Isaak von Ninive, auch Isaak der Syrer genannt (etwa 640- 700)
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Syrischer Einsiedler, Mönch, Mystiker und Heiliger der für fünf Monate Bischof von Ninive war. Teilweise von Evagrios Pontikos beeinflusst, gilt Isaak als einer der frühesten Theoretiker der christlichen Mystik. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Die Stufen im allgemeinen
Die einzelnen Stufen
Reinigung, Erleuchtung,
Vereinigung
Die
Stufen im allgemeinen
Es gibt eine Erkenntnis, die dem Glauben vorausgeht, und eine Erkenntnis, die
dem Glauben entspringt. Die dem Glauben vorausgehende Erkenntnis ist die »natürliche«,
die aus dem Glauben entspringende die »geistliche«.
Was ist die natürliche Erkenntnis? Es ist die Fähigkeit, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, auch natürliche
Urteilskraft genannt, und ist von Gott in die vernünftige Natur gelegt, damit sie von sich aus, auch ohne Belehrung, das Gute und das Böse erkenne. Freilich wird sie durch Belehrung gefördert.
Durch diese Kraft sind wir befähigt, den Weg zu Gott
zu finden. Denn diese natürliche Erkenntnis ist der Weg zu Gott,
der dem Glauben vorausliegt.
Es ist zugleich das Vermögen, kraft dessen der Mensch den Glauben empfängt.
Denn diese natürliche Unterscheidungskraft des Guten und des Bösen
ist es, die uns bezeugt, daß es sich ziemt, zu glauben an den, der alles
ins Dasein geführt hat, und seine Gebote als zuverlässigen Wegweiser
zu halten.
Aus dem Glauben entsteht die Furcht Gottes, und
nachdem man begonnen, darin einige Fortschritte zu machen, entsteht die geistliche
Erkenntnis, von der wir sagten, dass sie die Frucht des Glaubens sei. Davon
sagt St. Johannes Chrysostomus: »Wenn der Mensch
in jener Willensverfassung ist, die der Furcht Gottes und der geraden Gesinnung
entspricht, so empfängt er leicht die Offenbarung der göttlichen Geheimnisse«, also die geistliche Erkenntnis — nicht als ob sie vom Gottesfürchtigen
einfach erzeugt würde (denn was die Natur nicht in sich hat, kann sie auch
nicht erzeugen), sondern die geistliche Erkenntnis wird dem Gottesfürchtigen
als Gnadengabe verliehen.
Sie besteht in einer Empfindung der verborgenen Dinge. Wenn der Mensch lebendig
erfährt jene unsichtbaren, verborgenen Dinge und somit ein geistlich Erkennender
wird, so erwächst aus dieser Erfahrung ein anderer Glaube, der dem ersten
nicht entgegen ist, sondern ihn vielmehr bekräftigt: man nennt ihn den
schauenden Glauben. Denn früher beruhte er auf dem Hören, jetzt aber
auf dem Schauen, und das Schauen ist zuverlässiger als das Hören.
Die einzelnen Stufen
Reinigung
Die Ursachen der Sünde sind: Wein, Weib, Reichtum und Behaglichkeit —
nicht als ob diese Dinge an und für sich ihrem Wesen nach sündhaft
wären, sondern wegen der menschlichen Schwäche und ihres ungeordneten
Gebrauchs. Denn durch die genannten Dinge wird die Natur besonders leicht zu
Sünden verleitet und bedarf deshalb gegen sie einer besonderen Wachsamkeit.
Daß der Mensch zuweilen in Sünde fällt, ist ein Beweis seiner
natürlichen Schwäche. Es schien Gott nicht angemessen, daß unsere
Natur vor ihrem Eingang in die »neue Schöpfung«
der Sünde ganz überhoben sei.
»Rein« in seinen Gedanken ist nicht
derjenige, der nichts Böses kennt. In diesem
Sinn wäre es auch das Tier. Auch derjenige ist nicht rein, der auf der
Stufe des Kindes geblieben ist, und auch von solchen ist nicht die Rede, die
nie die Versuchung vom Bösen erfahren haben (sonst müßte man
ja von den Menschen verlangen, daß sie ihr geschöpfliches Wesen ausziehen). Die Reinheit des Geistes ist vielmehr jene Hingabe an
das Göttliche, die nach vielen Werken der Tugend zustande kommt
Das Herz wird gereinigt durch schwere Trübsale und Enthaltung von aller Vermengung mit der Welt, in vollkommenem Tod für
alle Dinge. Dann wird seine Reinheit nicht mehr getrübt durch geringfügigen
Andrang von außen; man fürchtet sich selbst nicht vor gewaltigen
Kämpfen. Wird auch eine Lauterkeit, die leichthin und rasch und mit geringer
Mühe erworben ist, leicht wieder getrübt, — die in schwerem
und langem Kampfe errungene fürchtet sich nicht vor dem schwachen Andrang
der äußeren Welt.
