Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709 – 1789)

 

Deutscher Philosoph und Theologe (»Wolffianer«)

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon«

 

Die Harmonie der Natur als Beweis für die Existenz eines höchsten vernünftigen Wesens
In ihrer ersten Anlage finde ich alles ungebildet und roh; dies ist der Vorrat der Natur. Aber ich gehe nur eine Stufe hinauf, so finde ich diese rohe Materie in Metallen, Salzen, Steinen und Krystallen schon unendlich schön gebildet.

Ich gehe noch eine Stufe höher, und meine Aussicht wird noch unendlich wunderbarer. ... alles lebt, alles bewegt sich selbst, alles empfindet, und diese Vollkommenheit steigt, wie in den Pflanzen, in unzähligen sich immer gleichen Stufen. Die niedrigste Pflanze war noch halb Stein; das niedrigste Tier ist sichtbarlich mit der Pflanze noch verwandt ... Und alles ist in seiner Art vollkommen ..., und alle diese Mannigfaltigkeit ist nur eine Kette; vom Stein zur Pflanze, von der Pflanze bis zum Affen; es sind alles Glieder, die sich berühren. Es ist alles voll, nirgend ein Raum, nichts sich vollkommen gleich, alles stufenweise. Wo ich mit meinen Augen am Ende bin, da entdecken mir die Vergrößerungs- und Ferngläser neue Welten; und vielleicht bin ich auch mit diesen in der Hand noch immer auf den Mittelstufen dieser unendlichen Leiter. Die Verbindung bleibt indessen immer dieselbe, Pflanzen, Tiere, Wasser, die Planeten, die Sonne selbst, alles ist um des andern willen da; es macht alles nur ein Ganzes, ein vollkommenes Ganzes aus.

Ich selbst bin mir noch ein unendlich größeres Wunder. Auf der einen Seite gehöre ich noch mit zur Pflanze, der nächste Anverwandte der Tiere. Ich entstehe wie sie, ich nähre mich wie sie, ich habe mit ihnen einerlei Dauer, dieselbigen Triebe, eben den Tod. Auf der andern Seite habe ich in meiner Gestalt, in meinen Gliedern, in meinen Fähigkeiten, unendliche Vorzüge. Ich bin ein Gott gegen sie. Ich habe eine Vernunft, einen freien Willen; ich herrsche über alles, es wächst alles nur für mich, von der Zeder bis zum Grase, vom Elefanten bis zum Seidenwurm; es ist alles nur für mich da. Ohne mich ist die ganze Natur tot, alle ihre Ordnung nichts besser als ein Chaos. ... In mir vereiniget sich alles; durch mich wird alles Vernunft, alles Harmonie, alles erst wahre Schönheit. Ohne mich ist die Natur arm; ich schaffe ihr alle Augenblicke neue Gestalten, ich dringe in ihre innerste Werkstatt, ich entdecke ihre geheimsten Gesetze; ich messe die Himmel, ich wäge die Planeten, ich berechne ihren Lauf; ich mache mir das Vergangene und Zukünftige gegenwärtig; meine Aussichten, meine Fähigkeiten, meine Triebe haben nirgend ihre Grenzen; es ist alles in mir ewig. Noch mehr, die Quelle meines Vergnügens und Mißvergnügens habe ich in mir selbst; ich bin mein eigener Gesetzgeber, mein eigener Richter; ich lobe und tadle, und strafe und belohne mich selbst, und mein Beifall ist mir wichtiger als die Lobsprüche von tausend Schmeichlern.

Aber was sehe ich in allem diesem Reichtume, in dieser Ordnung, wenn kein Gott, kein vernünftiges freies Wesen ist, welches dies alles hervorgebracht und diese herrliche Ordnung veranstaltet hat? Ist dies alles von ungefähr, kömmt es alles aus einer blinden toten Notwendigkeit; so weiß ich nicht, was ich sehe. ... Wenn kein Gott ist, so ist die Erfüllung meiner Begierden das höchste Gut, das ich erreichen kann..., wenn ich sterbe, ist alles eins; ich dünge den Kirchhof, und nahre durch meinen Moder wieder andere Tiere....

Aber wie hell, wie heiter, wie ruhig wird alles in meiner Seele, sobald der Gedanke in ihr aufgeht, daß die Welt von einem höchsten vernünftigen Wesen ihren Ursprung hat! Was die Sonne meinen Augen ist, das ist dieser erquickende Gedanke meiner Vernunft; in diesem Lichte wird alles auf einmal um mich hell. ... Ich sehe überall den Vater der Natur ...
Alle Geschöpfe empfinden und denken nur durch ihn.

