vollziehend, — und doch betraf sie nicht
bloß die Gottheit, sondern zog die Seelen der am
Mysterium teilnehmenden, miterlebenden Menschen hinein, ihnen am Ende
im Anschluß an Persephones Geschick ein seliges Los nach dem Tode verheißend.
Rohde mag auch darin recht haben:
Dionysos (der spezifisch mystische Gott)
ist ursprünglicher Seelengott als Naturgott, der
Gott des ekstatischen Seelenaufschwungs — aber die allgemeine Seelenerregung
kommt mit der großen Wandlung der Natur, äußert sich im bacchantischen
Schwärmen durch die Natur, gibt ihrem Gotte Satyrn und ähnliche Naturgeister
zur Gesellschaft, und kommt mit dem reifenden Wein, durch dessen Genuß
sie gesteigert wird und den sie dem Gotte zum Symbol gibt. Ob sie es nun ursprünglich
sind, Demeter und Dionysos
werden jedenfalls Gottheiten der Natur und gerade jener Natur, mit der
der Mensch in Verkehr kommt, die ihm für Arbeit Früchte spendet und
dadurch sein Leben regelt. Und gleichzeitig sind sie Seelengottheiten,
Seligkeit verheißend und »Vergottung«
im ekstatischen Aufschwung. Gott, Seele, Natur sind gleichzeitig im mystischen
Kult beteiligt. Epiphanie und Aphanie der Gottheit, jauchzender Aufschwung
und klagende Ohnmacht der Seele, Blühen und Welken der Natur bilden zusammen
eine immer wiederkehrende Wandlung. Gott, Seele, Natur eins im Rhythmus der
Wandlung — das ist ja die Grundlehre der Mystik, und sie wurde den frühen
mystischen Denkern so schon aus den mystischen Kulten klar.
Die Lebenseinheit von Gott, Seele, Natur wird ja
nun aber empfindlich dadurch gestört, daß die Seele dem unendlichen
Leben der beiden Totalpotenzen Gott und Natur nicht nachkommen kann. Die
Gottheit ist als solche unsterblich. Die Natur gibt sich als stete Wiederkehr;
aber der beseelte Mensch zeigt in der Sichtbarkeit einmalige kurze Existenz;
doch das Wesen der Mystik ist die Idee der Lebenseinheit
von Gott, Seele, Natur, und so fordert sie hier die Anpassung der Seele an die
beiden unendlichen Potenzen und gibt so der Seele, was die Gottheit hat und
was die Natur hat, Unsterblichkeit und ewige Wiederkehr. Die alte Naturphilosophie lehrt beides. Man sagt, die eschatologischen Lehren
seien fremde Zutaten, unzugehörige Konzessionen der Philosophen an die
Theologie.
Solche Rücksichtnahme auf den Volksglauben ließe sich begreifen,
aber auch die auf orphische Privatkulte? Und dabei wäre noch die primäre
und zentrale Stellung dieser Lehren, namentlich in manchen Systemen, unbegreiflich.
Weit eher könnte man umgekehrt behaupten, die mystische
Sehnsucht nach dem ewigen Leben hat diese ganze Philosophie geschaffen.
Jedenfalls erkenne ich in der Seelenwanderungslehre geradezu eine notwendige
Grundlage der alten Naturphilosophie; denn die Seelenwanderung
ist die Form, in der der Mensch sich zuerst ganz in die Natur hineinlebt, sich
völlig in ihr wiederfindet, fremde Wesen als sich verwandt, als mögliche
Formen der eigenen Existenz erkennt. Dadurch erst ist die Natur dem Interesse
des Menschen ganz nahe gerückt, dadurch erst ist der Mensch selbst auch
in die Natur eingetreten, indem er teilnimmt an dem Kreislauf ihrer Wandlung.