Wer sein Leben ein für allemal Gott übergeben
hat, bleibt in Geistesruhe.
Indes sind böse Gedanken etwas anderes als ein böser Wille. Ohne den
letzteren haben sie wenig sittliche Verantwortung: Es sind Regungen, die das
Gemüt durchziehen, wie Stürme über das Meer hingehen und seine
Wellen erregen. Der Wille aber ist die Wurzel des Sittlichen,
sein Fundament. Nach der Richtung, die er einhält, wird Lohn oder
Strafe bemessen, nicht nach dem Hin und Her der Gedanken. Denn die Seele hört
nie auf, verschiedene Gedanken hervorzubringen. Wäre dir für einen
jeden von ihnen, obschon er im Grunde der Seele nicht Wurzel hat, eine Vergeltung
bestimmt, du könntest wohl tausendmal an einem einzigen Tag zwischen dem
Stand der Gnade und der Verdammung wechseln!
Wenn du deiner Schwäche stets eingedenk bist in klarem Bewußtsein,
so wirst du nie die Grenzen der Behutsamkeit überschreiten. Ohne Demut
kann das Werk des Menschen nicht vollendet werden — und ohne schmerzliche
Erfahrung begreift einer nicht die Demut. Darum läßt Gott seinen
Heiligen die Ursachen zur Demütigung und zu Zerknirschung des Herzens und
zu angestrengtem Gebet. Oft schreckt er sie durch die Leidenschaften der Natur
und durch den Fall in schlechte, häßliche Gedanken, oft auch durch
menschliche Reden und Verunglimpfungen. oft durch Armut und Entbehrung im Nötigen,
oft durch die Angst vor grausamen Schmerzen, durch Verlassenheit und durch offenbaren
Ansturm des Teufels.
Das alles hat den Sinn, daß der Mensch Stoff zur Verdemütigung habe
und nicht einer lässigen Schläfrigkeit verfalle. Allzeit müssen
wir wachen und müssen bedenken, daß wir Geschöpfe sind und darum
auch fehlbar. Jedes Geschöpf bedarf Gottes
Kraft und Bewahrung, und bekundet dadurch seine natürliche Schwäche.
Wer diese Schwäche erkennt, muß auch notwendig sich demütigen
vor Gott, der ihm zu Hilfe kommen kann. Und wenn der Mensch die göttliche
Hilfe wahrhaftig in sich erfährt, so wird er von Glauben erfüllt und
erkennt, daß das Gebet ihm eine Zuflucht für Hilfe ist und eine Quelle
des Heils, ein Schatz des Vertrauens und ein »Licht
denen, die in Finsternis sind«; ein Hafen, der sie aufnimmt aus
Sturmesnot, eine Rettung in schwerer Erkrankung, ein deckender Schild in der
Schlacht, ein scharfer Pfeil gegen die Feinde. Kurz, ich sage, im Gebete liegt
das Gericht der ganzen Gemeinde der Guten.
Ohne gläubiges Vertrauen kann man nicht wagen, die Seele in furchtbaren
und schweren Lagen zu bewahren, und ohne daß man die wirkliche Erfahrung
von Gottes Fürsorge gewonnen hat, kann das Herz nicht auf Gott vertrauen.
In deinen Anliegen vor Gott sei nicht töricht und tu Gott keine Schmach
an durch deinen Unverstand! Bete verständig, auf daß du herrlicher
Dinge gewürdigt werdest! Bitte um Wertvolles von dem, der neidlos freigebig
ist! Wer Kleinliches von einem König erbittet, setzt seine Ehre herab,
wie die Juden, die Verächtliches von Gott haben wollten und sich seinen
Zorn zuzogen. Bäte jemand einen König um ein Maß voll Mist,
so machte er sich nicht nur selber verächtlich ob der Erbärmlichkeit
seiner Bitte, die ihn des Unverstandes überführt, sondern fügte
auch dem König eine Schmach zu durch seine Verkehrtheit. Gerade so verhält
es sich mir einem, der in seinem Gebete leibliche Dinge verlangt von Gott.