Diese Erfüllung seines Willens würde auch schon unsre erste und heiligste Pflicht sein, wenn wir auch kein anderes Verhältnis mit diesem höchsten Wesen hätten als dieses, daß er durch die Schöpfung unser oberster Herr ist Aber nach der glücklichen Verbindung, worin wir zugleich mit diesem unserm Schöpfer durch seine unendliche Weisheit und Güte stehen, würde ein blinder Gehorsam, wozu die bloße Erkenntnis seiner unumschränkten Herrschaft uns antriebe, zu niedrig und zu unanständig sein. Zu unanständig für diesen Gott; denn so dienten wir ihm und einem Tyrannen aus einerlei Bewegungsgründen: Und auch zu niedrig für uns; denn so dienten wir ihm bloß als Knechte, denen der Herr die weisen Absichten seiner Befehle zu offenbaren nicht würdigt. Ein solcher Gehorsam würde nie rein, nie vollkommen sein ... ; unsre Tugenden würden nie die wohltätige harmonische Allgemeinheit haben ... Es ist die erste Urkunde aller Vorzüge Ihrer Natur, der Grund Ihrer ganzen Bestimmung.

Ihr Gutes und Sein Gutes sind eins: Sein Gesetz und Ihre Natur sind eins; das Gesetz, das Sie in sich fühlen, ist der Abdruck Seiner eigenen allerhöchsten Vollkommenheit. Das Verlangen, Ihrem Gotte in seinen Vollkommenheiten, in seiner Liebe zum Guten, ähnlich zu werden, kann also Ihrem Gehorsam allein die rechte Würde geben. Und zugleich ist diese Ähnlichkeit Ihre vollkommenste und sicherste Richtschnur. ...

... sein sie also wohltätig wie Gott, mit der Weisheit wohltätig wie Er, so sind sie vollkommen, wie Gott vollkommen Ist. Diese weise Wohltätigkeit ist das große Gesetz des Himmels, und das einzige Gesetz hier auf der Erde. Ein einziger Blick in die Schöpfung, eine jede vernünftige Empfindung der Mannigfaltigkeit, der Schönheit und Harmonie der Natur, muß uns davon überzeugen. Ein jeder einzelner Lichtstrahl fasset alle mögliche Schönheit der Farben in sich; die Lilie verdunkelt mit ihrem blendenden Schmuck allen Pracht der Könige; ein jedes Insekt ist in seiner Art so vollkommen, als es nach den Fähigkeiten seiner Natur nur sein kann. Aber der Mittelpunkt aller dieser Vollkommenheit ist der Mensch. Denn der Mensch hat allein die ausgebreitete glückliche Fähigkeit, daß er sie erkennen, daß er sie ganz empfinden und zur Vermehrung seiner Glückseligkeit ganz brauchen kann In seiner Vernunft trägt er das erhabne Bild seines Schöpfers selbst. Er soll ein Gott hier auf der Erde sein; er soll alles zu seiner Glückseligkeit beherrschen, aber er soll auch alles zur allgemeinen Glückseligkeit seiner vernünftigen Mitgeschöpfe anwenden; er hat die Fähigkeit, er hat in jedem Zustand das Vermögen hiezu; dies ist also sein großer Beruf, und wenn er diesen erfüllt, so trägt er das Bild seines Schöpfers würdig. ... denken Sie sich ihn [Gott] aber als einen unendlich weisen und wohltätigen Geist, so ist Ihre Religion, in ihrer vollen Gestalt, in Ihnen wieder lebendig. Ein unendlicher Verstand, eine unumschränkte Freiheit, eine grenzenlose Macht; was wäre fürchterlicher? Ich würde mit meinen Gedanken einer solchen Größe zu entfliehen suchen. In dieser Unendlichkeit bete ich nichts als die Wohltätigkeit an. Ich kann nichts anders darin anbeten. Sie bestimmt allein von allen Dingen den Wert. ... Auch das Allerheiligste, die Religion und die Tugend, sind uns durch diese Wohltätigkeit allein nur heilig. Denn eine Religion, die uns nicht in unserm Berufe redlich, in unsern Verbindungen getreu, gegen die Obrigkeit gehorsam, ... gegen alle wohltätig macht; eine Religion, die uns nicht lehret, wie wir einen jeden Menschen in uns selbst empfinden sollen, und die Liebe unsers Nächsten nicht zur einzigen Probe unserer Liebe Gottes macht; eine solche Religion ist nichts als Enthusiasmus, der leereste, der gefährlichste, der fürchterlichste Enthusiasmus, der die weisesten Absichten Gottes in der Natur zerstöret, die Würde der Menschen erniedriget, die heiligsten Bande des gesellschaftlichen Lebens trennt ...

Dies [Menschenfreund zu sein] ist unser Beruf, der edelste, wozu unsere Natur erhoben werden kann; das einzige Gesetz, das alle andre Tugenden in sich begreift, das uns allein mit Sicherheit tugendhaft sein läßt, und zu der wahren Ähnlichkeit mit unserm Schöpfer führet, zugleich das allerheiligste und verbindlichste Gesetz, ... das erste Grundgesetz der ganzen Natur, worauf die Ehre des Schöpfers, die Ordnung und Vollkommenheit der ganzen Schöpfung beruhet.

Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem: Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. 2., verb. Aufl. Braunschweig: Verlag der Fürstlichen Waisenhaus-Buchhandlung 1769. S.3—5, 12f., 59 (1. Betrachtung), S.336—340, 346f. (8. Betrachtung).
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.232-235)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages