Wjatscheslaw
Iwanowitsch Iwanow (1866 – 1949)
Russischer Dichter, Philologe
und Philosoph, der an der Universität in Moskau studiert hat.
Iwanow trat als Dichter und Theoretiker der jüngeren, religiös bestimmten
Phase des Symbolismus hervor und schrieb (auch in deutscher
Sprache) Lyrik, Essays, Tragödien (»Tantalos«,
»Briefwechsel zwischen zwei Zimmerecken«, 1921).mii
M. O. Gerschenson. 1924 emigrierte er nach Italien und konvertierte 1926 im Petersdom in Rom zum Katholizismus.
Siehe auch Wikipedia
Religiöse
Harmonie
Die wachsende gegenseitige Entfremdung der Individuen, Gruppen und Kulturgebiete
ruft ein Sehnen nach der konkret religiösen Harmonie
der vollkommenen All-Einheit hervor. Jede Vorahnung einer neuen organischen
Epoche innerhalb einer kritischen Kultur ist das Phänomen eines wiedererwachenden
religiösen Bewußtseins, soweit es aus dem Bedürfnis an einer
ontologisch basierten Ursynthese des Lebens und Denkens und an der Wiedervereinigung alles dessen entspringt, was die kritische Kulturepoche
aufgelöst und auseinandergerissen hat...
In der Zeit des vollständigen Sieges der kritischen Differenzierung auf
dem gesamten Gebiete des antiken geistigen Lebens, in der Zeit der Glaubensfreiheit,
die dieser Differenzierung parallel läuft, werden die Christen Glaubens
wegen verfolgt, weil sie sich fernhalten vom Kaiserkult, diesem Sinnbilde des
gesamten römischen Staatswesens als organischer Einheit, mit seiner Überlieferung
und seiner Ahnenverehrung, mit seiner geheiligten Erde und seiner von Göttern
begründeten Macht, mit seinem als gottmenschliches
Ganzes aufgefaßten Gefüge von Sitten und Institutionen.
Das Christentum war eben kein geistiges Phänomen der kritischen Kultur,
deren Selbstbeschränkung auf die private Sphäre ihm eine ungestörte
Symbiose mit jenen Dingen gestattete. Zwar tat das Christentum manches, um dem
Konflikte zu entgehen: es versprach dem »Caesaren«
alles, was »nicht Gottes« war, und
organisierte sich scheinbar als eine neue »Mysterienreligion«.
Aber die Mysterien waren schon längst nur noch ein Überbau über
dem Leben, nur »Theosophie«
oder »Religion als Privatsache«, und
nun erwies sich plötzlich die ganze Welt als »Gottes«.
Das Christentum sollte das ganze Leben durchdringen, die Verwandlung des Fleisches
und des Blutes der Welt vollziehen. Der organischen Überlieferung, den »alten Schläuchen«, die den Inhalt
einer kritischen Kultur in sich kaum zu fassen vermochten, stellte es die
neutestamentliche Hoffnung als »neue Schläuche« gegenüber. So begründete es unmittelbar, ohne sich dessen bewußt
zu sein, eine neue organische Kultur. Innerhalb einer kritischen Epoche, in
der Zeit, wo das Maß der inneren Zersetzung erfüllt ist, erfährt
die Religion eine Wiedergeburt und zieht in das Leben ein als ein einheitliches,
allbestimmendes und souveränes Prinzip.
Die organische Epoche ist dem paradiesischen Zustande des Kinderdaseins im Schoße
des Schöpfers analog: nicht weil sie ein Eden und ein goldenes Zeitalter
des verlorenen Glückes wäre; sondern weil hier das Zentrum des Bewußtseins
außerhalb des Individuums liegt. Die kritische Epoche ist die Zeit des
luziferischen Aufstandes der Individuen, die es gewollt haben »esse
sicut Deus, scientes bonum et malum« ...
Die kritische Kultur ist die Kultur der Söhne Kains, der Metallschmiede und Erfinder der musischen Werkzeuge. Es wuchern in ihr Keime
von Neid und Eifersucht, Empörung und Brudermord. So ist eben die unsrige,
soweit sie gottlos ist, nur kritisch, luziferisch, kainisch; aber jedes Hineinbringen
eines religiösen Grundelementes nicht als einer abstrakten Hypothese, sondern
als einer das ganze Leben bestimmenden Norm beginnt den Prozeß der wahren
Integration der streitenden Energien und bereitet den Umschwung,
der alle Einzelwerte des kritisch-zersplitterten Schaffens überwindet
und durch die Werte eines anderen, eines in Gott
allumfassenden Bewußtseins ersetzen soll...
Der religiöse
Sinn des Hinabsteigens
Dem religiösen Denken erscheint das Hinabsteigen als eine Tathandlung der
Demut und der Liebe, sofern es aus opferwilligem Mitleid mit der niederen Sphäre
geschieht. Das wahre Hinabsteigen ist für den Menschen zunächst ein
dankbares Sichniederbeugen vor aller ihm untertanen Kreatur und ein Dienst an
ihr (durch die Waschung der Füsse symbolisiert),
freiwillige Unterwerfung des Höheren unter das Niedere, die der Persönlichkeit
vorgeschrieben ist durch das Bewußtsein der Pflicht alledem gegenüber,
das ihrer Erhebung gedient hat. Goethe kennt dieses
Moment des entwickelten religiösen Sinnes
und deutet es an in seiner Beschreibung der von Wilhelm
Meister besuchten »pädagogischen Provinz«.