Denn du sollst Gott nicht bitten um das, was er ohnehin schon uns zu geben besorgt
ist und was er selbst denen nicht weigert, die ihn nicht kennen oder nicht einmal
von seinem Dasein wissen, geschweige denn, daß er es seinen Hausgenossen
versagte.
»Die Völker der Erde verlangen die Bedürfnisse
des Leibes; ihr aber sollt nicht denken: was werden wir essen, was werden wir
trinken, womit werden wir uns bekleiden? Denn euer Vater weiß, daß
ihr dessen bedürfet«!
Wenn unser Herr befohlen hat, im Gebet um das tägliche Brot zu bitten,
so ist dies zur großen Menge gesagt wegen der Schwäche ihrer Einsicht.
Höre hingegen, was er den geistig Reifen und den an der Seele Gesunden
befiehlt: »Ihr sollt auch nicht um die Nahrung,
noch um die Kleidung besorgt sein! Gott trägt ja Fürsorge für
die unvernünftigen Vögel, um wieviel mehr für euch! Verlanget
von Gott das Himmelreich und die Gerechtigkeit, so wird euch jenes dazugegeben«.
Verbinde Tugend mit deinen Gebeten, damit deine Seele den Glanz des Aufgangs
der Wahrheit schaue!
Wenn du Gutes tust, so setze dabei deinem Geist nicht eine nahe Belohnung zum
Ziele; dann wird Gott es dir doppelt vergelten. Wo möglich tue das Gute
nicht einmal um der jenseitigen Belohnung willen, um es desto vollkommener zu
tun aus Liebe zu Gott!
Gott bedarf keines Dinges, aber er hat sein besonderes Wohlgefallen daran, wenn
du um seinetwillen seinem Ebenbilde Wohltaten und Ehre erweist. Sieh zu, daß du also sprechest, wenn du etwas zu geben hast: »Gelobt
seist du, o Gott, daß du mir Gelegenheit gibst, einem Menschen zu helfen«!
Selig, wer lebt vom Brote der Liebe, das da ist Christus: Er ißt Christus,
der ist Gott über alle; denn Johannes sagt: »Gott
ist die Liebe«. Haben wir die Liebe gefunden, so essen wir himmlisches
Brot und werden stark ohne Mühe und Anstrengung. Das himmlische Brot ist
Christus, der »vom Himmel gestiegen und Leben gebracht
hat der Welt«. Das ist die Speise der Engel. Wer die Liebe gefunden,
der ißt Christus zu jeder Stunde und wird unsterblichen Lebens voll. Denn: »Wer ißt von dem Brote, das ich ihm geben
will, der wird den Tod nicht kosten und leben in Ewigkeit«.
Niemand kann Gott nahen, er entferne sich denn von der Welt. Unter dieser »Entfernung« verstehe ich jedoch nicht das Abscheiden vom
Leibe, sondern von leiblichen Sorgen. Und »Welt« ist nichts anderes
als der gemeinsame Name für alle einzelnen Leidenschaften, mit anderen
Worten: »Welt« ist der Wandel nach dem Fleische und nach fleischlicher
Gesinnung.
Die Tugend besteht darin, daß der Mensch in seinem Geist von der Welt
entleert werde. Solange sich die Sinne um das Äußere kümmern,
kann das Herz von dessen Vorstellungen nicht zur Ruhe kommen.
Schweigen mögen diejenigen, die sich rühmen, sie könnten mitten
unter Zerstreuungen den Geist im Frieden bewahren! Die Leidenschaften des Leibes
schwinden nicht, und die sündigen Gedanken hören nicht auf, als nur
in der Einöde und Einsamkeit. Dann erst wird unserer Seele himmlische Freude
zuteil, wenn sie abscheidet von allem und sich aufmacht und wohnet im Lande
der Ruhe, um dort zu erwarten die Zeit ihres (letzten) Auszugs.
Von der Sirene heißt es, der Wanderer, der ihren süßen Gesang
vernehme, vergesse den eigenen Weg und, von der lieblichen Stimme gefangen,
stürze er sich in den Untergang. Es ist das Gleichnis der Seele: Ist einmal
in sie gedrungen die himmlische Süße vom Wunderton der göttlichen
Worte, die heimlich den Geist beschleichen, dann wird sie ergriffen und geht
mit ganzer Inbrunst ihm nach, vergessend das zeitliche Leben, vernichtend den
Leib in seinem Sinnesbegehren, und steigt hinan aus seinem Leben zu Gott. Der
Baum muß abwerfen die alten Blätter, um neue Sprossen zu treiben.
