Muhammad Iqbal (1873 – 1938)
Muslimisch-indischer Dichter, Philosoph und Politiker, der in München studierte. Iqbal versuchte den Islam zu erneuern (»Javid-Name« — Buch der Ewigkeit). Er schrieb Gedichte in Hindu und Persisch. Iqbal ist einer der geistigen Väter Pakistans. Siehe auch Wikipedia |
Verstreute Gedanken
(Stray Reflections)
2. Unsere Seele entdeckt sich selbst, wenn wir mit einem großen Geist
in Berührung kommen. Erst als ich die Unendlichkeit von Goethes Phantasiekraft
begriffen hatte, entdeckte ich die Enge meiner eigenen.
10. Das Christentum beschreibt Gott als Liebe, der Islam als Macht. Wie sollen
wir zwischen diesen beiden Vorstellungen unterscheiden? Ich denke, die Menschheitsgeschichte
und die des Universums als Ganzes müssen uns sagen, welche der beiden Darstellungen
richtiger ist. Ich finde, dass Gott sich in der Geschichte mehr als Macht
denn als Liebe offenbart. Ich leugne nicht Gottes Liebe; ich meine nur, dass,
auf Grund unserer historischen Erfahrung, Gott besser als Macht zu beschreiben
ist.
11. Hegels philosophisches System ist ein episches Gedicht in Prosa.
13. Lass Narren streiten für die Regierungsformen, sagt Alexander
Pope. Ich kann mit dieser politischen Philosophie nicht übereinstimmen.
Nach meiner Ansicht ist die Regierung, welches ihre Form auch sei, eine der
den Charakter eines Volkes bestimmenden Kräfte. Ein Verlust politischer
Macht ist gleicherweise vernichtend für den Charakter von Nationen. Seit
ihrem politischen Fall haben die Muslime Indiens eine rapide ethische Verschlechterung
durchgemacht. Unter allen muslimischen Gruppen der Welt sind sie wahrscheinlich
die charakterlich niedrigsten. Ich will hier nicht unsere frühere Größe
in diesem Lande beklagen; denn, so muss ich gestehen, ich bin fast ein
Fatalist im Hinblick auf die verschiedenen Kräfte, die letztlich das Geschick
von Nationen bestimmen. Als politische Macht werden wir vielleicht nicht länger
gebraucht; aber wir sind, glaube ich, noch unentbehrlich für die Welt als
einziges Zeugnis für die absolute Einheit Gottes. Unser Wert unter den
Nationen hat somit reinen Zeugniswert.
14. Es ist unnütz, logische Wahrheit in der Poesie zu suchen. Das Ideal
der Einbildungskraft ist Schönheit, nicht Wahrheit. Versuche also nicht,
die Größe eines Dichters dadurch zu beweisen, daß du Stellen
aus seinem Werk zitierst, die deiner Meinung nach wissenschaftliche Wahrheit
enthalten!
15. Persönliche Unsterblichkeit ist kein Zustand, sie ist ein Prozess.
Ich glaube, dass die Unterscheidung von Leib und Seele eine Menge Böses
angerichtet hat. Verschiedene religiöse Systeme sind auf diesen irrtümlichen
Unterschied gegründet worden. Der Mensch ist wesensmäßig eine
Energie, eine Kraft, oder, noch eher, eine Kombination von Kräften, die
verschiedene Anordnungen erlauben. Eine bestimmte Anordnung dieser Kräfte
ist die Persönlichkeit — ob das eine rein zufällige Anordnung
ist, interessiert mich hier nicht. Ich akzeptiere es als eine Tatsache unter
anderen Naturtatsachen und versuche herauszufinden, ob diese uns so teure Anordnung
von Kräften so, wie sie ist, fortdauern kann. Ist es also möglich,
daß diese Kräfte in derselben Richtung zu wirken fortfahren können,
wie sie in einer lebendigen, gesunden Persönlichkeit wirken? Lasse man
die Menschlichkeit durch einen Kreis dargestellt sein — was nur ein anderer
Weg ist, um zu sagen, daß diese Kräfte darin resultieren, bestimmten
Kreis zu beschreiben, der durch eine Störung des ihn formenden Kräftearrangements
vernichtet werden kann. Wie können wir es dann fertigbringen, dass
der Kreis weiterbesteht? Offensichtlich dadurch, daß wir ihn auf eine
Art mit Energie versehen, die dafür berechnet ist, die bildenden Kräfte
in ihrer regulären Arbeitsroutine zu unterstützen. Man muss Arten
von Aktivität aufgeben, die eine Tendenz zur Zerstörung der Persönlichkeit
haben, wie Bescheidenheit, Genügsamkeit sklavischer Gehorsam — Aktionsformen,
die irrtümlich mit dem Namen Tugend geehrt worden sind. Anderseits stärken
hohes Streben, Großmut, Milde und ein gerechter Stolz auf unsere Traditionen
und Macht den Sinn für Persönlichkeit.
