Friedrich Jodl (1849 – 1914)
Deutscher
Philosoph und Psychologe, der in München Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte studierte und als ordentlicher Professor Philosophie in Prag und Wien (1896 bis zu seinem Tod) lehrte. Jodl, der von David Hume,
John Stuart Mill, insbesondere jedoch von
Auguste Comte und Ludwig Feuerbach (dessen
Werke er herausgab) beeinflusst war, vertrat einen psychlogistischen
Positivismus und naturalistischen Humanismus. Philosophisch beschäftigte
sich Jodl vor allem mit der Ethik. Das kommt in seinem zweibändigen Hauptwerk »Geschichte
der Ethik« zum Ausdruck, das als eine philosophische-historische
Grundlagenarbeit gilt. Jodl setzte sich für
eine religionsfreie staatliche Pflichtschule und einen Moralunterricht ein,
in dem eine gottunabhängige, rein humanitäre Vernunftreligion vermittelt werden sollte. Aus diesem Bestreben heraus erklärt auch
sein intensives Engagement in der Volksbildung. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Mythologie
und Religion
Wir haben bisher von der Sitte gesprochen, als wäre sie das alleinige Erzeugnis
des ältesten unmittelbaren Nachdenkens über gewisse einer bestimmten
Gemeinschaft und einer bestimmten Lebensstufe angemessene Handlungsweisen. Allein
aus solchen, wenn auch unbewusst und instinktiv von vielen gepflogenen
und allmählich befestigten Nützlichkeitserwägungen, lässt
sich der Gesamtinhalt dessen, was geschichtlich als Sitte erscheint, so wenig
ableiten, wie etwa heute der Inbegriff unserer Überzeugungen aus rein praktischen
Gesichtspunkten. Bei uns, auf der Stufe wissenschaftlicher Reflexion, empfangen
schließlich die praktischen Ideale eines jeden ihr entscheidendes Gepräge
durch die Weltanschauung, zu der er sich bekennt; auf den ursprünglicheren
Stufen des Völkerbewusstseins wird der gleiche Einfluss geübt
durch die Mythologie, welche man daher auch nicht
unzutreffend eine ursprüngliche Metaphysik
genannt hat.
Kommt doch diese Verwandtschaft auch darin zum Ausdruck, daß von Plato
an bis auf Schelling und Hartmann die philosophische Metaphysik, sobald ihr die abstrakte Form der Begriffsentwicklung
nicht mehr genügte, immer wieder zu mythologischen Bildern ihre Zuflucht
nahm. Die Mythologie eines Volkes vereinigt in sich alle Bestandteile seiner
Weltanschauung; sie enthält Wissenschaft und Religion,
sie beherrscht die häusliche Sitte, wie das öffentliche Leben; alle
diese Gebiete sind ungeschieden, weil das wissen noch völlig aufgeht im
Glauben. Es versteht sich von selbst, dass diese, wie immer gestalteten
Vorstellungen über den Zusammenhang der Welt, böse und gute Mächte,
die Beziehungen des Menschen zu diesen Gewalten, auch auf die Wertschätzung
der menschlichen Handlung und somit auf das Sittliche einen entscheidenden Einfluß
üben. So zweifellos die Sitten in der Mehrzahl der Fälle das
E r s t e sind, - einfach Gebräuche von erprobtem Nutzen - so wichtig
wird später ihre Verbindung mit der Religion, durch
welche sie mit einem heiligen Charakter umkleidet werden, oft einfach
darum, weil sie sich für viele Generationen von Nutzen erwiesen haben.
Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß sie das Alte für ehrwürdig
und nach einiger Zeit für geheiligt ansieht, so daß sie, selbst wenn
es geändert oder beseitigt werden soll, daran nur mit ehrfurchtsvollen
Händen rührt. Nirgends können wir diese Entwicklung von Sitte
und Brauch und ihres allmählich hervortretenden heiligen Charakters besser
studieren als in Indien.
In diesem Lande ist alles Sitte, während der Begriff »Gesetz« in unserem Sinne schwerlich existiert. Während in anderen Ländern
die ausgezeichnetsten Forscher auf dem Gebiet der Völkerkunde mühsam
sammeln müssen, was von Gebräuchen, Sitten, abergläubischen Handlungen
noch übrig ist, ist dies alles in Indien für uns bereits getan worden
und zwar nicht nur einmal, sondern in einer ganzen Zahl von brahmanischen Familien.
Man hat diese Sammlungen, die sogenannten Gesetzbücher
des Manu und andere, früher ganz falsch beurteilt. Wer war Manu,
und welche Befugnis hatte er, Gesetze zu geben oder aufzuzwingen? Die eigentliche
Bedeutung des Titels jener Schrift Mânava-dharmasâstra ist, »die Lehre von dem, was unter den Mânava
für Recht gehalten wird«, wobei Mânava ursprünglich nicht für Menschen im allgemeinen stehen soll,
sondern eine Brahmanenfamilie bedeutet, die Manu als
einen ihrer Ahnherrn in Anspruch nahm. Man kann diese Aufzeichnungen kein Gesetzbuch
in unserem Sinne nennen, weil Gesetze, um Gesetze zu sein, die Sanktion irgend
einer Autorität haben müssen, die imstande ist, ihnen nötigenfalls
mit Gewalt Geltung zu verschaffen. Die Sanktion dieser Sittenregeln war keine
politische, sondern eine religiöse; für
den Inder war alles, was in diesen Sûtras
vorgeschrieben wird, mit einem heiligen Charakter umkleidet,
aber es stammt nicht ursprünglich aus der Religion. Die meisten
dieser Regeln sind einfach Gebräuche, die aufkamen, weil sie naturgemäß
waren und sich erhielten, weil sie sich von Nutzen erwiesen, und die schließlich
durch göttliche Autorität gestützt
wurden, weil sowohl ihre Natürlichkeit wie ihre Nützlichkeit vergessen
worden war.
Die Völkerkunde lehrt, daß fast ausnahmslos die Rücksichtnahme
auf die Religion, d. h. auf die mythologischen Vorstellungen, die wichtigsten
emotionalen und intellektuellen Gegengewichte liefert, welche die sinnlich aufgeregten
Begierden der Menschen hemmen und den naturwüchsigen rohen Egoismus brechen.
Schon in der anfänglich unvollkommenen Form, wo die Religion einzig auf
Nutzen oder Schaden sehr faßlicher Art, für ihre Anhänger ausgeht, Furcht vor dem Walten geheimnisvoller Mächte weckt und den Menschen in durchgängige Abhängigkeit von ihnen setzt,
ist sie recht geeignet, in der angegebenen Weise das Gemüt zu beherrschen.
Der Mensch bekommt so eine Ahnung, daß nicht allein dasjenige, was er
mit seinen Augen sehen und mit seinen Händen tasten kann, eine Bedeutung
besitze; er bekommt eine Ahnung von einem Etwas, das wie
eine höhere Macht über dem Wirklichen schwebt. Er gewöhnt
sich auch von dieser Seite her, sein eigenes Ich nicht mehr als den Mittelpunkt
der Welt zu betrachten; er begreift, daß er Rücksichten zu nehmen
habe, daß er überlegen müsse, ehe er handelt. Diese Wirkung
der Religion ist ganz allgemein, ihr Inhalt mag im übrigen sehr niedriger
Art sein. Nun hat freilich vieles von dem, was durch den religiösen
Glauben den Menschen als Sitte oder Norm auferlegt wird, keinen unmittelbaren
sittlichen Wert; ein großer Teil dieser Übungen und Handlungen hat
nur eigennützige Zwecke, denn um die bösen Götter
abzuhalten und die guten sich geneigt zu machen, geschieht ja alles. Aber mittelbar hat, dieses Gefühl der beständigen Gebundenheit an
höhere Mächte für das Sittliche eine sehr große pädagogische
Bedeutung.
Ganz einerlei nämlich, welchen Inhalt die Vorschriften eines mythologischen
Vorstellungskreises haben: sie heben den Menschen aus den tierischen Gewohn¬heiten
des Daseins heraus, indem sie ihn zwingen, sein Tun und Lassen, bis herab auf'
Essen und Trinken, die Verrichtung natürlicher Bedürfnisse, Waschen
usw. in einem gewissen größeren Zusammenhang zu schauen. So entsteht
zunächst eine Reihe von mehr formalen Eigenschaften, ohne welche das Hervortreten
des eigentlichen sittlichen Urteils und dessen dauernder, das ganze Leben beherrschender
Einfluß kaum denkbar ist: Überlegung, Aufmerksamkeit, Bedachtsamkeit
und Unterordnung der augenblicklichen Launen unter ein Gesetz. Aber nicht bloß
für das subjektiv-formale, auch für das objektiv-materiale Moment
im Sittlichen sind die religiösmythologischen Vorstellungen von Bedeutung. Dies gilt in erster Linie von den zahlreichen Reinheits- und
Speisevorschriften, in welche sich, wie man zum Teil auch erst jetzt erkannt
hat, neben vielem Absurden auch ein Stück praktischen Menschenverstandes
der ältesten Hygiene geflüchtet hat, für deren segensreiche Einwirkung
auf das Ethische man alles wird anführen dürfen, was sich aus dem
engen Zusammenhang des Körperlichen und Geistigen, der äußeren
und der inneren Reinheit, ergibt.
Aber der sittliche Einfluß, selbst der rohesten Form der Religion, des
Fetischismus, reicht noch weiter. Indem auch er das Walten
gewisser geheimnisvoller, dem Menschen an Macht überlegener Wesen lehrt,
werden diese Mächte durch eine naheliegende Assoziation zu Verbündeten
oder Urhebern jener inneren Entzweiung, die im Menschen, als reflektierendem
Wesen, so leicht entsteht, wenn er sich bewußt ist, etwas getan zu haben,
was von den übrigen mißbilligt wird - ein Zwiespalt, der dem
naiven Bewußtsein unerklärlich, grauenhaft scheint, während
er für uns sehr natürlich aus dem Kontrast des selbstsüchtigen
Indivi¬dualwillens mit dem nach psychologischen Gesetzen unvermeidlichen
Reflex eines höheren, allgemeinen Willens entsteht. Zugleich ist es interessant
zu sehen, wie frühzeitig dieser Zusammenhang benutzt wird, um die Zwecke
der Gemeinschaft zu fördern. So sagt der bekannte Anthropologe Waitz:
»Der Fetischglaube ist eine wesentliche Stütze
der öffentlichen Ordnung. Der Schutz des Eigentums auch in entfernten Gegenden,
die Sicherheit des Geldtragens auf langen Reisen, die Leichtigkeit, Gestohlenes
oder Verlorenes durch Gottesurteile wieder zu erlangen, beruhen auf ihm. In
Groß-Bassam z. B. wird einem Angeklagten nur ein Fetischholz auf den Leib
gelegt, und man ist sicher, ein Geständnis zu erhalten, wenn er schuldig
ist; die Furcht preßt es ihm ab. Unter der Türschwelle des Palastes
von Dahomey ist ein Zauber verborgen, der den Weibern des Königs, wenn
sie sich zu einer Untreue gegen ihren Gebieter verleiten lassen, Krankheit im
Leibe verursacht, so daß sie sich oft zum freiwilligen Geständnis
ihrer Schuld genötigt sehen.«
Man sieht hier ganz deutlich, wie das vom Willen unabhängige
Bewußtsein des Unrechts sich in dem betreffenden Dämon gewissermaßen
objektiviert und jenes Schuldbewußtsein selbst zeigt eine wichtige
Stufe des sittlichen Prozesses: die durch Gewohnheit, Erziehung und Strafe bewirkte
Umsetzung der Gefühle und Urteile der Umgebung in die eigene Wertschätzung,
die so gewissermaßen verdoppelt wird: eine egoistische und eine soziale.
Dafür ist gerade das hohe Alter und die weite Verbreitung des Instituts
der Beichte charakteristisch - eine Entlastung der inneren Spannung dadurch,
daß das Empfundene ausgesprochen wird, die wir, ganz abgesehen von den
Kulturvölkern, sowohl bei Negern als bei Polynesiern, und namentlich bei
Mexikanern, Peruanern und deren Verwandten bezeugt finden.
Die ethische Idealisierung der Götter tritt
verhältnismäßig spät ein. Und nicht selten nehmen wir wahr,
daß diese übernatürlichen Wesen, welche Gegenstand der Verehrung
und besonderer Aufmerksamkeit sind, sich um das eigentlich Ethische gar nicht
bekümmern. Ihr Egoismus will befriedigt sein: sie
verlangen Opfer für sich, sie wollen nicht vergessen sein. Den wildesten
Schandtaten von Mensch zu Mensch sehen sie oft mit Gleichmut, zu. Das gehört
noch nicht in ihr Ressort. Was der Mensch dem Menschen zufügt, das wird
auch vom Menschen gerächt.