So muß auch der Mönch erst abwerfen von seinem Herzen das Gedächtnis
des Früheren, sonst kann er nicht neue Zweige und Früchte bringen
in Christo Jesu.
Um unreine Gewohnheiten aus der Seele zu entfernen und die störenden Erinnerungen
zu bannen, die verderbliche Flammen entzünden möchten im Leibe, dafür
ist nichts so geeignet, als wenn man sich hebend in die Lehren der Schrift versenkt
und dem tieferen Verständnis ihrer Aussprüche nachsinnt. Wenn der
Geist eintaucht in wonniger Empfindung in die Tiefen der Weisheit, die da verborgen
sind unter den Worten, so stößt er mit der hierdurch gewonnenen Kraft
das Leibliche weit hinter sich, vergißt die Erde mit allem, was darinnen
ist, und löscht aus der Seele all jene Erinnerungen, die den Bildern der
körperlichen Welt entstammen. Wie oft steht da die Seele in Staunen versunken,
und vor den neuen Wunderdingen, die ihr aus den Tiefen der Schrift entgegenstarren,
müssen schweigen die Alltagsgedanken, die sich um irdische Dinge bewegen.
So wird denn dein Geist allmählich zur Reinheit gelangen; statt in den
Außendingen zu irren, findet die Seele in frommer Lesung einen Vorrat
für die verschiedenen Arten des Gebetes: findet ihn an den zuverlässigen
Erleuchtungen, die ihr auftauchen von den wundervollen, aus den Tiefen der Schrift
geschöpften Gedanken.
Wenn du Gott nicht erkennst, so kann die Liebe zu ihm nicht rege werden. Du
mußt ihn erkennen, um ihn zu lieben.
Würdige mich, o Herr, dich zu erkennen in jener Betrachtung, durch die
der Geist zum Lobpreis deines Wesens angetrieben wird, in jenem Aufblick, der
das Gemüt abzieht von den Sorgen der Welt! Läutere mich durch deine
Liebe, damit ich dir nachfolgend die Welt verlasse!
Erleuchtung
Die Ablösung vom Sinnenfälligen muß vorausgehen der Verbindung
mit Gott. Ohne strenge Abtötung des Leibes ist es schwer, die Unerfahrenheit
der Jugend unter das Joch der Heiligkeit zu bringen.
Zwiefach ist die Übung des Kreuzes, gemäß seiner Zusammensetzung
aus zwei Balken.
Der eine ist die geduldige Ertragung leiblicher Drangsale,
und dies ist die Tat der affektiven Widerstandskraft der
Seele.
Der andere Teil besteht in dem feinen Wirken des Geistes
durch Verkehr mit Gott in stetem Gebet und ähnlichen Übungen,
die dem sinnlich-geistigen Strebevermögen angehören und die man zusammenfaßt
in dem Wort Beschaulichkeit. Wie die erste Kraft
die seelischen Empfindungen regelt durch nachhaltigen Eifer, so läutert
die zweite das Erkennen durch den Einfluß jener Liebe, die der Natur der
Seele entspricht.
Wer ohne vorige Übung und Fertigkeit im ersten Teil aus falschem Eifer
— der vielmehr eine Feigheit ist — zum zweiten überspringen
möchte, weil er süßer ist: gegen den entbrennt der Zorn Gottes.
Erst gilt es, die Leiblichkeit zu ertöten, die siechen Gedanken zu heilen
durch die Beschwernis und Schmach des Kreuzes. Ohne dies ist es Verwegenheit,
in seinem Geiste die Herrlichkeit des Kreuzes schauen zu wollen. So haben schon
die Heiligen der Vorzeit gesagt: »Wer seinen Geist
zum Kreuz erheben will, ehe seine Sinne befreit sind von ihrer Schwäche,
der zieht sich den Zorn Gottes zu«.