Die Natur ist lebendig wie die Menschenseele, so sahen es jene Alten; doch das
Leben der Natur fanden sie als ewige Wiederkehr, als Kreislauf. Aber, sagt Alkmaion
(Frg. 2), »die Menschen
gehen darum zugrunde, weil sie den Anfang nicht an das Ende anknüpfen können«.
Doch, sagt Heraklit (Frg. 103), »beim Kreisumfang ist Anfang und Ende gemeinsam«. Der
Kreis ist die mystische Idealfigur, die deshalb jene alte Astronomie überall wiederfindet. Die alten Naturphilosophen empfinden sehr intensiv
die Natur als unendlichen Kreislauf des Werdens, ja, sie steigern vielfach diesen
Rhythmus der Wandlung bis zum ewigen Wechsel von Weltentstehen und Weltvergehen.
Der »Weg
aufwärts« und der »Weg abwärts«
bei Heraklit schlingen sich ineinander, wie die Prozesse der Weltvereinigung
und Weltentzweiung bei Empedokles (vgl. noch speziell
für diesen Kreislauf des Werdens Emp.
Frg. 17, V. 13). Leben und Tod gehen unaufhörlich
ineinander über; aus Lebendigem wird Totes, aber auch aus Totem Lebendiges
(vgl. namentlich Heraklit Frg.
26. 76,
Empedokles Frg.
9. 15. 125).
In Wahrheit allerdings gibt es für die alten Naturphilosophen eben keinen
Tod, sondern nur Wandlung. Der Tod der einen Form ist nur das Aufleben der andern. »Feuer lebt der Luft Tod und Luft des Feuers Tod;
Wasser lebt der Erde Tod und Erde den des Wassers« (Heraklit
Frg. 76). Für die Seelen ist es Lust oder Tod
naß zu werden. Die Lust bestehe aber in ihrem Eintritt in das Leben.
Anderswo aber sagt er: »Wir leben jener, der Seelen
Tod und jene leben unsern Tod« (Frg.
77). »Für
die Seelen ist es Tod zu Wasser zu werden, für das Wasser Tod zur Erde
zu werden«. »Aus der Erde wird Wasser, aus Wasser Seele«
(Frg. 36).
So ist deutlich die Seele in den Kreislauf der Natur hineingezogen. Nichts stirbt
und nichts entsteht, alles wandelt sich. Die Seelenwanderungslehre der alten
Naturphilosophen hängt aufs engste zusammen mit ihrer grundlegenden Leugnung
alles Entstehens und Vergehens; mit diesem Grunddogma lehren sie das ewige Leben.
Die Seelen verschwinden nur, um in andrer Gestalt wiedergeboren zu werden; Wiedergeburt,
Palingenesie ist, wie Rohde zeigt, der älteste und häufigste Name
für Seelenwanderung. Und auch hier wieder stimmt die Naturmystik der Renaissance
zu, namentlich Agrippa und Paracelsus lehren: Es gibt
keinen Tod, alles Sterben ist Wiedergeburt, und die Erzählungen von der
Seelenwanderung haben guten Sinn. Das moriens
renasci verkündet Kepler in einem Gedicht als Sehnsucht und
sichere Hoffnung.
Aber der in der Natur vielfältig wiederkehrende Kreislauf erhält erst
absoluten Charakter, ja, wird überhaupt erst als Kreislauf voll verstanden,
indem er zum absoluten Prinzip selbst, zur Gottheit in Beziehung gesetzt wird.