Die Götter sorgen vor allem für sich selbst. Sie zu leugnen,
zu verhöhnen, ihre Macht in Frage zu stellen, ist das ärgste Verbrechen.
Und es ist zu bemerken, dass auf der verfeinertsten Stufe der religiösen
Entwicklung eine ähnliche Entfremdung zwischen dem
Gottesglauben und dem sittlichen Tun wiederkehrt. Es gibt eine Gefühlsreligion,
in welcher die Hochflut der Begeisterung, mit Gott in Gemeinschaft zu leben, das Interesse am Guthandeln als solchem zurückdrängt. Das Reich
der Stimmungen ist solchen Menschen vertraut: die Andacht
des Einsseins mit Gott; die Zerknirschung der Reue, die Verdammnis der Gottfernen
und wiederum die überschwengliche Seligkeit der Gottnähe und Wegnahme
der Schuld - das ist das Element, in dem sie leben: das gilt ihnen höher,
als die einfache, harte, geduldige, zu tausendfacher Resignation verurteilte
Arbeit des Willens - eine scheinbare Überlegenheit, in der doch
nur zum Vorschein kommt, was Lessing seinem Nathan in den Mund legt, wie viel
leichter und süßer andächtig schwärmen als gut handeln
ist.
Die Religion ist vorzugsweise ein Mittel im Kampf ums Dasein, eine Anweisung,
um auf zauberischem, übernatürlichem Wege diejenigen
Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen, zu deren Erfüllung die
natürliche Kraft des Menschen nicht ausreicht. Ihrem Ursprung nach
sind die meisten Götter vergöttlichte Naturmächte.
Sie sind Machthaber, deren günstige Stimmung zu erlangen
gut und nötig ist: wer sich mit einem von ihnen befreundet hat,
wird nur um so besser fahren, wenn er auch die übrigen für sich zu
gewinnen weiß. Sittliche Erhabenheit, Heiligkeit im Sinne späterer,
durchgebildeter Religionsanschauungen, liegt dem Wesen der Götter im Anfang
der religiösen Entwicklung, wie sie uns besonders klar die Hymnen der Veda,
aber auch die homerischen Gedichte verdeutlichen, sehr fern.
Sie sind erregbar, launenhaft, überwiegend von einer
freilich nicht ganz zuverlässigen Gutmütigkeit; auch tückische
und gefährliche Anwandlungen fehlen bei ihnen nicht. Um ihre Gunst
zu gewinnen, ist es nicht so wesentlich, Tugenden zu üben, als vielmehr
sie reichlich zu speisen, prächtige Opfer für sie zu veranstalten,
durch kunstvolle Loblieder ihnen zu schmeicheln und vor allem auch gegen ihre
menschlichen Freunde und Diener, die Priester, der Freigebigkeit nicht zu vergessen.
Im Laufe der Zeit verdunkelt sich die ursprüngliche Naturbedeutung der
Götter; ihr eigentliches Wesen empfängt fremde
Beimischungen; sie werden menschenähnlicher und eben dadurch in ethischer Beziehung reicher ausgestaltet. Die Züge
der großen Naturwesenheiten, des Gewitters, der Sonne, des Mondes usw.
verschwinden hinter den Bildungen menschenähnlicher, aber übermenschlich
starker Wesen, die segnend und rettend, auch strafend ins menschliche Leben
eingreifen und die Ordnungen der Gesellschaft aufrecht halten. In manchen
Fällen reichen unsere dürftigen Überlieferungen aus, uns einen
solchen Umwandlungsprozeß verfolgen zu lassen, wie ihn z. B. bei den Griechen Zeus, bei den Indiern Varuna
durchgemacht haben, von einem Himmels- und Sonnengott zu einem höchsten Schützer des Rechts, einem allwissenden Durchschauer
und Bestrafer jeder, auch der verborgensten Missetat. Man sieht, wie
hier langsam gewaltige Verschiebungen der Sitte, der Lebensformen entsprechende
Umgestaltungen der Göttergestalten hervorgerufen haben.
Aber auch in diesen Umwandlungen wirkt die ursprüngliche Naturbedeutung
der Götter noch lange und vielfach nach. Gerade durch diese Entstehung
des Religiösen aus dem Mythos und da diese wiederum untrennbar an die ethische
Idealisierung der Götter geknüpft sind, mußten, um diese Seite
des religiösen Einflusses auf die Sittlichkeit in helles Licht zu setzen,
beide Vorgänge in ihrem Zusammenwirken studiert werden.
Die Gestaltung idealer Vorbilder menschlicher Tüchtigkeit beginnt überall
mit dem Kultus der Ahnen. Zunächst ist es das persönliche Beispiel,
das zur Nacheiferung reizt. Der Tote ist ein besseres sittliches Vorbild, als
es der Lebende sein könnte, weil die Phantasie in den Vorzügen, mit
denen sie sein Bild ausstattet, keine von den Schranken hat, welche die Bedingungen
des wirklichen Lebens mit sich bringen. Zugleich aber wirkt der Kultus des Toten,
auch auf die Verehrung der lebenden Ältern, des Alters überhaupt und
der durch ihren Rang hervorragenden Stammesgenossen verstärkend zurück
in einer Weise, die der religiösen Verpflichtung verwandt erscheint. Tugend
und Rang pflegen sich aber, wenn die Erfahrung keinen allzu dringenden Widerspruch
erhebt, in der Vorstellung der Mitlebenden und um so mehr der Nachlebenden innig
zu verbinden.
Wie auf das Greisenalter, so geht daher bei allen Naturvölkern auf die
Häuptlinge und Fürsten schon während des Lebens etwas von jener
religiösen Verehrung über, die ihnen nach dem Tode gezollt wird und
verbindet sich mit der natürlichen Furcht vor der Macht der Gebietenden.
Es liegt auf der Hand, daß die religiöse Färbung, welche auf
diesem Wege in den Anfängen der Entwicklung über das Verhalten von
Oberhaupt und Untertanen sich verbreitete, nicht nur zur Befestigung der sittlichen
Rechtsordnung beigetragen, sondern bei Erweckung aller
jener Triebe mitgewirkt hat, die sich in der selbstlosen Hingabe für fremde
und für allgemeine Zwecke betätigen. Pflichtgefühl und
Vaterlandsliebe in der Form, wie der Kulturmensch sie kennt, sind dem Naturmenschen
fremd, weil bei ihm alle Gemeinschaftsgefühle in die Schranken persönlicher
Neigung und Abneigung eingeengt bleiben.
Können wir freilich den religiösen Anschauungen der Naturvölker
nur Andeutungen hinsichtlich der Einflüsse entnehmen, welche die Ahnenverehrung
auf das sittliche Bewußtsein ausübt, so erscheinen dagegen diese
Einflüsse voll ent¬wickelt bei denjenigen Kulturvölkern, bei denen
die Erinnerung an die Vorfahren bleibend zu einem hervortretenden Bestandteil
von Kultus und Sitte geworden ist, wie sich das im Orient vorzugsweise bei den
Chinesen, im Okzident bei den Römern beobachten läßt. Nirgends
hat dieses System be¬deutender gewirkt als in China. Dort ist die Kindesliebe
sowie die Verehrung und Achtung der Kinder für ihre Eltern und Vorfahren
von ältester Zeit her als die Wurzel aller Religion und Regierung betrachtet
worden. Der Hsiâo King oder »Klassiker
der Kindesliebe« ist eines ihrer heiligsten Bücher.
Es wird dem Konfutse zugeschrieben, und enthält
Unterredungen zwischen ihm und seinem Schüler Tsang-Tse
- ein Versuch Religion, Sittlichkeit und Politik auf die Kindesliebe
als die Kardinaltugend zu gründen. Das pietätvolle Familienleben,
die patriarchalische Ordnung von Staat und Gesellschaft, die Heilighaltung der
überkommenen Sitte, die das wünschenswerte Maß oft überschreitende
Achtung der väterlichen Gewalt, sind naheliegende Wirkungen dieser Anschauung.
Sie artete in China in einen erdrückenden Despotismus und ein peinliches
Festhalten am Herkommen aus, welches die individuelle Geistesfreiheit in Fesseln
legt, während sie bei den Römern durch ihren Eintritt in die hellenische
Weltkultur überwunden wurde.
Was nun die Gestaltung der Götter als idealer Vorbilder
menschlichen Handelns anlangt, so muß man sich wohl gegenwärtig
halten, daß die älteste Form der über den bloßen Fetisch-
und Geisterglauben hinausliegenden Religion, d. h. der Mythus, ursprünglich
alles, Naturanschauung, Religion und Sittlichkeit, in ungeschiedener Einheit
enthält. Eben durch die Entstehung des Religiösen aus dem Mythos geschieht
es auch, daß sich in den Göttern nicht bloß
die Tugenden, sondern auch die Schwächen und Fehler der Menschen verkörpern; denn die Gewalten der Natur erscheinen ja nicht nur als freundliche,
wohltätige, sondern als finstere, unheimliche. Die Götter sind nicht
bloß Vorbilder der Tapferkeit, Gerechtigkeit und jeder gemeinnützigen
Tugend, sondern sie sind nicht minder groß in List,
Betrug, Gewalttätigkeit und sinnlichen Leidenschaften.
In diesem Sinne erschien z. B. den Griechen Zeus als
Vorbild aller Herrschertugenden, vornehmlich der Gerechtigkeit;
aber der Gott vereinigt damit nicht bloß, entsprechend dem erhabenen Eindruck
einer machtvollen Persönlichkeit, das höchste Maß körperlicher
Stärke, er ist nicht minder groß und furchterregend in der Leidenschaft.
Als Liebhaber der Jo und Semele und in seinen sonstigen Abenteuern mit sterblichen
Frauen erscheint er als das Urbild eines üppigen
Tyrannen, der sich von manchem menschlichen
Exemplar seiner Gattung kaum mehr als dadurch unterscheidet, daß ihm die
Wunder übernatürlicher Verwandlungen und übermenschlicher Stärke zu Gebote stehen.
Ganz ebenso mischt sich in der Gestalt der Hera das sittliche Element, das Ideal hoher Weiblichkeit. mit vielen verunstaltenden
Beimengungen, wie sie eben auch hier der ursprünglichen Naturbedeutung
des Mythos und der daran anknüpfenden Übertragung menschlicher Schwächen
entspringen, und die namentlich in ihren mannigfachen Kämpfen mit
Zeus zum Ausdruck kommen. Die Entwicklung der Religion
selbst fälscht ihren ursprünglichen Gehalt. Solange die Geschichte
der Götter nur die Verflechtungen natürlicher Vorgänge im Bilde,
in Form einer Metapher oder einer Personifikation darstellt, und solange man
sich des Bildes bewußt war, konnten die späteren ethischen Bedenken
gar nicht entstehen.
Die Hunderte von Liebesabenteuern des Zeus oder
der Aphrodite konnten so wenig Anstoß erregen,
wie uns heute etwa der Sauerstoff Anstoß gibt, weil er sich mit vielen
Körpern, mit denen er in Berührung kommt, verbindet.
Der größte Teil des uralten, nie zu schlichtenden Konfliktes zwischen
der Religion und dem Denken wurzelt darin, daß der religiöse Glaube
die metaphorische Ausdrucksweise einer ursprünglich sinnlichen Sprechweise
wörtlich nimmt und Zähigkeit diese seine Mißdeutung als den
eigentlichen höheren Sinn behauptet.
Aber nicht bloß unsittliche Beimengungen enthalten die einzelnen Göttergestalten
und Mythen; in gewissen Erscheinungen der Natur liegen auch die Bedingungen
bereit, um das Böse und Unsittliche als solches in
den Göttern zu verkörpern. Das typische Beispiel dieser Art
bieten namentlich jene Vorstellungen, welche von dem Kampf
des Lichtes mit der Finsternis ausgegangen sind und in der Mythologie
der alten Iranier ihre reinste Durchbildung erlangt
haben.
Es könnte auf den ersten Blick als eine Beeinträchtigung des ethischen
Gehalts der Religionsanschauungen erscheinen, wenn diese nicht
bloß ein positives Ideal der Tugend, sondern auch ein negatives des Bösen
enthalten; in Wahrheit aber ist eine solche Ausbildung von Gegensätzen
ein besonders kräftiges Zeugnis sittlicher Wertschätzung. Denn
diese verstärkt sich durch den Kampf der Gegensätze; und das Tugendideal
wird, wie jedes Gefühlserzeugnis, größer und inhaltreicher durch
seinen Kontrast mit dem Bösen. Auch muß man sich hüten, auf
jene Vermischung des Göttermythus mit unsittlichen Bestandteilen allzu
großes Gewicht zu legen, wenigstens für die Periode einer naiveren
Auffassung, welche noch arglos die aus verschiedenen Motiven entsprungenen Vorstellungen
vereinigt, ohne sich der Widersprüche zwischen ihnen bewußt zu werden.