Somit darf das Aufsteigen zur Beschaulichkeit erst
geübt werden als zweiter Teil nach geschehener Heilung. Wer auf geistige
Gedankenbilder erpicht ist, solange die Seele noch befleckt ist mit unreinen
Bildern, der wird durch Strafe zum Schweigen gebracht. Erkühnt er sich
doch, mit blinden Augen auf einem dicht verhüllten Wege zu wandeln, wo
selbst diejenigen bei Tag und bei Nacht in Gefahr sind, die gesunde, leuchtete
Augen haben und von der Gnade geleitet werden auf ihrem Wege, deren Augen mit
Tränen erfüllt sind, die in Gebet und Weinen die Nacht mit dem Tage
verbinden aus Furcht vor dem Wege, vor den gewaltigen Felsen, an die sie sich
stoßen, vor den Trugbildern, die sich da häufig neben den Erscheinungen
der Wahrheit finden.
Niemand denn täusche sich selbst, indem er sich himmlische Gesichte vorgaukelt.
Denn eine unreine Seele kann sich nicht in das reine Reich erheben. Diese göttlichen
Dinge kommen von selbst, ohne daß du es merkst, wenn sie in dir eine reine,
unbefleckte Stätte finden. Solange jedoch der zarte Augapfel deiner Seele
nicht lautet ist, wage nicht, in die Sonne zu schauen, damit du nicht die gewöhnliche
Sehkraft verlierst, den einfachen Glauben, die Demut, den herzlichen, schlichten
Lobpreis Gottes.
Verfolge dich selbst, so wirst du deinen Widersacher von dir vertreiben! Halte
Frieden in deiner Seele, so werden Himmel und Erde mir dir im Frieden sein!
Bestrebe dich, in die Schatzkammer einzutreten, die in deinem Innern ist, so
wirst du die himmlische sehen; denn beide sind ein und dasselbe. Trete ein in
die eine, und du wirst beide in einem erschauen.
Halte dich fern von dem Vielen und trage Sorge um deinen eigenen Wandel, damit
deine Seele bewahrt bleibe vor innerer Unruhe! Sitze in deiner Zelle, sie wird
dich über alles belehren! Einöde errötet die äußeren
Sinne und macht rege die Sinne des inneren Lebens.
Zu Einsiedlern rede ich: Lege allen Wundern und Zeichen, die auf der ganzen
Welt geschehen, keinen so hohen Wert bei wie dem einsichtsvollen Verharren im
Stillschweigen! Liebe die Ruhe im Stillschweigen mehr, als wenn du die Hungrigen
der ganzen Welt speisen könntest oder eine Menge von Völkern aus dem
Irrtum zur Anbetung Gottes bekehrtest!
Deine Lesung geschehe in vollkommener Ruhe, während du frei bist von der
Vielheit äußerer Sorgen und der Geschäfte Verwirrung: so wird
sie deiner Seele einen süßen Geschmack gewähren durch die Wonne
der übersinnlichen Erleuchtungen, die die Seele bei der steten Beschäftigung
mit dem Geistigen erfährt.
Sobald das Herz Ruhe vor den Erinnerungen an die äußere Welt erlangt
hat, wird dein Geist auch die Wunder der göttlichen Aussprüche erfahren.
Diejenigen, die in Gnaden durch heiligen Wandel zur Erleuchtung geführt
werden, bemerken, wie gleichsam ein geistiger Lichtstrahl zwischen den Aussprüchen
der Schrift aufleuchtet, der ihrem Verstande den buchstäblichen Sinn durch
tiefe Erkenntnis erschließt. Wer die heiligen Schriften in äußerlich
buchstäblichem Sinne liest, dessen Herz wird veräußerlicht und
jener heiligen Kraft entleert, die aus der süßen Erfahrung der wunderbaren
Geheimnisse quillt.
»Alles gesellt sich dem, was ihm ähnlich ist«.
So wird auch die Seele, die dem Geiste verwandt ist, mit Inbrunst gezogen, sobald
sie ein Wort vernimmt, in welchem geistige Kraft verborgen ist.
Nicht jeden regt so zum Staunen die geistgesprochene, geistgewaltige Rede. Das
Wort von der Vollkommenheit verlangt ein Herz, das der Erde und ihren Sorgen
erstorben ist.
Solange der Mensch noch nicht den heiligen Geist empfangen bat, bedarf er der
geschriebenen Zeilen, um sein Herz zu guten Gedanken zu regen und durch stete
Betrachtung sich immer wieder zu Vollkommenheit zu spornen und zu Vorsicht gegen
die feinen Schleichwege der Sünde in seiner Seele. Wenn aber die Kraft
des Geistes sich der Erkenntniskraft der regen Seele bemächtigt und darin
Wohnung genommen hat, so leben statt der geschriebenen Worte des Gesetzes die
Eindrücke des Geistes im Herzen, so daß es nicht mehr der Vermittlung
von außen bedarf von den Sinnen her.