Da Persönlichkeit der teuerste Besitz des Menschen ist, muss sie als
das höchste Gut bezeichnen. Sie muss als Standard wirken, um den Wert
unserer Handlungen zu prüfen. Dasjenige ist gut, was eine Tendenz hat,
uns das Gefühl von Persönlichkeit zu geben; dasjenige ist schlecht,
was eine Tendenz hat, die Persönlichkeit zu unterdrücken und schließlich
aufzulösen. Indem wir eine Lebensform annehmen, die darauf berechnet ist,
die Persönlichkeit zu stärken, kämpfen wir tatsächlich gegen
den Tod — einen Schock, der das Kräftearrangement auflösen könnte,
das wir Persönlichkeit nennen. Also liegt persönliche Unsterblichkeit
in unserer eigenen Hand. Es erfordert eine Anstrengung, die Unsterblichkeit
der Person zu sichern. Der Gedanke, den ich hier rasch niedergeschrieben habe,
hat weitreichende Konsequenzen. Ich wünschte, ich hätte Zeit, den
komparativen Wert von Islam, Buddhismus und Christentum vom Standpunkt dieser
Idee aus zu diskutieren; aber leider habe ich zuviel zu tun, um die Details
auszuarbeiten.
18. Alle Nationen beschuldigen uns des Fanatismus. Ich gebe es zu; ich gehe
sogar weiter und sage, dass wir in unserem Fanatismus berechtigt sind.
In die Sprache der Biologie übersetzt ist Fanatismus nichts als das Prinzip
der Individuation, das in einer Gruppe wirkt. In diesem Sinne sind alle Formen
des Lebens mehr oder minder fanatisch und müssen es sein, wenn sie Interesse
für ihr kollektives Leben haben. Und in der Tat sind alle Nationen fanatisch.
Kritisiere die Religion eines Engländers — er bleibt unbeweglich;
kritisiere seine Zivilisation, sein Land oder das Benehmen seiner Nation in
irgendeinem Tätigkeitsbereich — und du wirst seinen eingeborenen
Fanatismus offenlegen. Der Grund dafür ist, daß seine Nationalität
nicht von seiner Religion abhängt; sie hat eine geographische Basis —
sein Land. So ist sein Fanatismus zu Recht erregt, wenn du sein Land kritisierst.
Unsere Position jedoch ist davon fundamental verschieden. Für uns ist Nationalität
eine reine Idee; sie hat keine materielle Basis. Unser einziger Verbindungspunkt
ist eine Art geistige Übereinkunft in einer bestimmten Weltanschauung.
Wenn dann unser Fanatismus ausbricht, sobald unsere Religion kritisiert wird,
sind wir, so glaube ich, ebenso gerechtfertigt in unserem Fanatismus wie ein
Engländer, wenn seine Zivilisation denunziert wird. Das Gefühl in
beiden Fällen ist das gleiche, nur mit verschiedenen Objekten verbunden. Fanatismus ist Patriotismus für die Religion; Patriotismus Fanatismus für
das Land.
19. Islam trat auf als Protest gegen den Götzendienst. Und was ist Patriotismus
anderes als eine verfeinerte Form des Götzendienstes, eine Vergöttlichung
eines materiellen Objektes? Die patriotischen Gesänge verschiedener Nationen
werden mich rechtfertigen, wenn ich Patriotismus als Vergöttlichung eines
materiellen Objektes bezeichne. Es ist unsere ewige Mission, gegen Götzendienst
in allen seinen Formen zu protestieren. Das, was durch den Islam zu zerstören
war, konnte nicht zum Grundprinzip seiner Struktur als politische Gemeinschaft
gemacht werden. Die Tatsache, daß der Prophet an einem Platz gedieh und
starb, der nicht sein Geburtsort war, ist vielleicht eine mystische Andeutung,
die eben dies sagen will.
20. Gerechtigkeit ist ein unschätzbarer Schatz; doch müssen wir ihn
bewachen gegen den Dieb >Gnade<.
21. Aus dem, was ich oben über den Islam und Patriotismus gesagt habe,
folgt, dass unsere Solidarität als Gemeinschaft auf unserem Festhalten
am religiösen Prinzip beruht. Sobald dieser Halt gelockert wird, sind wir
nirgendwo. Vielleicht wird uns das Schicksal der Juden überkommen. Und
was können wir tun, um den Halt fester zu gestalten? Wer ist der Hauptverwahrer
der Religion in einer Gemeinschaft? Es ist die Frau. Die muslimischen Frauen
müssen ordentliche religiöse Erziehung erhalten, denn sie sind ihrem
Wesen nach die Bildner der Gemeinschaft. Ich glaube nicht an ein absolutes System
der Erziehung. Erziehung, wie auch anderes, ist bestimmt von den Erfordernissen
einer Gemeinschaft. Für unsere Zwecke genügt religiöse Erziehung
für das muslimische Mädchen. Alle Themen, die dazu neigen, sie zu
entweiblichen und zu entmuslimisieren, müssen sorgfältig aus ihrer
Erziehung ausgeschlossen werden. Aber unsere Erziehungsfachleute tappen noch
im Dunkeln; sie waren noch nicht imstande, einen Lehrgang für unsere Mädchen
vorzuschreiben. Sie sind vielleicht zu sehr verwirrt von dem Glanz westlicher
Ideale, um den Unterschied zu begreifen zwischen dem Islam, der den Nationalismus
aus einer rein abstrakten Idee, nämlich aus der Religion, aufbaut, und
dem westlichen Konzept von Nationalität, dessen Lebensblut etwas Konkretes,
nämlich Land, ist.