Der nämliche Zeus, der gelegentlich selber
falsche Eide schwört und feierlich gegebene Versprechen wieder zurücknimmt,
ist darum doch der Hüter der Eide und der
Beschützer der Verträge, der den Meineid und die Treulosigkeit mit
seiner Strafe verfolgt. Und diese subjektive Wirkung der für einen gegebenen
Zweck in Betracht kommenden religiösen Bedeutung eines Gottes bleibt sittlich
wertvoll, wenn auch die objektive Bedeutung sich in gegensätzliche Richtungen
scheidet.
Der feierlich Schwörende, der den Namen des Zeus
anruft, denkt an ihn nur als den Gott der Eide,
und der Betende, der seine Wünsche an ihn richtet, hat allein den Schützer
der sittlichen Weltordnung im Auge: Kultus und Gebet erzeugen, wenn sie
wirklich Betätigung eines inneren Bedürfnisses sind, in jedem einzelnen
Falle von selbst jene Konzentration von Vorstellungen, die für die religiöse
Erhebung erforderlich ist. Schon der Grieche der homerischen Zeit macht hier
im Grunde nur eine ähnliche Unterscheidung, wie sie noch heute die römische
Kirche vollzieht, zwischen der dem Irrtum und der Sünde unterworfenen Person
des Papstes und dem unfehlbaren Oberhaupt der Kirche.
Natürlich konnte die Vereinigung von Gegensätzen nur solange vorhalten,
als sich das mythologische Denken seine naive Ursprünglichkeit bewahrte.
Sie muß unvermeidlich zur Zersetzung von Religion und Sittlichkeit führen,
sobald die Kritik sich der mythologischen Vorstellungen bemächtigt und
jene inneren Widersprüche zum Bewußtsein bringt. In diesem Sinne
müssen wir den Angriffen, welche die griechischen Philosophen seit Xenophanes unausgesetzt gegen gewisse Züge der Volksmythologie richteten, eine hohe
sittengeschichtliche Bedeutung beilegen, weil wirklich die Vermengung
unmoralischer Motive mit den Göttervorstellungen allmählich eine schädigende
Wirkung auf die ethische Seite der Religionsanschauungen auszuüben
begann. Es fehlt dafür nicht an drastischen Belegen aus dem Altertum. Eutyphron belangte seinen Vater auf Totschlag und berief sich dabei auf die allgemeine
Meinung, daß auch Zeus seinen eigenen Vater
in Fesseln legte, und dieser wiederum seinen Vater wegen Vergehen ähnlicher
Art entmannt habe. Über den Mythus von Ganymeds Entführung
bemerkt Plato: »Alle
Welt lege diese Sage den Kretern zur Last. Weil nämlich bei ihnen der Glaube
herrscht, ihre Gesetze seien ihnen von Zeus gegeben,
so hätten sie auch diese Fabel noch hinzugesetzt, um nach dessen Vorbild
auch diese Lust genießen zu können.« Die Päderastie
war nämlich nach dem Zeugnis der Alten auf Kreta gesetzlich sanktioniert.
In ähnlicher Weise berief man sich zur Rechtfertigung unerlaubter Liebe
auf das 300jährige außereheliche Verhältnis zwischen Zeus
und Hera. Welche Vorstellungen selbst zu Platos
Zeiten über den Gott Hermes als
Schützer und Förderer des Meineids, Betrugs, Diebstahls, in Geltung
waren, geht schon daraus hervor, daß Plato für nötig hält, zu versichern: Es sei nicht wahr, daß einer
von Zeus' Söhnen jemals an Betrug oder Gewalttat
sich gefreut oder eines von beiden betrieben habe. Es möge sich also niemand
von einem Dichter oder Mythologen zu frevelhaften oder trüglichen Vorstellungen
über dergleichen Vergehen verführen lassen und sich einbilden, wenn
er raube oder stehle, so tue er nichts Schändliches, sondern nur, was auch Götter selbst wohl täten.
Jene philosophische Kritik aber, welche an den vorhandenen Göttervorstellungen
nur das bewahren möchte was ihr standhält, gerät sehr bald in
die Gefahr, die religiöse Anschauung zum reinen Begriff zu verflüchtigen.
Dagegen bot sich für das mythologische Denken ein Hilfsmittel um auch noch
auf einer höheren sittlichen Entwicklungsstufe den religiösen
Ideen eine die Phantasie ansprechende Form zu geben, nämlich die Schaffung neuer Göttervorstellungen, die von den
Mängeln der älteren Mythen frei sind: man denke an die in Griechenland
wie in Rom eingetretene Umwandlung abstrakter Begriffe in Göttervorstellungen.
Max Müller nennt dies die »psychologische Religion«. Besonders in Rom finden wir sie
ausgebildet. Der pietas, der kindlichen
Liebe, der pudicitia, der Schamhaftigkeit,
der virtus, der Männlichkeit,
der spes, der Hoffnung,
der fides, der
Treue, wurden Tempel geweiht. Diese Gottheiten wurden nicht nur in den
Tempeln verehrt, sondern ihre Macht und ihr Einfluß waren wenigstens eine
Zeitlang so groß, daß Regulus z. B.
lieber gestorben wäre, als daß er seine
fides gebrochen hätte.
In diesen Gestaltungen des späteren Mythus, in den Personifikationen verschiedener
Schicksals-, Tugend- und Rechtsbegriffe, erscheinen die Götter nicht mehr
als ideale Vorbilder menschlichen Seins und Wesens, sondern überwiegend
als Träger einer idealen Weltordnung, durch
die sie lohnend und strafend die Geschicke der Menschen lenken. Diese zweite
ethische Hauptfunktion der Gottheiten, die Sanktion der sittlichen Normen, ist
später ohnedies im Zusammenhang zu betrachten. Es bleibt daher an dieser
Stelle nur noch übrig, einen Blick auf jene kaum minder bedeutenden Idealbildungen
zu werfen, wie sie neben der Göttersage, namentlich in der Heroensage,
vor uns stehen.
Auf die Motive ihrer Entstehung, auf das oft genug für uns noch kenntliche
Zusammenfügen historischer Landschaften und Persönlichkeiten mit einem
mythischen Stoff, der zumeist deutlich auf einen einstigen Naturmythus zurückweist,
kann nicht eingegangen werden; nur die ethischen Wirkungen des Heroenkultus
können uns hier beschäftigen. Erst jetzt gewinnt der Gedanke seine
volle Bedeutung, daß der Gott ein ideales Vorbild
menschlichen Strebens sei, weil hier erst die volle Vermenschlichung
eingetreten ist. Die Götter behalten immer etwas Unnahbares; das ist bei
den Heroen anders. Wenn auch ihr eigener Ursprung auf
die Götter zurückführt, so haben sie doch selbst unter
Menschen menschlich gelebt und ein Geschlecht hinterlassen, zu dessen letzten
Sprossen zu gehören, vielleicht mancher sich rühmen mag. So erscheinen
sie als erreichbare Ideale menschlicher Tugenden, ein
Wert, der ihnen reichlich ersetzt, was ihnen neben den Göttern an Erhabenheit
abgehen mag; und neben diesem Vorzug fällt noch der andere ins Gewicht,
daß an die geschichtliche Wahrheit der Heroen fester und darum länger
geglaubt wird, als an die Götter selbst.
Bei den Heroen erscheint nur in potenzierter Weise ein Motiv wirksam, welches
zu den wichtigsten und ältesten Bestandstücken der ethischen Erziehung
gehört: die vorbildliche Tätigkeit der anerkannt Guten für das
übrige, namentlich das heranwachsende Geschlecht. Wir brauchen uns nur
an den Vorgang zu erinnern, wie er bei der sittlichen Erziehung des Kindes sich
abspielt oder wenigstens abspielen sollte. Wenn man dem Kinde abstrakte Definitionen
gibt, etwa: »Gut ist das für die menschliche
Gesellschaft Nützliche« oder »Gut
ist das um seiner selbst willen Lebenswerte« - so hat es davon
natürlich gar nichts. Ganz anders, wenn man ihm ein anderes gutes Kind
seiner Bekanntschaft zeigt und sagt: So mußt du auch werden! Das kann
einschlagen. Und es ist nicht anders mit dem Erwachsenen.
Auch bei seiner sittlichen Entwicklung spielt die Angabe eines konkreten Vorbildes,
nach dem er sich richten kann, welches das von ihm verlangte Gute ihm anschaulich
vor Augen führt, eine große Rolle. Bei allen Völkern ist die
Heldenverehrung eine mächtige sittenbildende Potenz. Die Helden einer Nation sind die Guten, die Tugendhaften; das Beispiel
der Helden lehrt und befeuert die anderen. In erster Linie begeisterte es die
Sänger und Dichter, später die Geschichtschreiber, und so kam es,
daß längst, ehe der theoretische Gedanke des Sittlichen von Philosophen
gedacht worden ist, das sittliche Ideal ganzer Völker sich an die konkrete
Sittlichkeit einzelner Personen anlehnen und solche Personen, oft mit unleugbaren
sittlichen Gebrechen neben großen Zügen, zu kopieren unternehmen
konnte.
Anderseits bemächtigt sich nun gerade das Streben der ethischen Idealisierung
solcher Gestalten, die einen festen historischen Kern und eine Menge konkreter
persönlicher Züge vor allen abstrakten Beschreibungen voraus haben.
Aber auch die Philosophie konnte schon im Altertum sich vielfach der Heroen
bemächtigen, um mit bewußter Absicht ihr Bild und ihre Taten bald
zur allgemeinen Versinnlichung eines sittlichen Ideals, bald zur Einprägung
einzelner moralischer Lehren zu benutzen. Während so die Naturgötter
von den Philosophen wegen der unsittlichen Ausschmückungen bekämpft
wurden, billigten diese Kritiker unter Umständen den Heroenkultus als ein
wirksames Mittel sittlicher Nacheiferung - gewiß ein sprechendes Zeugnis
ebensowohl für die längere Lebensfähigkeit dieser mythologischen
Form, wie für ihren ethischen Wert.
Vor allem an der Hauptgestalt der griechischen Heroensage, an Herakles,
treten diese Eigenschaften klar hervor. Fast jeder Ort und jede Zeit hat aus
diesem Urbild eines Helden das gemacht, was ihnen jeweils groß und bewundernswert
erschien. Wie die Athleten der Gymnasien und die Weltkämpfer zu Olympia
in ihm als dem Vorbild männlicher Kraft und alles bezwingender Stärke
ihren Schutzheros verehren, so gilt er den Sophisten, den Erfindern der Fabel
vom Herkules
am Scheidewege, als ein Beispiel kluger Vorsicht und bedachtsamer Überlegung und so sehen
schließlich die Schulen der Kyniker und
Stoiker in ihm das Ideal eines den Schmerz verachtenden, Mühe und
Entbehrung dem Lebensgenusse vorziehenden Weisen. Er ist Repräsentant jener
sittlichen Lebensanschauung, die man als den innersten Grundzug des Griechentums
überhaupt ansehen kann: nämlich des ethischen
Optimismus. Er ist nicht ein Mühseliger und Beladener, der unter
der ihm auferlegten Last ohne göttliche Hilfe zusammenbricht, sondern ein
Gewaltiger, der nach dem Höchsten ringt, der sich selbst hilft durch Stärke
und Ausdauer und schließlich mit dem höchsten Preise, mit der Aufnahme
in den Kreis der Götter, belohnt wird.
Auf die Dauer freilich kann auch der Heroenkultus den Verfall der Naturmythologie
nicht überleben. Zeigt die Heroensage auch höhere Widerstandskraft
gegen die zersetzenden Einwirkungen des philosophischen Denkens - eine Folge
ihrer Zurückführung des Übermenschlichen
auf menschliche Motive, ihrer Vermengung mit den Persönlichkeiten
und Begebenheiten der wirklichen Geschichte - so raubt ihr endlich doch auch
der Zusammenbruch der Göttersage den richtigen Halt. Der Heros wird entweder
völlig zum Menschen, zu einer erdichteten Persönlichkeit der Geschichte
oder zur Spukgestalt des Volksaberglaubens, welche Kinder und Furchtsame schreckt,
aber ihre ethische Bedeutung völlig eingebüßt hat.