Heil dem Menschen, der dies einsieht, der sich in der Stille zurückhält
und seiner Seele nicht viele Lasten auflädt, selbst nicht durch gute Beschäftigungen,
sondern womöglich jede leibliche Arbeit mit dem einen Geschäft des
Gebets vertauscht! Heil dem, der in den Pausen zwischen den einzelnen Gottesdiensten
kein anderes Werk kennt als das Gotteswerk des Gebetes und der Schriftlesung
und dabei der Gewißheit lebt, daß ihm Gott nichts von dem Notwendigen
werde mangeln lassen, da er ja um seinetwillen auf Arbeit verzichtet, um statt
dessen mit ihm zu arbeiten: seiner zu gedenken bei Tag und Nacht.
Dieser Übung der Tugend achte keine andere gleich: bei Tag und bei Nacht
mit verschränkten Armen auf deinem Antlitz zu liegen vor dem Kreuz! Diese
Übung sollst du pflegen, wenn dir daran gelegen ist, daß die innere
Wallung niemals ermatte und die Tränen nicht versiegen.
Selig, o Mensch, wenn du dem Himmlischen nachsinnst bei Tag und bei Nacht und
nach nichts anderem verlangest! Dann wird wie der Morgen aufgehen dein Licht
und gar bald erstrahlen deine Gerechtigkeit. Einem Wonnegarten wirst du gleichen
und einer Quelle, deren Wasser nimmer versiegen!
Willst du sehen, wieviel der Mensch durch anhaltenden Eifer erlange: Siehe,
da liegt einer auf den Knien, indem er sich zum Gebete bereitet; seine Hände
sind gen Himmel gestreckt, seine Augen schauen zum Kreuz, sozusagen all seine
Regungen und Gedanken sind im Flehen auf Gott gerichtet. Auf einmal, während
er so im Flehen und Seufzen liegt, bricht plötzlich aus seinem Herzen die
Quelle der Süßigkeit, seine Glieder beginnen zu wanken, seine Augen
schließen sich, sein Antlitz neigt sich zur Erde und seine Sinne schwinden,
so daß selbst die Knie ihn nicht mehr zu tragen vermögen vor Entzücken
über die Seligkeit, die seinen ganzen Leib durchstrahlt.
Dies sei dir das Merkzeichen, daß auch du in der Ruhe und in der rechten
Übung der Demut bist und deine Seele daran ist, die Finsternis zu verlassen:
Dein Herz wird entbrennen und Tag und Nacht wie im Feuer überwallen, und
alles Irdische wird dir wie Asche und Kot erscheinen, und selbst Nahrung zu
dir zu nehmen. wird dir peinlich sein, so mächtig und glühend ist
das Entzücken, das du in deiner Seele erlebst. Und eine Quelle der Tränen
wird dir gegeben, so daß sie von selbst wie Bäche strömen aus
deinen Augen und sich mir all deinen Werken verbinden; mit Lesung, Gebet, mit
Gottesdienst und Betrachtung, mir Essen und Trinken und mit allem, was du nur
tust, mischen sich deine Tränen.
Wenn du solches in dir bemerkst, dann sei getrost: du hast das Meer überschritten!
Aber mühe dich immer mehr und halte sorgfältig Wache über dich,
so wirst du Tag um Tag zunehmen in der Gnade.
Solange du solches noch nicht erfahren, hast du den Weg, zum Berge Gottes zu
gelangen, noch nicht vollendet.
Der innere Mensch steht ohne Frucht, solange er noch der Frucht der Tränen
ermangelt. Hast du aber dies Land betreten, dann wisse, daß dein Geist
verlassen hat das Gefängnis dieser Welt und seinen Fuß gesetzt auf
den Weg des neuen Menschen und seine Luft zu atmen beginnt, des wunderbaren,
des neuen Standes. Denn beginnt der Fluß der Tränen,
so beginnen die Geburtswehen des geistlichen Menschen. Die Gnade, die
allen bestimmt ist, hat deine Seele befruchtet, daß sie heimlich gebäre
die Gottesgestalt für die Glorie der künftigen Welt. Und da die Zeit
gekommen, da sie gebären soll, beginnt es in der Seele sich zu regen, und
von verborgener Kraft gezogen tritt das Kind aus seinem Mutterschoße.