Thales bereits soll gesagt haben: Gott ist das Älteste, denn er ist ungeworden,
d. h. er ist Anfang alles Werdens. Man pflegt die Echtheit dieses sicher sehr
alten Ausspruchs zu bezweifeln, aber gerade die früheste Philosophie sucht
ja … das Älteste, den Anfang aller Dinge. Doch
sie sucht eben zugleich das Ende aller Dinge, Anfang und Ende eins setzend im
Absoluten. Und so lehrt ja bereits ausdrücklich der nächste
Nachfolger des Thales, Anaximander, daß das, aus dem die Dinge entstehen,
und das, in das sie vergehen, eins sind. Erst im Absoluten ist die Welt als
Kreislauf vollendet, und bereits Anaximander nannte sein Absolutes Gottheit,
wie ja schon die Orphik Zeus Anfang und Zentrum aller Dinge nannte. Und wieder
müssen wir die Mystik der Renaissance heranziehen: Reuchlin nennt Gott
das Erste und das Letzte; Suso, Böhme und andere Mystiker nennen
Gott einen Kreis. »Darum sind alle Ausgänge
um der Wiedereingänge willen, darum ist des Himmels Lauf alleredelst und
vollkommenst, weil er allereigentlichst wieder in seinem Ursprung beginnt, woraus
er entspringt. Also ist des Menschen Lauf alleredelst und vollkommenst, denn
er gehet allereigentlichst in seinen Ursprung.« So spricht die
Mystik Taulers und zieht so in ihrer Weise die Menschenseele hinein in den göttlichen
Kreislauf der Natur.
Die Verewigung der Menschenseele bedeutet ebenso ihr Gottwerden
wie ihr Naturwerden. Gott sein und unsterblich sein sind, wie gesagt, Wechselbegriffe.
Thales soll zuerst die Unsterblichkeit gelehrt haben, eine Lehre, die
ihm zwar die Neueren wieder abstreiten, die sich aber doch wohl mit dem Pandämonismus
und der Allbeseelung gut verträgt. Heraklit
ferner spricht häufig genug ja von dem Leben nach dem Tode. Der
Pythagoreismus ist voll von Lehren der Unsterblichkeit
und Seelenwanderung. Xenophanes (Frg.
7) und Parmenides (Simpl.
phys. 39, 19) gedenken ihrer, und gar Empedokles
macht sie zum Zentraldogma.
Aber es ist nun wichtig, daß die Lehren nicht nur auf eine Parallele,
sondern auf eine Einheit führen: die Menschenseele
wird unsterblich und ewig, nicht nur wie Gott und die Natur, sondern als göttliches
und als Naturwesen. Die Menschen werden in der Seelenwanderung nicht
immer Menschen, sondern auch verschiedene Tiere (wobei wohl wieder die Lyrik
in ihrer Schilderung der Tiercharaktere die Spekulation angeregt haben kann).
Der Mensch wird bei Empedokles auch Pflanze; die Seele wird bei Heraklit zu
Wasser und dann zu weiteren Elementen. Aber all dies ist Abstieg der Seele;
der Aufstieg führt sie zu den Göttern, und hier nun zeigt sich die
alte Naturphilosophie am echtesten als Mystik: in der Vergottung
des Menschen, wenn diese Vergottung auch anders, äußerlicher
gedacht ist als in der christlichen Mystik.
Die mystische Kultlehre der Griechen erhob schon die Seelen
der Reinen zu Tischgenossen
der Götter. Der Pythagoreismus vor allem erklärt nicht nur die Menschen als »Ebenbilder
der Gottheit«, sondern er stellt auch ausdrücklich die ethische
Forderung an den Menschen, »Gott zu folgen und sich
ihm möglichst zu verähnlichen«. Pythagoras bereits soll
gesagt haben: »wir werden dann am besten, wenn wir
zu den Göttern gehen«. Heraklit sieht
noch näher die Brücke zwischen Himmel und Erde, den Übergang
zwischen Mensch und Gott. Der Krieg macht ihm »die
einen zu Göttern, die andern zu Menschen« (Frg.
53). »Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich:
sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben« (Frg.
62). Parmenides erhebt sich in seiner großen
Anfangsvision zu den Höhen der Unsterblichen. Besonders aber malt ja Empedokles
aus, wie schuldige Dämonen aus der göttlichen
Höhe herabsinken in die Sterblichkeit der Menschen und niederer Wesen,
bis sie, in langer Seelenwanderung geläutert, wieder aufsteigend, schließlich
aus höheren Menschen unsterbliche Götter werden (s.