Mögen indessen auch die äußeren Formen sich wandeln und absterben:
die Motive. welche einst innerhalb der Naturreligionen zur Ausbildung des Heroenideals
geführt haben, bleiben in Kraft auch in der neuen Weltanschauung: auch
den Kulturreligionen fehlt das persönliche Ideal nicht. Vielmehr sehen
wir es gerade in den vier größten Kulturreligionen der Welt, in der
Lehre des Konfuzius, im Buddhismus,
im Christentum und im Mohammedanismus
die ethisch wirksamste Form annehmen, indem es an eine historische Persönlichkeit
von ungewöhnlicher sittlicher Größe gebunden
wird.
Die Naturreligion ist niemals von Einzelnen geschaffen, wenn auch einzelne Dichter
und vorgeschichtliche Denker an ihrer Ausbildung mitgewirkt haben mögen.
Die Kulturreligion dagegen ist stets von einer einzelnen schöpferischen
Persönlichkeit ausgegangen. Nur der Brahmanismus macht eine Ausnahme; hier erfolgt die Begründung einer ethischen Religion
von einer ganzen Priestergenossenschaft aus, aber eben darum ist hier die ethische
Form lediglich aus einer allmählichen philosophischen Umgestaltung und
Umdeutung der ursprünglichen Naturreligion hervorgewachsen und der Übergang
zu einer rein ethischen Weltanschauung gehört eigentlich nicht mehr der
Religion, sondern der Philosophie an.
Überdies fehlt hier vollständig jener wichtige ethische Faktor des persönlich sittlichen Vorbildes, welcher an die Existenz
eines persönlichen Stifters der Religion gebunden bleibt. Und dessen
Bedeutung müssen wir festhalten, wenn wir auch heute durchaus nicht mehr
geneigt sind; jenen Religionsstiftern als historische Persönlichkeiten
alle die Züge in Wirklichkeit beizulegen, mit denen später die Verehrung
der Gläubigen ihr Idealbild ausgeschmückt hat. Namentlich bei Buddha
und Jesus verflüchtigt sich für die schärfere historische Betrachtung
das, was sie als Personen gewesen sind und gelehrt haben, fast völlig hinter
die Ideen, welche sich mit diesen Gestalten verbunden haben; aber ein fester
historischer Kern leuchtet doch durch die gesamte Überlieferung hindurch
und eben dies, daß eine einheitliche und beglaubigte
Persönlichkeit als fester Kristallisationspunkt für die Arbeit der
sittlichen Idealisierung gegeben ist, begründet die ungeheure vorbildliche
Wirksamkeit dieser Gestalten. Daß aber das sittliche Ideal, wenn
es wirksam sein soll, wenigstens auf gewissen Stufen der Entwicklung, ein persönliches
und mit allen Zeugnissen der Wirklichkeit ausgestattetes sein soll, folgt aus
dem Wesen der sittlichen Vorstellungen, die stets die handelnde Persönlichkeit
des Menschen zu ihrem Mittelpunkt haben.
Freilich haben diese Kulturreligionen, namentlich Buddhismus
und Christentum, zum Teil wenigstens ebensoviel
empfangen wie gegeben: wie der Buddhismus nicht
denkbar wäre, ohne das vorausgehende System der Vedante,
so das Christentum nicht ohne die griechische
Philosophie, insbesondere ohne den Platonismus.
Gerade das Auftreten dieser beiden religiösen Formen zeigt also neben der
sittenbildenden Wirksamkeit des religiösen auch die des philosophischen
Prinzips, freilich in der Art, daß die Philosophie, um in weiteren Kreisen
wirksam werden zu können, sich in das Gewand des Religiösen hüllt.
Mit diesen Betrachtungen wurde allerdings dem natürlichen Gang der Entwicklung
einigermaßen vorgegriffen. Wenn wir sehen, wie die Götter aus bloßen
Naturgewalten und bekleidet mit all der sittlichen Rücksichtslosigkeit,
die der Naturgewalt eigen ist, allmählich zu sittlichen
Mächten werden, so zeigt sich darin mehr der Einfluß wachsender
und befestigter sittlicher Begriffe auf die Religion als umgekehrt. Aber diese
Wirkungen kommen von der anderen Seite zurück.
Auch die ethisierten Gottheiten bleiben doch die
Träger einer den Menschen und sein Schicksal beherrschenden
Gewalt; auch sie müssen günstig und gnädig gestimmt werden.
Das Bezeichnende für diese spätere Entwicklungsstufe ist nur, daß
die geistigen Führer der Völker nun die sittlichen Vorschriften für
das Verhalten von Mensch zu Mensch unter den Schutz der
Gottheiten stellen, und dem, was in seiner sozialen Begründung noch
unverständlich wäre, dadurch Autorität und Geltung verleihen,
daß sie es als göttliches Gebot verkünden. Diese Tatsache, daß
Gott das Gebot gesetzt hat, und daß ein Bruch des Gebotes Bruch
des Freundschafts- und Bundesverhältnisses mit der Gottheit sein
würde, genügt, um es zu stützen.
Das alte Judentum ist ein typisches Beispiel einer
solchen religiösen Ethik, einer solchen Gesetzesreligion, in welcher der Komplex aller sittlichen Vorschriften als eine Reihe göttlicher
Gebote erscheint und durch Aussicht auf Belohnungen oder göttliche Strafakte
sanktioniert wird. Diese Anschauung reicht bis in die jüdisch-hellenistische
Zeit hinein; noch den Verfassern des Buches der Weisheit und des
Ekklesiastikus erscheint der geoffenbarte Gotteswille
als der zureichende Grund der Sittlichkeit, und wie viel von dieser Anschauung
auch heute noch in der sogenannten religiösen Ethik,
namentlich im Katholizismus, vorhanden ist, zeigt
jeder Blick in die populäre paränetische Literatur, jeder Besuch einer
Predigt. Im übrigen ist aber zu bemerken, daß Judentum
und Christentum keineswegs die einzigen
Repräsentanten dieser Stufe sind, daß wir vielmehr namentlich auch
im Zendavesta, dann in den ethisch-religiösen
Lehren der alten Ägypter und, wie es scheint, auch der Mexikaner ganz verwandte
Bildungen vor uns haben.
Hier ist nun zugleich im Auge zu behalten, daß auf dieser Stufe Sitte,
Recht und religiöser Kultus auf das innigste verschmolzen sind. Fast überall
sind Gesetzgebung und Überwachung der Sitte ursprünglich priesterliche
Funktionen, und dieser äußeren Vereinigung der verschiedenen Bestandteile
der sittlich religiösen Normen in der persönlichen Einheit ihrer Vertreter
entspricht durchaus die mangelnde Scheidung der Gebiete im Völkerbewußtsein.
In dem Veder, im Zendavesta und im Pentateuch haben wir klassische Beispiele für diese Vermengung der Gebiete. Überall
hat diese Verstärkung der Sanktion der sittlichen und rechtlichen Normen
durch ihre Ver¬bindung mit den Göttern und ihrem Willen bedeutend gewirkt;
überall freilich hat sie auch dazu beigetragen, das eigentlich Sittliche
durch eine Menge von zeremoniellem Beiwerk zu trüben, aus welchem sich
der bleibend wertvolle gern erst spät und unter vielfachen Kämpfen
herauszuarbeiten vermochte. Mit Recht sagt daher Wallaschek:
»Wenn die Philosophen gewöhnlich sagten, daß
die Religion zur Moral führe und ihnen Kant erwiderte:
umgekehrt, die Moral führt zur Religion, so haben in dieser Fassung eigentlich
beide unrecht. Es gibt ebensowenig eine Religion, die keine moralische Grundlage
und Tendenz hätte, als eine Moral, der gar keine Religion vorangegangen
wäre. Das Streben aber, das einmal zur Moral führt, nimmt zuerst eine
Form an, die, vereinigt mit anderen Tendenzen, die Religion ergibt und entwickelt
sich erst von hier aus selbständig als Moral. Das Streben, das zur Moral
führt, war schon vorhanden, als eine Religion entstand; es mußte
aber durch diese Form hindurchgehen, ehe es selbständige Moral wurde.«
Die erwähnte Scheidung ist in der Regel weniger das Werk eines ganzen Volkes,
als vielmehr einzelner hervorragender Geister, Philosophen
und Propheten. Und es ist eines der interessantesten Schauspiele in der
Kultur- und Religionsgeschichte zu beobachten, wie sich nach und nach das sittlich
Gute im eigentlichen Sinne abhebt von dem bloß Rituellen. Wo eine herrschende
Priesterkaste vorhanden ist, da dauert diese Scheidung oft lange; meist bekommt
entweder das Rituelle den Vorzug oder es wird doch künstlich als dem Moralischen
ebenbürtig hingestellt; sicherlich oft aus begrün¬deter Menschenkenntnis
und in bester Absicht.
Um die Gemüter geneigt zu machen, das Sittliche zu tun (welches
sich wenig kontrollieren läßt), wurde dieses eng verknüpft
mit dem Rituellen, das leicht zu kontrollieren ist. Das Rituelle fällt
in die Augen und läßt sich erzwingen; Übertretungen dieser Art
können nicht unter Mitwirkung der Priester gesühnt werden und die
Wertschätzung des Zeremoniellen findet stets eine sehr bedeutende Unterstützung
in der natürlich sittlichen Trägheit der Menschen. Denn Kant hat sehr recht, wenn er sagt, daß die Menschen sich
lieber dem härtesten Frondienst äußerlicher Riten und Opfer
als dem Dienst des rein Moralischen unterwerfen. So kommt unter dem Einfluß
der Priester das opus operatum, das religiöse Tun und Opfern, abgesehen
von jeder moralischen Gesinnung, in Gang, und wo die Priesterkaste noch unterstützt
wird durch das Vorhandensein heiliger Bücher, auch die Überschätzung
des bloßen religiösen Wissens.
In dieser Überwucherung des Sittlichen durch ein gedankenlos gewordenes religiöses Tun und Wissen, durch äußerliche
Gebräuche, Gebetsformeln usw. liegt ein stets wiederkehrendes, durch die
ganze Sitten- und Religionsgeschichte sich hindurchziehendes Motiv des Konfliktes
zwischen sittlichem Bewußtsein und religiösem Bewußtsein, die
Geburtsstätte eines reformatorischen Dranges, den wir als den Kampf der
Innerlichkeit gegen die Veräußerlichung, des Geistes gegen den Buchstaben,
bezeichnen müssen, und der immer dieselben strengen und erhabenen Züge
trägt, einerlei ob sein Urheber Konfuzius
oder Buddha, Hosea oder
Jesaias, Mohammed oder
Jesus heißt; ob es die Reformation ist, die
gegen die ausgewachsenen Formen des mittelalterlichen Kirchentums ankämpft
oder das freie philosophische Denken, das sein höheres Recht gegenüber
aller Religion zu behaupten sucht.
Insofern nun die sittlichen Gebote als Ausfluß göttlichen
Willens und die Gottheit gewissermaßen als Garant der Norm erscheinen,
bietet sich unserer Betrachtung der zweite mächtige Hebel, mit welchem
die religiösen Ideen in das sittliche Leben eingreifen: die Vergeltungsvorstellungen.
Die Götter des Naturmythus sind von dem Augenblick an, wo sie als menschenähnliche
und zugleich in allen ihren Eigenschaften übermenschliche
Wesen gedacht werden, nicht bloß selbst sittliche Ideale, Vorbilder
sittlicher Tüchtigkeit oder, wo die Vorstellung des negativen Ideals entstanden
ist, zum Teil auch Vorbilder des Abfalls vom Guten,
sondern sie erscheinen zugleich als Gründer der sittlichen
Weltordnung, welche sie durch Belohnung und Strafe erhalten.
Diese Idee einer göttlichen Weltordnung steht
ursprünglich mit den Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode in keinem
notwendigen Zusammenhang. Vielfach wenigstens, wie bei Juden und Griechen, ist
zunächst ausschließlich das irdische Leben der Schauplatz der göttlichen
Gerechtigkeit. Freilich ist schon bei Homer ein erster Ansatz der Vergeltungslehre
zu erkennen: in den Höllenstrafen, die einzelnen
besonders übermütigen Frevlern und »Götterfeinden«
zuteil werden - einem Tantalos und Sisyphos
- aber es vergehen Jahrhunderte, ehe dieser Keim zu voller Entfaltung
gelangt. Das jenseitige Los der ungeheueren Mehrzahl der Menschen erscheint
noch als völlig unabhängig von ihrem sittlichen Verdienst oder Verschulden.
Und vor allem: die griechische Staatsreligion nimmt von dem Unsterblichkeitsglauben
nur geringe Kenntnis. Dem Diesseits gilt die überwiegende Sorge des Menschen,
wenigstens soweit wir aus den öffentlich anerkannten Kulten schließen
können.