Das Ungewohnte aber, das ihm widerfährt, läßt allsogleich die
Glieder sich bewegen: es weint —Tränen, die doch süß wie
Honig sind. Und je kräftiger es von innen wächst, um so reichlicher
ist die Fülle von Tränen, und gleich einer Wasserquelle sind die Augen.
So geht es wohl zwei Jahre und darüber. Dann aber kommt man zum Frieden
der Gedanken, zu jener Ruhe, von der der selige Paulus spricht (Hebr. 11; 13). Und wenn du gelangt sein wirst in dieses Land des Friedens
der Gedanken, so wird von dir genommen werden die Menge der Tränen, und
danach werden sie nur mehr in bekömmlichem Maße kommen.
Die Heiligen alle trauerten und ihre Augen waren immer tränenvoll; bis
sie von diesem Leben schieden, weinten alle. Die Tröstung des Mönches
ist von der Trauer geboren. Allüberall haben die Vollkommenen und die Überwinder
geweint hienieden. Und keine Zeit ist, wo sie nicht die Tröstung dieser
Tränen erfahren würden, und so schauen sie stets den Herrn. Noch sind
die Tränen in ihren Augen, und sie verdienen das Gesicht seiner Offenbarungen,
wie der Herr sagt: »Selig die Trauernden, denn sie
werden getröstet werden«.
Nach diesem Tore zielen alle Heiligen; denn durch Tränen öffnet sich
ihnen die Pforte, daß sie eintreten zum Lande des Trostes — zum
Lande, wo Gottes Spuren dem Schauenden sichtbar werden durch Offenbarung. Durch
unversiegliche Tränen empfing die Seele den Frieden der Gedanken und ward
erhöht zur Reinheit des Geistes. Durch Reinheit des Geistes gelangt sie
zur Schauung der Geheimnisse; denn die Reinheit ist beschlossen in jenem Frieden,
der dem Kampfe folgt.
Wohl mag es dir oft begegnen, mein Sohn — es ist dies etwas Gewöhnliches
in der Einöde — daß nach dem Ratschluß der Gnade die
Seele in ihrem Innern von Finsternissen bedeckt wird: wie die Sonnenstrahlen
manchmal von dunklen Wolken verhüllt sind über der Erde, so wirst
du eine Zeitlang des geistlichen Trostes beraubt. Das innere Gnadenlicht wird
verhüllt von einer Schattenwolke der Fehler; es fehlt dir deine fröhliche
Kraft; ein ungewohntes Dunkel umlagert die Seele. Da laß dich nicht verwirren
in deinem Innern und strecke deine Hand nicht aus zu Torheit, sondern harre
geduldig: lies in den Büchern der Väter, zwinge dich zum Gebete und
erwarte die Hilfe — sie wird kommen, du merkst es nicht. Denn wie sich
aufhellt die Fläche der Erde vor dem Sonnenstrahl nach dichter Nebelhülle,
so ist mächtig das Gebet, zu lösen und zu zerreißen vor der
Seele die Wolken deiner Fehler und aufzuhellen den Geist mit tröstlichem
Freudenlicht, besonders wenn sie die heiligen Bücher liest und Wachsamkeit
beachtet.
Geistliche Tröstung und Niedergeschlagenheit können nicht zugleich
in der Seele sein, so wenig als der Trunkene in gedrückter Stimmung zu
sein pflegt. Der Wein ist gegeben zur Fröhlichkeit und Aufwallung des Herzens
in Freude. Wie er den Leib erwärmt, so das Wort Gottes die Seele. Wessen
Geist von solcher Tröstung entzündet ist, der wird hingerissen in
seiner Betrachtung zur künftigen Welt, die er in der Hoffnung vor sich
sieht, wie die vom Weine Trunkenen die Bilder ihrer Vorstellung, als wären
es Gemälde, vor sich sehen. So also geht es dem Menschen, der in Hoffnung
der künftigen Welt entzündet und trunken wurde: er weiß nichts
mehr von Drangsalen, noch von der Welt und allem, was in ihr ist.
Solches geschieht denen, die geraden Herzens sind und von lebendiger Hoffnung
erfaßt sind. Vieles kosten sie schon im Anfang durch den bloßen
Glauben der Seele, was sonst nur nach langen Mühen der Reinigung denen
verliehen wird, die die einzelnen Stufen des geistlichen Weges der Reihe nach
durchlau¬fen. Denn der Herr kann alles, was er will.
Vereinigung
»Beschaulichkeit« ist die Empfindung der göttlichen Geheimnisse, die in den Dingen und Ursachen
verborgen sind.
Die letzte Hülle des Geistes sind die Sinne. Von ihnen entblößt
sein, heißt empfänglich sein für die geistigen Beschauungen.
»Offenbarung« ist
nicht das gleiche wie »Gesicht«;
denn wenn auch jedes Gesicht eine Offenbarung ist, nicht jede Offenbarung ist
ein Gesicht. Offenbarung bedeutet zum großen Teil etwas, was man im Geiste
erfährt und verkostet. Das Gesicht vollzieht sich bildhaft, in Erscheinungen,
wie sie die Alten hatten, sei es in tiefem Schlaf oder im Wachen, manchmal mit
größerer Gewissheit, manchmal in Bildern einigermaßen dunkel.
So kommt es, dass der Schauende selbst oft nicht weiß, ob er wachend oder
schlafend schaut oder eine Stimme hört. Manchmal schaut er eine Gestalt
nur, manchmal mehr von Angesicht zu Angesicht.
Gesichte und Stimmen sind heilige Gotteskräfte, die
nur den Würdigen erscheinen und an verborgenen, menschenfernen Orten Offenbarungen
geben.
Oft wird der Geist seiner selbst »entrückt« und schweigt so völlig, dass er selbst dem Gebete nicht mehr obliegen kann.
Die Kraft der Beschauung, die der Schrift entstammt, versetzt ihn zu Zeiten
in einen regungslosen Zustand, wo auf heilsame Weise selbst das Gebet unterbunden
ist und eine Ruhe über das Herz sich verbreitet, die ein völliges
Schweigen ist durch Unterbrechung aller leiblichen wie seelischen Tätigkeit. Diejenigen verstehen, was ich hier sage, die solches selbst
an sich erfahren haben und in die Geheimnisse eingeweiht sind — eingeweiht
nicht durch Belehrung von anderen oder aus Büchern, die so oft eine Wahrheit
in ihr Gegenteil verkehren. Was dich betrifft, so sprich lieber ein einfaches
Wort aus dem Bewusstsein innerer Erfahrung, als dass du einen Strom von Belehrung
hervorsprudelst aus bloßer Verstandesschärfe und in Wiederholung
von Dingen, die du durch Hören und Lesen aufgenommen hast.
»Geistliche Vereinigung« nenne ich jenes unaufhörliche Gedenken,
das untrennbar im Herzen innen jubelt durch die Glut der Liebe.
Gottes Walten umgibt alle Menschen zu allen Zeiten, aber nur denen ist es sichtbar,
die ihre Seele von Sünde gereinigt haben und immer an Gott denken. Oft
wird solchen die Empfindung seiner Gegenwart gleichsam fühlbar zuteil und
wie durch leibliche Augen, ja sogar förmlich in sinnlich wahrnehmbarer
Weise, wie es bei Jakob, Josue, bei Petrus und anderen geschehen ist, denen
er in Gestalt eines Menschen sich zeigte zu ihrer Ermutigung und zum Troste
ihres Glaubens. Das alles geschieht, damit jeder überzeugt werde, wie nahe
Gott seinen Freunden ist, und welche Liebe er denen erweist, die ihm ihr Leben
ganz anheimgeben und ihn suchen mit reinem Herz.
Wer den Herrn schauen will, der bestrebe sich mit Eifer, sein Herz zu reinigen
in unablässigem Gedenken an Gott. So wird er im Lichte
seines erleuchteten Geistes zu jeder Stunde den Herrn schauen.
Was dem Fisch begegnet, der aus dem Wasser gerät, das begegnet dem Geist,
der aus dem Gedenken an Gott herausgeht und leichtfertig umherschweift in Erinnerungen
der Welt.
Schrecklich ist den Dämonen und lieblich Gott, wer mit glühendem Eifer
in sich ausrottet die Saat des Feindes. Das ist »Jerusalem«,
das ist das verborgene Gottesreich in uns nach
dem Ort des Herrn; das ist das Land der Seele, ihr rechter Stand; das die Lichtwolke
der Gottesherrlichkeit, in die allein eintreten, die reinen Herzens sind,
zu schauen das Antlitz ihres Herrn. S.135ff.
Aus: Der mystische Strom. Von Paulus bis Thomas von Aquin. Von Otto Karrer.
Verlag Ars Sacra Josef Müller, München