Frg. 112. 115.
146. 147).
Der Weltprozeß ist da überall, bei Anaximander wie bei Heraklit,
bei den Pythagoreern wie bei Empedokles, ein moralischer.
Er ist mehr oder minder deutlich ein Herabsinken vom göttlichen Urprinzip
ins materielle, sterbliche Einzelne und Rückkehr
der endlichen Weltfülle ins ewige, göttliche Ureine, im Grunde eine
Selbstentfremdung, Selbstentfaltung, Selbstentwicklung, Wandlung Gottes, wie
sie eben die Mystik auch zu den Zeiten Böhmes und Schellings lehrte. Bei
Böhme wie bei Schelling ist der theogonische Prozeß weltbedeutend.
Die theogonische Dichtung ist der Vorläufer und Begleiter der altgriechischen
Naturphilosophie, und sie ist mit ihr einig in dem mystischen
Grundgedanken der Weltentfaltung aus dem Göttlichen,
der göttlichen Werdensfolge. Die theogonische Dichtung hat
tief Anregendes für die Naturerkenntnis: sie hat die Wandlung und Folge
heilig gesprochen, sie hat ja sogar mehrfach den »Chronos«
zu einem Urprinzip gemacht und somit die
Bedeutung des Zeitbegriffs vorgeahnt, und sie hat den Kausalitätssinn erweckt,
wenn auch im naivst vitalistischen Sinne: die Weltentwicklung als Geburtenfolge
— das ist ja, wie der Name sagt, die ursprüngliche »genetische«
Auffassung.
So ist insgesamt der Naturerkenntnis eine Fülle von Begriffen aus der Mystik,
oder doch aus der Gemeinschaft mit ihr zugeflossen: die Welt als Einheit und
als Unendlichkeit, die Welt als Einheit der Mannigfaltigkeit, als harmonisches
System, die Welt als Ordnung, Gesetzlichkeit und Notwendigkeit, die Welt als
Kraft — und Lebensentfaltung und im Gegensatz dazu als Materie und Elemente,
insgesamt als Objekt (»Gegenwurf«, vgl. 5.
24. 56. 108) gegenüber dem Subjekt, die Welt
als Wandlung und Kreislauf, als kausale Folge, als Entwicklung, als Descendenz
und Ascendenz, kurz, es sind wohl die obersten Grundbegriffe, das ganze Grundschema
aller Naturerkenntnis, das in der Mystik gegeben war. Die Naturerkenntnis hat sich aus der Mystik immer weiter heraus entwickelt;
sie ist immer differenzierter, spezialistischer, mechanistischer geworden —
aber die Mystik fordert Einheit und Leben.
Die Naturerkenntnis hat sich immer weiter von der Mystik
abgewandt, und sie soll es, und dennoch ist sie zu der Mystik, aus der sie als
altgriechische Naturphilosophie entsprang, zweimal bereits zurückgekehrt,
und gerade in den Zeiten des Anlaufs zu höchstem Aufschwung: in der Renaissance
und am Anfang des 19. Jahrhunderts. Sollte nicht ein Gesetz darin liegen? Die
Naturerkenntnis muß sich in ihrer Entwicklung immer weiter von der zentralen
Mystik entfernen, gleichsam immer peripherischer werden, und dennoch muß
sie und gerade in ihrem höchsten Fortschreiten, das stets als Wiedergeburt
kommt, am tiefsten und bewußtesten den Zusammenhang wahren mit ihren mystischen
Wurzeln, mit jenen subjektiven und anthropomorphen, vitalistischen
und panentheistischen, kurz idealistischen Quellen, aus denen sie immer
wieder neue Kraft zieht, wenn sie im Mechanischen zu veräußerlichen,
im Speziellen zu verarmen droht. S.117-157
Aus: Karl Joel, Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik.
Verlegt bei Eugen Dietrich Jena 1906