Es ist indessen interessant zu sehen, wie auch da, wo das künftige Leben
ursprünglich keine Stelle in dem mythologischen Denken fand, der Vergeltungsgedanke
ihm später eine solche erobert hat. Mögen dabei auch äußere
Einflüsse, Übertragungen fremdartiger Religionsvorstellungen wirksam
gewesen sein: die Tatsache, daß die letzteren fruchtbaren Boden fanden,
bleibt immerhin ein Zeugnis für ein mit der Entwicklung der sittlichen
Anschauungen allmählich reifendes religiöses Bedürfnis. In diese
Richtung mag schon die oft sich aufdrängende Beobachtung geführt haben,
daß Schuld und Verbrechen lange Zeit ungesühnt bleiben können;
sie wird das Aufkommen solcher Anschauungen begünstigt haben, welche es
möglich machten, widersprechenden Erfahrungen zum Trotz, die Forderung
einer strafenden Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten.
Demgemäß wird der Spielraum der letzteren allmählich immer weiter.
Er reicht schon über das Leben des Verbrechers selbst hinaus, indem sich
die Vorstellung entwickelt, daß an seinen Nachkommen die Schuld gerächt
werde, deren Strafe ihn nicht mehr ereilen konnte. Die Idee der Blutsgemeinschaft
und der durch sie auch für die menschlichen Rechtsvorstellungen maßgebend
gewordenen Blutrache kommt dieser Erweiterung des Strafgebiets begünstigend
entgegen. Ist doch die Strafe der Nachkommen, in gewissem Sinne nur die passive
Ergänzung der Blutrache. Wie hier der Blutsverwandte für den Geschädigten,
der sich selbst keine Sühne verschaffen kann, eintritt, so wird er dort
als der Stellvertreter dessen betrachtet, den der Tod dem rächenden Arm
der Gerechtigkeit entzogen hat.
Wir haben hier einen ähnlichen Prozeß, wie er sich auch in der Entwicklung
des Strafrechts vollzieht. Wie auf Erden das Strafrecht des Staates aus der
Privatrache des Einzelnen und der Familie herauswuchs, so tritt auch in den Straforten des Jenseits die Blutgerichtsbarkeit der Götter
gleichsam an die Stelle der Blutrache. Die Beweise für die Richtigkeit
dieses Schlusses liefern jene Unterweltsdarstellungen, welche uns den Übeltäter
von der Seele oder dem Rachegeist seines Opfers gepeinigt zeigen. Und so waren
sicherlich die Erinnyen ursprünglich nichts
anderes, als die zornerfüllten, sich selbst Rache holenden Seelen der Ermordeten.
Hier kann es nun nicht ausbleiben, daß die Idee der fortwirkenden Gerechtigkeit
mit den Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, sobald diese irgend entwickelt
sind, in Beziehung trete: alsbald wird das Leben nach
dem Tode vollständig in den Dienst des Vergeltungsgedankens gestellt;
es gestaltet sich zu einem System von Strafen und Belohnungen, welches nicht
mehr bloß aus dieser Welt in das Leben nach dem Tode sich fortsetzt, sondern
in dem letzteren erst seinen eigentlichen Anfang nimmt.
Damit ist jene Forderung göttlicher Gerechtigkeit,
welche im irdischen Dasein so oft unerfüllt bleibt, zu einer durch widerstreitende
Erfahrungen nicht mehr zu trübenden Geltung gelangt. Wo sich aber überhaupt
neben der religiösen Spekulation auch eine philosophische entwickelt hat,
da pflegen beide gerade auf dem Gebiete des Ethischen in der mannigfaltigsten
Weise einander zu begegnen, so daß es oft kaum möglich ist zu entscheiden,
ob die religiösen Elemente oder die philosophischen die überwiegenden
sind. Namentlich in zwei philosophischen Systemen finden wir die
intensivste sittliche Verwertung der Vorstellungen vom Leben nach dem Tode:
in der Vedantaphilosophie der Inder und dem
Platonismus. Beide haben auf die zwei weltbeherrschenden Religionen,
auf den Buddhismus und das Christentum
einen tiefgreifenden Einfluß ausgeübt. In konsequenter Fortbildung des Gedankens, daß dem Tode ein unbegrenztes
Dasein folge, dessen Wert nach dem Inhalt des gegenwärtigen Lebens sich
richte, gestehen sie diesem Leben überhaupt nur die Bedeutung einer Vorbereitung
auf das Jenseits zu. Aus der primitiven Ansicht, daß das Verbrechen,
welches menschlicher Strafe entgeht, noch in diesem Leben früher oder später
der göttlichen Gerechtigkeit anheimfalle, hat sich allmählich der
Glaube an ein System von Belohnungen und Strafen entwickelt, durch welches in
einem künftigen, von den Mängeln der Wirklichkeit befreiten Dasein
jedem genau nach dem Wert seiner Handlungen vergolten werde.
Die disziplinierende Wirkung dieser Vorstellungen, namentlich auf früheren
Stufen des Volksbewußtseins, wo die unmittelbaren sinnlichen Antriebe
noch sehr heftig, die Erwägung entfernterer Folgen und umfassender Zweckbedeutung
der Handlungen noch wenig entwickelt sind, liegt auf der Hand. Neben der direkt
erweckbaren und zur Nacheiferung treibenden Kraft der
in den Göttern konkret gedachten sittlichen Ideale bereiten die
Vergeltungsvorstellungen der Sittlichkeit mehr in negativer Weise den Weg, indem
sie an die Stelle der Leitung des menschlichen Handelns durch die unmittelbar
gegebenen impulsiven Motive eine Leitung durch entferntere, nur in der Vorstellung
gegebene Leiden und Freuden setzt und dies auch für solche Fälle,
wo der rein egoistische, auf das Diesseits beschränkte
Interessenkalkül entweder keinen Grund zur Unterlassung oder kein
Motiv zum Handeln vor sich sähe.
Denn soviel ist gewiß: der religiöse Gesetzgeber kann mit seinen
Geboten und Verboten viel tiefer in das geheime Innere des menschlichen Tuns
und Lassens hinabsteigen als der politische, welcher sich vor dem Fehler hüten
muß, Dinge zu gebieten und zu verbieten, welche sich seiner Kontrolle
und damit der Wirksamkeit seiner Sanktion entweder überhaupt oder doch
nach überwiegender Wahrscheinlichkeit entziehen. Der
religiöse Gesetzgeber stellt eine Norm vor dem Menschen als göttlichen
Willen auf, knüpft an ihre Befolgung oder Verletzung die Aussicht auf Belohnung
und Bestrafung durch höhere Macht, sei es im Diesseits, sei es im
Jenseits, und kann nun die weitere Wirkung, bei gelegentlicher wiederholter
Einschärfung des Zusammenhanges, getrost dem hiermit in sich zerspaltenen
selbstsüchtigen Bewußtsein des Einzelnen überlassen.
An den natürlichen Schrecken des Todes gewinnt dieser Gedanke der jenseitigen
Vergeltung einen kräftigen Bundesgenossen : je dunkler dem gewöhnlichen Bewußtsein die Pforte erscheint, die sich im Sterben
vor uns auftut, um so grauenhafter wird sich das Schuldbewußtsein
die Schrecken ausmalen, welche den Sünder im Jenseits erwarten. Und in
der Tat: von den unermeßlichen Wirkungen dieses
Glaubens auf das Tun und Lassen der Menschen sind alle Blätter der Sittengeschichte
voll und es kann wohl nicht bezweifelt werden, daß der Glaube an einen
Richter, der auch das Allergeheimste des menschlichen Herzens durchschaut und
der mit unbegrenzter Macht der Vergeltung ausgestattet ist, viel Böses
gehindert und viel Gutes gefördert und der Menschheit eine ganze Reihe
der sittlich wertvollsten Eigenschaften anerzogen hat.
Zu wie seltsamen Zerrbildern z. B. auch oftmals die Übung der Askese geführt
haben mag: kein Kenner der Sittengeschichte wird es bestreiten, daß sie
die Fähigkeit der Verzichtleistung auf Genüsse des Augenblicks, der
Sammlung der Kräfte im Hinblick auf ideale Güter, der Selbstverleugnung
und Selbstaufopferung im Dienste sittlicher Ideen, den mächtigsten Vorschub
geleistet hat. Und da alle höhere sittliche Entwicklung
der Menschheit nur dadurch möglich wird, daß, wie früher hervorgehoben
worden ist, die Fähigkeit der menschlichen Wertschätzung sich erweitert, die zwingende Kraft der im Bewußtsein unmittelbar gegenwärtigen
Eindrücke und Motive sich verringert und die fernstliegenden Folgen und
Werte lebendig mitempfunden werden, so muß jede andauernde Übung
dieser Fähigkeit als ein wertvoller Faktor in der
menschlichen Sittengeschichte gelten, selbst wenn es sich bei genauerer
Betrachtung herausstellen sollte, daß das, was die Menschen häufig
genug für den Zweck gehalten haben, tatsächlich nur Mittel war, und
ebenso, daß die Werte, um deren Verwirklichung man sich mühte, vielfach
nur eingebildete waren, hinter denen sich die eigentlichen, realen nur verbargen.
Gleichwohl ist der Zweifel - wie ihn namentlich der Benthamismus
ausgesprochen und begründet hat - ob der Anteil der religiösen
Vergeltungsvorstellungen an der Ethisierung der Menschheit wirklich ein so großer
und unersetzlicher sei, wie namentlich von kirchlicher Seite und verwandten
politischen Richtungen immer wieder behauptet wird, keineswegs grundlos und
unbegreiflich. Diese Vorstellungen sind, unter gewissen Voraussetzungen, eine
wertvolle Mithilfe bei der Ethisierung der Menschheit; aber daß die sittliche Ordnung wesentlich oder auch nur vornehmlich auf
ihnen ruhe, daß sie, beim Wegfall anderer Stützen, durch sie allein
gehalten werden könne, läßt sich durchaus nicht behaupten. Man
kann das deutlich aus der unleugbaren Tatsache schließen, daß zu
allen Zeiten, auch als der Glaube an die jenseitige Vergeltung
seine größte Intensität besaß und unaufhörlich
durch die religiösen Lehrer in den eindrucksvollsten Bildern eingeschärft
und ausgemalt wurde, unzählige Menschen sich so verhielten, als ob sie durch ihre Handlungen im Diesseits nicht die Entscheidung über
eine ganze Ewigkeit von Qual oder Seligkeit träfen.
Der Begriff der jenseitigen Vergeltung unterliegt manchen Abschwächungen,
teils von seiten der religiösen Lehre selbst, teils durch den psychologischen
Mechanismus. Zunächst haben alle christlichen Lehrsysteme sich bemüht,
den furchtbaren Eindruck abzuschwächen, welchen der Konflikt zwischen der
zu Verfehlungen geneigten Menschennatur und den entsetzlichen Androhungen ewiger
Strafen hervorrufen muß; sie alle stellen neben
die göttliche Strafgerechtigkeit die göttliche Gnade und Verzeihung,
neben die Rache der erzürnten Gottheit ihre Erlösungstätigkeit, teils als Unterstützung der menschlichen Gebrechlichkeit auf dem rauhen
Pfade sittlicher Arbeit, teils als Nachsicht und Verzeihung begangener Schuld.
Wie menschlich auch diese Gestaltung des religiösen Gedankens sein mag,
der ohne sie und in seiner ganzen Härte das menschliche Gemüt zur
Verzweiflung treiben müßte - unter dem Gesichtspunkt einer Sanktionierung
ethischer Normen durch den Vergeltungsgedanken bedeutet sie doch eine Abschwächung,
und in der Tat braucht man ja nur einen Blick auf gewisse Perioden der Geschichte
des mittelalterlichen und des restaurierten Katholizismus zu werfen, um zu, beobachten, wie sich unter der Mithilfe solcher Abschwächungen
in einem System, in welchem der Glaube an ewige Belohnungen
und Bestrafungen im Jenseits einen wesentlichen Bestandteil bildet, eine
außerordentlich weitgehende Laxheit, und Abschwächung der sittlichen
Verpflichtungen entwickeln konnte.
Nicht minder wirksam aber ist das psychologische Moment, welches darin liegt,
dass alle Vorstellungen von Freuden und Schmerzen, wenn sie für eine
sehr ferne Zukunft voraus genommen werden müssen, eine bedeutende Abschwächung
ihrer Motivationskraft erfahren. Unmittelbar gegebene oder sicher zu erwartende
Gefühlswirkungen gewinnen leicht die Oberhand über intensiv und extensiv
viel ausgebreitetere Zustände, die nicht der unmittelbaren Erfahrung angehören
und nur mittels eines erheblichen Aufwandes von Phantasie lebhaft vorgestellt
werden können.