Unaufhörlich ertönt diese Stimme in der Seele
der russischen »Intelligenz« und ruft sie zur Opfertat der
Selbstentsagung und der Selbstverschwendung auf: hinabsteigen will sie zu denen,
deren stummes Opfer ihre bevorzugte Stellung erschaffen hat. Schon diese Tatsache
zeigt, wie tief das religiöse Prinzip in der russischen Seele verankert
ist: bleibt es doch selbst dann noch wirksam und lebendig, wo das Denken ihm
widerstrebt und wo die Lippen es verneinen. Nur bei uns konnte eine mystische
Volkssekte entstehen, deren Grundsatz war: »Du bist
mehr als ich.«
Aber das Gesetz des Hinabsteigens, diese schöpferische
Energie unserer Seele,
diese aktuelle Form, die uns unwiderstehlich hintreibt zu der evangelischen
Entelechie unserer
nationalen Idee, hat noch einen tieferen Sinn. Das Göttliche
sendet sein Licht in den dunklen Stoff, damit auch er
von diesem Lichte durchdrungen werde, der
Logos steigt hinab, und »das Licht scheint in
der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht
begriffen«. Hier liegt das Geheimnis der zweiten
göttlichen Person, das Geheimnis des Sohnes. »Vis
eius integra si versa fuerit in terram«, — unvernichtet
wird seine Kraft bleiben, wenn sie in die Erde versenkt wird. Dieses geheimnisvolle
Gebot sehe ich gleichsam auf der Stirn unseres Volkes geschrieben als seinen
mystischen Namen. Der Imperativ des Hinabsteigens, der es zur dunklen Erde ruft,
sein Gravitieren zu diesen nach dem Samen des Lichtes
dürstenden Schollen, bestimmt es als ein Volk, dessen gesamte unterbewußte
Sphäre mit dem Fühlen
Christi durchdrungen ist. Hic populus natus
est christianus. Und wollte dieses Volk seine angeborene Eigenheit
verleugnen, so würde es zum Salze des Gleichnisses, das seine Kraft verloren
hat.
Es ersehnt und erhofft keine unmittelbaren Eingebungen und Einwirkungen des
Geistes, und wenn man ihm sagt: »Hier ist der Geist«,
so glaubt es nicht. Eine andere Offenbarung des Geistes erwartet es. In seinem
halbblinden Bewußtsein, in seiner ihm selbst noch unklaren kollektiven
Erfahrung erlebt es das Mysterium des Kreuzes und des Todes, und es erwartet
nur eines und tröstet sich mit der einen Verheißung des Trösters:
der Samen, der in der Erde gestorben ist, muß auferstehen. Daher diese
sehnsüchtige Ahnung eines plötzlichen wunderbaren Erwachens im Geiste,
nachdem die Passion des Todes und des Begräbnisses erfüllt ist. Daher
ist nur in Rußland der Ostersonntag »das Fest
der Feste und die Feier aller Feiern«. Die all-einige innere Erfahrung
unseres Volkes unterscheidet sich in diesem Augenblicke seines religiösen
Lebens wesentlich von der inneren Erfahrung anderer Völker: diesen ist
die »stille, heilige Nacht«, wo der
Mensch sich durch die Herabkunft und Menschwerdung Gottes veredelt und geweiht fühlt, heller und näher: noch tiefer fühlt
sich aber die russische Seele ergriffen in jenem Augenblick nach dem Rücktritt
des bösen Winters, wo unter aller Glocken plötzlichem Mitternachtsgeläute
gleichsam ein weißer Strahl aus dem Schoße der Finsternis hervorbricht
und zahllose Kerzen in den Händen der den Sieg über den Tod Feiernden
ein neues leuchtendes Jerusalem auf der düsteren Erde verkünden.
So erscheint unsere nationale Idee in ihrem religiösen Ausdruck. In ihr
erschließt sich der tiefste Sinn unseres Strebens
nach der All-Einheit, unserer Energie der Entäußerung, unseres
Trachtens nach dem Hinabsteigen und nach dem Opferdienste. Hier findet das gewaltige
Missverständnis zwischen dem Volke und der Intelligenz seine Lösung;
denn diese weiß wohl immerdar, daß sie zum Volke gehen muß;
doch nicht immer weiß sie, was sie ihm bringen soll. Unter dem Drange
der inneren Stimme geht sie bisweilen in das Volk und bringt ihm das, was es
nicht braucht. Denn das Volk will wohl eine Fühlung mit der Intelligenz,
doch nicht mit einer solchen, die zu ihm kommt. Der Friede kann nur im Namen
und im Lichte Christi gestiftet werden — in jenem Lichte der Auferstehung, das die Intelligenz
meist unbewußt, das Volk im vollen Bewußtsein seines innerlichsten
Glaubens aber noch so blind ersehnt.
Um stumme Mitternacht wird es geschehen:
Sollen die Herzen sich zu Wachs erweichen,
Die unzähligen Kerzen sich berühren
In der Feuerkommunion der theophoren
Begegnung, — da wird die Gesichter alle,
Von fern her leuchtend, aus der Erde Tiefen,
Der Abglanz Eines Antlitzes bescheinen.
Aus: Slavische Geisteswelt 1 - Russland, herausgegeben
von Martin Winkler (S.294-298), Holle Verlag