Man nehme z. B. den Gedanken an den Tod, ein schmerzliches, fast von allen Menschen
gefürchtetes Ereignis, vor dem es kein Entrinnen gibt. Und doch sehen wir
täglich, daß ihn die Menschen fast ganz aus ihrem Gesichtskreise
entfernen und, um nicht an ihn denken zu müssen, oft nicht einmal diejenigen
Vorsichtsmaßregeln ausführen, welche die Sorge für ihre Familie
eigentlich erheischte.
Unser ganzes heutiges Strafsystem ist auf demselben psychologischen Gesetz aufgebaut.
Ehedem suchte man die große Langsamkeit und Unsicherheit der Strafjustiz
durch äußerste Verschärfung der Strafmittel und grausamen Strafvollzug
wett zu machen - ein oft sehr zweifelhafter Erfolg, der mit unendlich viel Aufwand
von Schmerz erkauft war. Heute ist alles Augenmerk der Gesetzgeber darauf gerichtet,
denselben oder einen besseren Effekt unter Anwendung eines möglichst geringen
Schmerzensmaßes einfach dadurch zu erzielen, daß: man die Chancen
für das Nichtentdeckt- und Nichtbestraftwerden eines Verbrechens so gering
wie möglich macht. Nimmt man nun noch hinzu, daß jeder religiöse
Glaube sowie das auf ihm aufgebaute praktische Verhalten nicht nur durch innere
Gründe und nicht nur durch transzendente Hoffnungen
und Befürchtungen, sondern durch die sehr starke und lebhafte Mitwirkung
der Volkssitte gestützt zu werden pflegt, welche Abweichungen schwer erträgt
und unter Umständen heftig ahndet, so dürfte sich die Behauptung von
der überragenden Bedeutung der Unsterblichkeitssanktion auf ihr zutreffendes
Maß reduzieren.
Dabei ist nun noch nichts darüber gesagt, dassalle
Vorstellungen von künftiger Belohnung und Bestrafung mit der Kraft e g
o i s t i s c h e r Motive wirken. Ein Verhalten. aber, das durch sie
ausschließlich oder vorzugsweise geleitet wird, ist - nach unseren früheren
Begriffsbestimmungen - nur legal, nicht moralisch, d. h. es entspricht dem
ethischen Imperativ der äußeren Form nach, aber nicht den Motiven
nach; es stellt keine wahre innere Anpassung an das sittlich Wertvolle dar.
Gesetzt aber, ein Mensch nähme ein vollkommen legales Handeln an, nur um
der dafür erhofften Belohnungen willen, so muß man das aus pädagogischen
Gesichtspunkten betrachten. Die allermeisten Menschen bedürfen mit Rücksicht
darauf, wie sie nun einmal sind, einer Verstärkung
der sittlichen Motive durch egoistische. Ein Tun aus einem Überwiegen
dieser Motive heraus hat zwar keinen sittlichen Wert, kann ihn aber erlangen
durch die Wirkung, die es auf künftiges Tun hat; denn wenn es den sittlichen
Motiven im Konfliktfalle den Sieg sichern geholfen hat, so wird durch diesen
Sieg die Kraft der sittlichen Motive verstärkt und die der entgegengesetzten
geschwächt, und auf diese Weise zur sittlichen Vervollkommnung ein Schritt
getan, der den zukünftigen Erfolg des Guten wahrscheinlicher macht. In
ähnlichem Sinne meint wohl auch Lessing:
»Zwar sollte besonders ein Freund der Wahrheit sich
edlerer Triebfedern, z. B. der Ehre, bewußt sein: aber die edelsten können
nicht immer die wirksamsten sein und besser, daß das Rad durch unreines
Wasser umgetrieben wird, als daß die Maschine ganz stille steht.«
Es spielen also die Vergeltungsvorstellungen in der Sittengeschichte der Menschheit
ganz die gleiche Rolle, wie Belohnung und Strafe in der Erziehung des Einzelnen.
Allerdings macht es einen gewissen Unterschied in der Wirkung, ob
sich der menschliche Egoismus aufs Diesseits oder Jenseits bezieht.
Die mit dem Unsterblichkeitsglauben ausgerüstete religiöse Ethik kann
das Pflichtgebot in seiner ganzen Härte und Strenge vor dem Menschen aufpflanzen;
sie kann ihm den Weg zum Guten, welchen er hienieden zu wandeln hat, als einen
mit Dornen besetzten Steinpfad schildern, ja sie kann ihn geradezu auffordern,
für dieses Leben Mühsale und Leiden in schier übermenschlichem
Maße auf sich zu nehmen, geflissentlich allem Streben nach irdischem Glück
zu entsagen und seine oberste Aufgabe in strenger Selbstverleugnung und Abtötung
zu sehen, weil sie neben allen innerlich wirkenden Triebkräften
zum Guten noch einen überaus mächtigen Bundesgenossen hat -
eben jenes unersättliche Bedürfnis der Menschennatur
nach Glück, welches, aus der Ordnung dieses gegenwärtigen Lebens
ausgeschlossen oder wenigstens in den Hintergrund gedrängt, an
der Schwelle des Todes riesengroß in die Höhe wächst und mit
der Aussicht auf die himmlischen Freuden des Paradieses alles gegenwärtig
erduldete Leid versüßt.
Eltern und Pädagogen hoffen, dass der Gehorsam, durch welchen Kinder
zum Guten aus Furcht oder Autorität gewöhnt werden, einen freiwilligen
Gehorsam gegen das allmählich in früh geübte, aber erst später
recht erkannte Gute übergehe. Und in der Tat spiegelt die Ausbildung des
Vergeltungsgedankens ziemlich genau die Höhe des sittlichen Standpunktes,
auf welchem sich der einzelne religiöse Lehrer befindet, und die Höhe
des sittlichen Lebens, auf welchem er sein Publikum vermutet.
Es ist kaum möglich, von einer eigentlichen Entwicklung zu sprechen, denn
durch die ganze Geschichte des christlichen Glaubens, auf welchen wir uns der
Einfachheit halber beschränken wollen, sehen wir die roheste Verwendung
des Vergeltungsgedankens mit seiner äußersten Sublimierung Hand in
Hand gehen, wo er zu einer als Motiv kaum noch wirksamen Zugabe wird. Schon
die ältesten Urkunden des christlichen Glaubens zeigen diesen Zwiespalt.
Den Synoptikern, namentlich Mathäus, dessen große eschatologischen Reden die Hauptstütze für die Unsterblichkeits-
und Vergeltungslehre der späteren Theologie geworden sind, liegt
der Gedanke an eine eigentliche ethische Sanktion der guten Gesinnung und Handlung
durch Selbstachtung. Selbstzufriedenheit und die innere Unseligkeit des Bösen,
ganz ferne. Dagegen bricht auf eine für unser Gefühl verletzende Weise
der reine Lohnbegriff durch: das vollgerüttelte, ja überschwengliche
Maß dessen, womit jedem vergolten wird nach seinen Taten und die unmittelbar
bevorstehende Nähe dieser Vergeltung müssen für Jeden das entscheidende
Motiv abgeben, um sich den Geboten zu unterwerfen und Bürger des neuen
Gottesreiches zu werden. Bei Paulus das nämliche:
mit dem größten Nachdrucke erklärt das 15. Kapitel des Korinther-Briefes,
es habe keinen Sinn, Mühen, Gefahren und den Tod um des Evangeliums willen
auf sich zu nehmen, wenn die Toten nicht auferstehen. »Lasset uns essen und trinken - denn morgen sind wir tot« : das sei dann der Weisheit letzter Schluss. Das Evangelium Johannis steht
hingegen auf einem anderen Boden. Was diese Darstellung vorn Gottesreiche sagt,
welches Jesus predigt, ist so ziemlich das Gleiche, was jeder ethische Idealismus
in Aussicht stellt: die innere Beseligung, die jedem dadurch
erwächst, dass er an der Erreichung sittlicher Aufgaben arbeitet,
in sich vollkommener wird.
Die religiöse Ethik zeigt nach diesen biblischen Vorgängern neben
dem gröbsten egoistischen Interessenkalkül die vielfältigsten
Abschattierungen bis zu dem fast gänzlichen und geflissentlichen Verbergen
des eudämonistischen Elements hinter die reine und begeisterungsvolle Hingebung
an das Göttliche als das Gute. Der Gegensatz wirkt in den Gemütern
der Menschen, wie in den theologischen Systemen fort. Berühmt
und in gewissem Sinne typisch ist die Kontroverse zwischen den französischen
Bischöfen Bossuet und
Fenelon im 17.
Jahrhundert. Fenelon hatte die für die vielen mystischen Richtungen des
Christentums gemeinsame Bemerkung gemacht: es gebe einen Zustand der reinen
Gottesliebe, der habituellen Hingabe an Gott, in welchem weder die Furcht vor
Strafen, noch die Hoffnung auf Lohn, ja nicht einmal das Verdienst, die Vollkommenheit
und das Glück solcher Hingebung als Motive wirken. Dies alles ist tatsächlich
mit solcher Liebe verbunden; es ist nicht möglich, dass Gott nicht
die Seligkeit der ihn liebenden Seele sei, aber die Seele kann ihn mit solcher
Uneigennützigkeit lieben, dass ihr Blick auf Gott die Liebe um nichts vermehrt, so daß sie ihn ebensosehr lieben würde, wenn er nicht ihre
Seligkeit sein sollte.
Bossuet bekämpfte diese Auffassung als eine unmögliche; die Kurie
hat ihm in ihrer lange schwankenden, dem Papste nur wider Willen abgerungenen
Entscheidung zugestimmt, und erklärt, dass der Christ in einem Akte
der reinen Liebe sich der Sehnsucht nach der ewigen Seligkeit ausdrücklich
entäußern dürfe, und dass es keinen Stand der Vollkommenheit
gebe, von welchem die Hoffnung ausgeschlossen sei.
Viel unumwundener noch als diese vorsichtig zurückhaltende, vermittelnde
Erklärung der Kurie haben englische Theologen einen geistlichen Utilitarismus auf die Vergeltungshoffnung im Jenseits begründet. In klassischer Weise Paley, den wir als Stimmführer einer weitverbreiteten
Richtung bezeichnen dürfen. »Die Sittlichkeit«,
so definiert er, »besteht darin, der Menschheit
Gutes zu erweisen aus Gehorsam gegen den Willen Gottes und um die ewige Seligkeit
zu erlangen.«
Mit Entschlossenheit akzeptiert er als Konsequenz das völlige Zusammenfallen
der Begriffe Klugheit und Pflicht und sagt, der Unterschied zwischen beiden
bestehe wirklich nur darin, dass wir, was Gewinn und Verlust in dieser
Welt betreffe, Klugheit nennen, was dagegen unsern Zustand im Jenseits: »Pflicht«.
Es ist offenbar, daß wir mit der so gefassten religiösen Sanktion
um keinen Schritt über die rein egoistischen Motive des menschlichen Handelns
hinauskommen, ja daß dieses System eigentlich alle edlere Sittlichkeit
oder innere Kultur des menschlichen Willens aufhebt. Es donnert gegen den die
Unsterblichkeit leugnenden Materialismus und Monismus, und für das ganze
Mittelalter und die Reformation war der Epikureer hauptsächlich darum der natürliche Feind aller Sittlichkeit, weil
er die Unsterblichkeit leugnete und man sich nicht denken konnte, daß
Jemand, der nicht an die ewige Vergeltung glaubt, ein guter und anständiger
Mensch sein könne. Welche waren da nun die eigentlichen Materialisten?
Freilich gibt es auch unter den Kirchlichgesinnten solche, welche diese Auffassung
nicht teilen. Berühmt ist der Satz der hl.
Therese, welche sich eine Fackel in ihre rechte und ein Gefäß
mit Wasser in ihre linke Hand wünschte, damit sie mit der einen die Herrlichkeit
des Himmels verbrennen und mit der anderen die Flammen der Hölle auslöschen
könne, um zu bewirken, daß die Menschen Gott
aus Liebe allein dienten. Auch Calvin erklärt an manchen Stellen
die Meinung, ohne Hoffnung auf künftige Vergeltung würde dem Menschen
der Antrieb zum Guten fehlen, für einen groben Irrtum und das Rechthandeln
nur aus Rücksicht auf Lohn für einen schnöden Knechtsdienst;
Gott wolle umsonst geliebt sein, und vermöge seiner Güte sei er es
auch wert, daß der Mensch, selbst wenn es keinen Himmel und keine Hölle
gäbe, doch vor jeden Beleidigung eines so guten Vaters sich scheue. Und
in zahlreichen Variationen zieht sich durch die ganze theologische Ethik des
Christentums der Gedanke hindurch, welchen ein katholischer Heiliger,
Fr. Xavier, in die Verse gekleidet hat:
Wie sollt' ich denn, o hl. Christ,
Dich also lieben nicht -
Nicht aus dem Wunsch nach Himmelsglück,
Aus Furcht vor Höllenpein,
Nicht in der Hoffnung auf Gewinn.
Auf irgend einen Lohn:
Nein so, wie Du mich selbst geliebt,
Der Du uns ewig liebst.
Wenn hier, für den Gottes- und Erlösungsgläubigen
Motive der Pietät, der Dankbarkeit, der Liebe zur Gottheit und ihrem Handeln
innerhalb der Menschheit die Sanktion des Sittlichen an Stelle des Lohn- und
Strafgedankens übernehmen, so kann man diese Denkweise noch weiter idealisieren
und in der Gottheit überhaupt das Vollkommene verehren, welches uns zu
sich hinaufzieht und das wir nachzuahmen haben. Dies zeigt uns die religiöse
Sanktion in ihrer größten Subli¬mierung, allerdings auch im Punkte
ihrer Selbstauflösung. Denn die Gottheit als solche kann eigentlich
kein ethisches Ideal für uns sein. Das absolute Wesen als die Wirklichkeit
unseres ethischen Ideals ansehen zu wollen, setzt voraus, daß man dieses
Ideal von jeder konkreten Beschaffenheit entkleidet, es zu einem unfaßbaren
und abstrakten Schema verflüchtigt.
Gott in seiner Einzigkeit und himmlischen Entrücktheit kann kein Vorbild für die konkreten Beziehungen des Menschenlebens abgeben, denn er
trägt ja gar nicht die Möglichkeit des Bösen in sich; und was
wir in einen solchen Gottesbegriff an konkreten Zügen u n s e r e r ethischen
Wertschätzung hineinlegen, das würde seine Bedeutung und seine Motivationskraft
ganz ebenso ohne Verbindung mit der Gottesvorstellung behalten. Die Liebe, die Treue, die Wahrhaftigkeit, die Gerechtigkeit, die Milde, die
Großmut - sie alle haben ja nach dieser Anschauung nicht darum
ethischen Wert, weil es göttliche Eigenschaften sind, sondern wir nennen
sie göttlich,, weil wir ihnen den höchsten ethischen Wert zusprechen.
In dieser Anschauung verwischen sich also die Grenzen zwischen dem, was hier
die »religiöse Sanktion« genannt
wird und dem, was wir sogleich als die eigentliche ethische Sanktion im engeren
Sinne kennen lernen werden.
Man stellt Gott als einen Solchen dar, der die Welt unmittelbar
liebt, so daß der Anblick ihres Leides ihn schmerzt und der Anblick ihres
Glückes ihn erfreut, während man den Menschen so denkt, als ob er
nur darum liebe, weil Gott es tut. Aber wenn nicht auch wir tief in unserem
Inneren die Welt lieben, wie kommt es, daß die Vorstellung eines Gottes
voll unmittelbarer Liebe zur Welt unsere Ehrfurcht erweckt? Wie geschieht es,
daß wir von der Liebe eines Anderen nicht hören können, ohne
ihm zugetan zu werden? Das christliche Ideal eines liebenden
Gottes, an dessen Güte sich auch unsere eigene Liebe zur Menschheit entzünden
soll, ist im Umriß des moralischen Charakters nach außen projiziert,
eine Vision, welche die Seele aus ihren eigenen Tiefen schöpft und wie
das Bild eines Wirklichen vor sich hinstellt.
Wir müssen fragen: Warum sollen wir zuerst Gott lieben,
den wir n i c h t sehen, und dann erst, um seinetwillen unseren Bruder, den
wir sehen? Ist das nicht ein Umweg, der unter Umständen verhängnisvoll
werden kann? Wir müssen dieses personifizierte Ideal
zu einer Wirklichkeit machen, sonst hat es kein Dasein. Aber die unserem
Geiste tief eingewurzelte Tendenz, Abstraktes zu personifizieren bringt es mit
sich, daß die religiöse Sanktion auch in dieser abgeblaßten
Gestalt für Viele noch immer einen unersetzlichen Wert besitzt.
Der Gedanke, daß das höchste ethische Gut, welches dem menschlichen
Streben als Ziel vorgestellt werden kann, nicht bloß eine Idee, ein Werdendes,
ein im Prozesse Begriffenes ist, sondern irgendwie als eine oberste
Realität existiere, an die sich alle unsere menschlichen Bestrebungen
gewissermaßen anlehnen können - dieser Gedanke wirkt auf das ethische
Leben vieler Menschen umso bedeutender, als sich mit ihm auf das Engste die Wirksamkeit des Begriffes der Gnade, der göttlichen Hilfe, verschwistert - einer Mitwirkung des als kosmische Realität gedachten Ideals beim
Werke der sittlichen Bildung - dem Unvermögen des Subjekts zulegend, was
ihm zu kräftigem Gelingen mangelt, und die Lücken menschlichen Könnens
aus dem überreichen Schatze göttlicher Urkraft ergänzend. Auch in dieser Form hat die religiöse Sanktion ungemein
gewirkt; alle Blätter der Geschichte des christlichen Glaubens sind erfüllt
von den Aufzeichnungen physischer und psychischer Großtaten, zu welchen
die Menschen durch das Vertrauen auf die göttliche
Hilfe begeistert worden sind.
Von Seite der Wissenschaft muß freilich darauf hingewiesen werden, wie
durchaus bedenklich und zweideutig diese Vorstellungsweise ist. Die E r f a
h r u n g en , welche im Begriffe der »Gnade« zusammengefaßt werden, macht in seiner Weise auch der Rationalist. Wir
müssen das für psychologisch vollkommen begreiflich erklären
- natürlich unter der Voraussetzung, welche ja auch die religiöse
Ethik selbst jederzeit gemacht hat, daß die Religionsvorstellungen nicht
bloß Worte sind, sondern das Innere des Menschen in Beschlag nehmen und
als Erlebnisse oder Realitäten auf ihn wirken. Daß sie dann höhere Kraft besitzen, als bloße moralische Erwägungen, hat
seinen Grund darin, daß alles lebendig Vorgestellte
weit stärkere Affekte und Reaktionen seitens des Willens hervorruft, als
das bloß abstrakt Gedachte, was ja ein allbekanntes psychologisches Gesetz
ist.
Und von dieser Seite wird auch heute noch, auch von Männern, die den positiven
Formen der geschichtlichen Religion sehr ferne stehen, für das selbständige
Recht der Religion neben der Sittlichkeit gekämpft. Es wird zugestanden,
daß man zwar unabhängig von Religion einsehen könne, was das
Sittlich-Gute und wie weit entfernt von seiner Forderung unser tatsächliches
Handeln sei. Aber es wird behauptet, daß Sittlichkeit ohne Religion den
Menschen nicht in seinem Innersten zu ergreifen, zum Guthandeln zu bewegen vermöge.
Hier soll Religion ergänzend eintreten, als die Zuversicht, daß eine
Macht des Guten in der Welt sei, mit der allein und durch die der tatsächliche
Sieg des Guten in der Welt zu erhoffen sei.
Dagegen wäre nun einzuwenden, dass eine solche Überzeugung nichts
spezifisch Religiöses hat, sondern ebensowohl der Ausdruck, der Schlußpunkt
einer wissenschaftlichen Weltanschauung sein könne. Die positiven Religionssysteme
könnten sie nur für den begründen, der die feste Überzeugung
von ihrer Wahrheit und von ihrem Offenbarungscharakter hätte. Das ist aber
ein unvermeidlicher Zirkel. Denn gerade dies ist ja der schwache Punkt aller
auf religiöse Begriffe gebauten Sittlichkeit, daß in der Welt unserer
heutigen Reflexion die religiöse Vorstellungsart
beständig Gefahr läuft, als bloße Illusion erkannt zu werden.
Ein solcher Glaube an die Macht des Guten in der Welt
ist also entweder aus der Vernunft (durch Philosophie)
zu begründen: dann ist er nicht religiöser Glaube; oder er
soll durch irgend eine positive Religion begründet werden, dann hängt
er von der Wahrheit dieses religiösen Systems ab und der letzte Grund unserer
sittlichen Überzeugungen wird mit aller Religion selbst schwankend. Und
welche Gefahren liegen hier auf dem Wege der Religion in einer Zeit, in welcher
auf die alte Naivität des Glaubens nicht mehr gerechnet werden kann!
Wer die Kraft zum Wollen und Vollbringen des Guten in
letzter Linie von göttlichem Beistand abhängig macht und nicht
als Werk menschlicher Stärke gelten lassen will, der muß auch die
Ohnmacht zum Guten, auch die vorwiegende Tendenz zum Schlechten, auf diesen
Urquell des sittlichen Lebens, d. h. auf den Mangel seines Beistandes,
auf die Hintanhaltung der Gnade, zurückführen. Diese Konsequenz haben
alle die Auffassungen gezogen, welche mit dem Gnadenbegriff wirklich Ernst gemacht
haben: die augustinische, die reformatorische, die jansenistische. Neben dem
Begriff der Gnade steht, ihn ergänzend, der Begriff der Prädestination.
Der Mensch kommt zum Guten nur durch Gott; nicht alle Menschen kommen zum Guten,
also sind nicht alle Menschen von Gott dazu bestimmt, gut und selig zu werden.
Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg und die alte strenge Theologie
hat es völlig akzeptiert. Man kann es nur abschwächen, indem man
den Anteil der menschlichen Freiheit stärker betont; es ist aber klar,
daß, je mehr man dies tut, überhaupt die Bedeutung der Gnade sich
verflüchtigt. Die Verworfenheit, die sittliche Verkommenheit, wird dann
zwar weniger zur Willkür göttlichen Ratschlusses,
aber auch die sittliche Leistungsfähigkeit mehr Verdienst
aus eigener Kraft des Menschen.
Endlich aber kommt hier noch ein Moment in Betracht, welches von besonderer
Wichtigkeit wird bei Beantwortung der Frage, wie viel Wert wir unter unseren
heutigen Kulturverhältnissen der Religion als ethisierenden Faktor in der
Menschheitsentwicklung einräumen sollen: die große
Menge der anti-ethischen Wirkungen, welche eine ausgebreitete Herrschaft des
.religiösen Geistes im Gefolge hat.
Da die Religion nicht aus dem sittlichen Geiste entsteht,
sondern nur zu Zwecken der sittlichen Erziehung benützt wird, so finden
wir überall in der Religion Zutaten, die teils ihrer ursprünglichen
Naturbedeutung, teils ihrer magischen und zauberischen Praxis entstammen und
entweder sittlich indifferent oder direkt unethisch sind. An sie knüpft
sich jene Veräußerlichung des Begriffes »gut«,
jene Verwandlung des Heiligtums der Gesinnung und persönlichen Tüchtigkeit
in ein äußeres Tun, in bloße Werkheiligkeit, deren Beseitigung
und Rückverwandlung in echte sittliche Werte ein immer wiederkehrendes
Motiv der ethisch-religiösen Entwicklung ist. Aber der religiöse
Geist zeugt noch andere und weit schwerere Gebrechen, über die man
freilich in dem religionsfreundlichen 19. Jahrhundert und in der Gegenwart in
der Regel den Mantel der christlichen Liebe zu breiten pflegt, die aber darum
nicht weniger der Geschichte angehören, als die ethisch segensreichen Wirkungen
der Religion, deren das 18. Jahrhundert, welches jenen bedenklichen Wirkungen
geschichtlich noch viel näher stand, mit voller Deutlichkeit sich bewußt
war. Diese ethisch-pathologischen Wirkungen der Religion hat das 18. Jahrhundert
vorzugsweise in den beiden Begriffen zusammengefaßt:
Fanatismus und Aberglaube, und beide spielen in der Tat in der Religionsgeschichte
des Morgen- wie des Abendlandes eine ebenso wichtige wie traurige Rolle.
Namentlich die Geschichte zweier der wichtigsten Kulturreligionen, des Islams
und des Christentums, ist voll von ihren zerstörenden Einflüssen.
Diese beiden Erscheinungen hängen unter sich und mit einem gewissen Entwicklungsstadium
der Religion enge zusammen. Polytheistische Formen der Religion zeigen sie weniger
ausgeprägt. Mit dem Nebeneinander verschiedener Gottheiten verbindet sich
von selbst der Gedanke, daß es Jedem überlassen bleiben müsse,
diejenige Gottheit anzurufen und zu verehren, von der er sich vorzugsweise Hilfe
erwarte. Der Polytheismus ist nirgends ein System der Welterkenntnis, sondern
vielmehr ein System der religiösen und theurgischen Praxis. Nur soweit
er sich mit einem bestimmten Stammes- oder Nationalbewußtsein verband,
gewinnt er kriege¬rische Färbung. Der Kampf eines Stammes, eines Volkes
gegen ein anderes, wird so gewissermaßen zugleich ein Ringen, in welchem
die beiderseitigen Gottheiten ihre Kräfte messen. Je
stärker aber der monotheistische Charakter einer Religion wird, und je
mehr sie sich als lehrhafter Weltbegriff ausbildet, umso stärker wird auch
dasjenige, was man schlechtweg den Eifergeist des religiösen Wesens nennen
könnte. Das zeigt sich schon negativ in den Christenverfolgungen
- den einzigen Glaubenskämpfen, die wir aus dem ganzen Altertum kennen,
und die umso erstaunlicher sind, wenn man sich die sonstige absolute Toleranz
des römischen Staates gegen alle Religionen und Kulte der Welt vergegenwärtigt.
Dem Christentum gegenüber hielt diese Toleranz nicht stand, aus dem einfachen
Grunde, weil das Christentum tat, was kein anderer Glaube und Kult des weiten
Reiches je getan, weil es alle andern Glaubens- und Kultformen außer seinen
eigenen unbedingt negierte, weil es insbesondere auch die Majestät des
römischen Staates, die in der Vergottung der Imperatoren, dem Numen
Imperatoris, ihren Ausdruck fand, nicht anerkennen wollte. Kaum
zur Macht gelangt, beginnt dann das Christentum seinerseits die Bekämpfung
und Vertilgung des Heidentums mit den gewaltsamsten Mitteln. Das
furchtbare Buch der religiösen Verfolgung durch Krieg, Inquisition, Gefängnis
und Scheiterhaufen, durch Rechtsverkürzung aller Art, womit im Mittelalter
die herrschende Kirche die widerstrebenden Sekten und abweichenden Lehrmeinungen,
nach der Reformation die einzelnen Bekenntnisse, einander bekämpften, beziehungsweise
sich einander ihre Glaubensüberzeugung beizubringen versuchten, ist nicht
wieder geschlossen worden, bis endlich die erstarkende öffentliche Meinung
des Rationalismus soviel Einfluß auf die Staatsgewalt gewann, daß
diese sich nicht mehr zum unbedingt gefügigen Vollstrecker kirchlicher
Strafurteile machte, und wenigstens den Gedanken fallen ließ, das Wohl
der Allgemeinheit erfordere unbedingt die volle Einheitlichkeit des religiösen
Glaubens, und die Ausrottung der Ketzerei sei eine Fürstenpflicht, die
an Wichtigkeit und Heiligkeit jeder andern Rücksicht vorgehe.
Die Vertreter kirchlicher Ethik gehen oft darauf aus, Staatslenker und Völker
zu schrecken mit dem, was kommen werde, wenn man den Menschen dies Gängelband
abnehme und durch eine humane, empirisch begründete Ethik ersetze. Was
sollte denn kommen, das ärger wäre, als das, was sich die Kirchen
mit ihrer gepriesenen Ethik geleistet haben? Die humane Ethik, wie mannigfach
such ihre Richtungen auseinandergehen werden, wird es gewiß nie als Gebot
aufstellen, die Vertreter abweichender Ansichten zu verbrennen; sie wird gewiß
Niemanden aus der menschlichen Gemeinschaft ausstoßen, weil er ein anderes
System lehrt und Kreuzzüge und Dragonaden veranstalten, um sich mit Gewalt
Anhänger zu verschaffen! Sie tritt auch nicht heran an die Kinder, die
noch kein Urteil haben und haben können, und kettet sie durch einen feierlichen
Akt fürs ganze Leben, um sie als treu¬lose Überläufer zu
brandmarken, wenn die beginnende Reflexion sie zu anderen Ansichten führt.
In der Tat: wenn wir die lange und schreckliche Geschichte
der Leiden lesen, welche der religiöse Wahn über die Menschheit gebracht hat, die Fülle von Leid und Elend, die von da unter die Menschen
gekommen ist, der Haß, welcher durch diese Streitigkeiten erregt worden
ist, in denen notwendig kein Teil Recht und kein Teil Unrecht hat, weil keiner
eine Erkenntnis für sich hat, die Fälschung der wahren sittlichen
Werte, die dadurch herbeigeführt wurde, daß gegen den Un¬gläubigen,
den Abtrünnigen, den Ketzer, Alles für erlaubt, ja die scheußlichsten
Gewalttätigkeiten für rühmlich und lobenswert galten, während
man die edelsten menschlichen Eigenschaften am Ketzer mißachten zu dürfen
glaubte, weil sie nicht durch die Beize des rechten Glaubens hindurchgegangen
waren, - so wird uns wehe zu Mute und wir fragen uns unwillkürlich:
Hätte das, was die Religion in der ethischen Entwicklung
der Menschheit geleistet hat, nicht auch durch andere Mittel geleistet werden
können und ist es nicht unsere Pflicht, mit allen Kräften dahin zu
wirken, daß diese so gefährlichen und so zweischneidigen transzendenten
Vorstellungsweisen heute, wo wir sie durch soziale völlig zu ersetzen in
der Lage sind, möglichst in den Gemütern der Menschen entwurzelt und
soweit sie doch bestehen bleiben, wenigstens durch geeignete Gegengewichte unschädlich
gemacht werden? Und dies umsomehr, als das religiöse Wesen auch
die Tendenz hat, denjenigen Faktor zu monopolisieren, der mehr als alles andere
geeignet ist, seinen Ausschreitungen entgegenzuwirken: das Wissen und die Bildung.
In dem Maße, als die Religion geistiger wird, d. h. Elemente des Gedankens
und der Welterkenntnis in sich aufnimmt, wird sie auch eifersüchtiger auf
den Gedanken. In diesen geistigen Religionen, die eine Weltanschauung sein wollen
und die dies nur geworden sind, indem sie in größerem oder geringerem
Maße Elemente der Philosophie und anderer Wissenschaften in sich aufgenommen
haben, gerät die progressistische Tendenz der Wissenschaft und der Gesellschaft
und die stabile Tendenz der Religion notwendig in Konflikt.
Wir erleben dies heute in der auffallendsten Weise gerade auch auf dem eigentlich
ethischen Gebiete. Wo geht denn da die Kirche voran? Sie vertrat noch die Almosenmoral
zu einer Zeit, wo in der glaubenslosen Wissenschaft schon ein höheres Ideal
sozialer Ausgleichung lebendig war; sie vertritt auch auf dem Gebiete der Familienmoral
die patriarchalische Bevormundung der Frau, und bei den Beratungen über
das Familienrecht bei der Kodifikation des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches
in Deutschland haben die kirchlich gerichteten Parteien für die Beibehaltung
der alten Unmündigkeit gestimmt. Wer kann, wenn er um sich blickt, heute
noch sagen, die menschliche Gesittung werde dadurch gefährdet, daß
der Einfluß der religiösen Ethik an Intensität verliert; daß
die Loslösung der Individuen von der Kirche zugleich sittliche Verwilderung
bedeute?
Aber der Konflikt, von dem die Rede war, besteht nicht nur auf ethischem, sondern
auch auf dem eigentlich intellektuellen Gebiete. Jede
solche Religion enthält, ja Aussagen über den Zusammenhang des Daseins.,
die sich nicht als vorläufige Erkenntnisse, sondern als absolute Wahrheiten,
als Offenbarungen geben. Die Religion kann darum von der fortschreitenden
Erkenntnis nur soviel gelten lassen, als sie in ihr System einfügen oder
für ihre Methoden seiner rationalen Begründung verwenden kann. Was
darüber hinausgeht, muß sie ablehnen, ja abwehren. Sie darf es nicht
gelten lassen. Extra ecclesiam salus nulla! So
führt die Religion im Morgen- wie im Abendlande seit Jahrhunderten mit
wechselnden Mitteln den Kampf gegen die geistige Freiheit: sie bildet in ihrer
Priesterschaft eine mächtige soziale Gruppe aus, die an der Stabilisierung
des Gedankens ein Interesse hat, weil sie die Voraussetzung für ihren eigenen
Fortbestand ist; sie hemmt durch ihren Einfluß nicht nur die Entwicklung
und Ausbreitung rational begründeter Lebensansichten, einer auf wissenschaftlichem
Denken ruhenden sozialen und humanen Ethik, sondern zieht auch durch den Druck,
mit welchem sie ihre Lehre zu erhalten und namentlich in der Schule und Erziehung
zu be¬haupten sucht, ein System der Heuchelei, einen Mangel an intellektueller
Redlichkeit groß, welcher oft das Gewissen der Menschen
an der Wurzel angreift, jede Kraft der Überzeugung lähmt und gewiß
eine der schmerzlichsten Nebenwirkungen jedes Systems religiöser Ethik
in aufgeklärten Zeiten voll wissenschaftlicher Kultur darstellt.
Unsere Betrachtung war ausgegangen von der sittenbildenden
Macht der Religion: wir hatten gesehen, daß das Ganze der Normen,
welche auf die Lebenshaltung der Völker Einfluß .gewinnen, lediglich
aus den Utilitäts-Erwägungen, die der Sitte zu Grunde liegen, sich
nicht ableiten läßt, sondern daß dabei die religiösen
Vorstellungen ergänzend eintreten. Wir haben bisher dasjenige ins Auge
gefaßt, was diese sozusagen ihrer eigenen Natur verdanken. Allein dies
ist keineswegs erschöp¬fend. Die Wirkung, welche die Religion tatsächlich
ausübt, kann man in ihrer vollen Bedeutung nur verstehen, wenn man die
Wirksamkeit einiger anderer Faktoren ins Auge faßt, welche in ihrem Dienste
stehen.
Man sagt heute fast von allem Sittlichen, es geschehe im Namen der Religion,
da fast allen, die in der Moral unterwiesen werden, diese Unterweisung als Religion
eingepflanzt wird. Natürlich gilt dann die Wirkung dieser Moral-Unterweisung als religiöse Wirkung. Wenn wir aber näher
zusehen, so ist das, was der Religion diese Wirkung gewährt, gar nicht
ihr eigenes Wesen, sondern die M e h r h e i t , die dahinter steckt.
Die Masse und ihre Autorität ist es, welche in menschlichen Angelegenheiten
die allerstärkste sittliche Gewalt übt. Die
Macht der Autorität auf die Masse der Menschen ist so groß, daß sie nicht selten sogar gegen das Zeugnis der eigenen Sinne und die Einsicht
des eigenen Verstandes wirkt. Läßt doch selbst der Gelehrte
und Gebildete die Autorität als Beweis zu in Fällen, deren persönliche
Prüfung er nicht vornehmen kann. Es ist eine tiefe Wahrheit, was Novalis
einmal sagt:
»Mein Glaube hat von dem Augenblick an, wo ein anderes menschliches Wesen
angefangen hat, dasselbe zu glauben, unendlich an Festigkeit gewonnen.«
Wenn also die Religion dasjenige, was ursprünglich von der Autorität
der Sitte, d. h. von der Majorität der Volksgenossen, gefordert wird, inhaltlich
mit neuen Zügen bereichert und zu gleich mit verstärkten, namentlich
transzendenten Sanktionen versieht, so stehen wir hier offenbar vor einer Wechselwirkung:
die religiösen Vorstellungen selbst empfangen eine starke Stütze und
eine erhöhte Wirksamkeit durch die Autorität und die öffentliche
Meinung, und vieles von der ihnen zugeschriebenen ethisierenden Wirkung muß eigentlich auf Rechnung dieser Faktoren gesetzt werden. Daraus hat schon Mill
den sehr wichtigen Satz abgeleitet: es muß möglich
sein, unter Mitwirkung der Autorität, der öffentlichen Meinung, und
- wie wir gleich noch hinzusetzen wollen - der Erziehung ein System ethischer
Normen, ganz ohne Religion und ihre Sanktion, zur Massenüberzeugung, zum
allgemeinen Glauben zu machen, sie mit starken Gefühlen zu assoziieren
und ihr dadurch die Wirksamkeit zu geben, die man gewöhnlich der religiösen
Ethik zuschreibt.
Mill erinnert zum Beweis dieses Satzes an einen der größten
Siege, welchen die Autorität ohne wesentliche Mitwirkung der Religion jemals
über die natürlichen Neigungen eines ganzen Volkes errungen habe:
die Jahrhunderte lange Herrschaft der Lykurgischen Gesetzgebung.
Dieses interessante und vielsagende Beispiel Mills führt uns nun auf denjenigen
Faktor in der Entwicklung des Sittlichen, welcher uns die Autorität der
öffentlichen Meinung in der geregeltsten und konzentriertesten Gestalt
zeigt: auf das Recht. S.175-215
Aus: Friedrich Jodl, Allgemeine Ethik, Herausgegeben
von Wilhelm Börner, Stuttgart und Berlin 1918, J. G. Cotta’sche Buchhandlung
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