22. In der Ökonomie der Natur hat jede Nation eine Funktion zugeteilt bekommen.
Die Funktion der deutschen Nation ist die Organisation des menschlichen Wissens.
Doch sie haben kürzlich mit einem kommerziellen Unternehmen begonnen, das
ihnen zwar ein Imperium geben mag; aber sie werden unter der Ersetzung eines
höheren Ideals durch den alles absorbierenden Handelsgeist zu leiden haben.
23. Es ist äußerst interessant, die Geburt und das Wachstum eines
neuen Ideals in einem Volke zu beobachten. O dieser Enthusiasmus, den es eingibt,
und die Stärke, mit der es alle Kräfte eines Volkes auf ein gemeinsames
Zentrum zieht! Der moderne Hindu ist schon ein Phänomen. Für mich
ist sein Benehmen mehr eine psychologische als eine politische Studie. Es scheint,
daß das Ideal der politischen Freiheit, das eine absolut neue Erfahrung
für ihn ist, seine ganze Seele ergriffen hat, indem sie die verschiedenen
Ströme seiner Energie aus ihren gewohnten Kanälen zieht und sie dazu
bringt, ihre ganze Kraft in diesen neuen Aktivitätskanal zu ergießen.
Wenn er diese Erfahrung hinter sich hat, wird er seinen Verlust bemerken. Er
wird sich in ein absolut neues Volk verwandelt finden — neu in dem Sinne,
daß er sich nicht länger von den ethischen Idealen seiner Vorväter
beherrscht findet, deren sublime Phantasien eine Quelle dauernder Tröstung
für manch einen verzweifelten Geist gewesen sind. Nationen sind die Mütter
der Ideale, aber Ideale werden im Laufe der Zeit schwanger und gebären
neue Nationen.
27. Im Bereich menschlichen Denkens waren wahrscheinlich Muhammad, Buddha und Kant die größten Revolutionäre. Im Bereich der Tat steht Napoleon
ohnegleichen da. Ich schließe Christus nicht in die Weltrevolutionäre
ein, da die von ihm eingeleitete Bewegung bald vom vorchristlichen Heidentum
absorbiert wurde. Europäisches Christentum scheint mir nicht mehr als eine
schwache Übersetzung antiken Heidentums in die Sprache semitischer Theologie
zu sein.
28. Die jüdische Rasse hat nur zwei große Männer produziert
— Christus und Spinoza. Der erste war Gott inkarniert im Sohn, der letztere:
im Universum. Spinoza war nur eine Vervollkommnung des größten Lehrers
seiner Rasse.
30. Es gibt merkwürdige Widersprüche in der Natur des Menschen. Wenn
ich eine Prostituierte heirate, deute ich damit an, daß ich nichts gegen
solche scheußlichen Verbindungen habe. Aber wenn du diese meine Lebensführung
zum Thema einer Geschichte machst, nehme ich es übel — ich verdamme
theoretisch, was ich praktiziere. Die Philosophie Nietzsches — zumindest
im Bereich der Ethik — ist ein Versuch, Europas Führung rational
zu rechtfertigen, aber dieser große Prophet der Aristokratie ist allgemein
in Europa verdammt. Nur wenige haben den Sinn seines Wahnsinns begriffen.
36. Ich gestehe, ich verdanke viel Hegel, Goethe, Mirza Ghalib, Mirza Abdul
Qadir Bedil und Wordsworth. Die beiden ersten führten mich in das >Innere< der Dinge, der dritte und Vierte lehrten mich, wie ich orientalisch in Geist
und Ausdruck bleiben konnte, nachdem ich fremde dichterische Ideale assimiliert
hatte, und der letzte rettete mich in meinen Studententagen vor dem Atheismus.
43. Die Einrichtung der Polygamie war niemals als universelle Institution gemeint.
Sie wurde erlaubt, um gewissen Schwierigkeiten zu begegnen, die nicht allein
der muslimischen Gesellschaft zu eigen sind. Das schlechteste der erlaubten
Dinge ist, nach islamischer Auffassung, die Scheidung. Teilweise wurde Polygamie
nur toleriert, um zu verhindern, daß Scheidung ein allgemeines soziales
Phänomen wurde. Von den beiden sozialen Übeln, Scheidung und Polygamie
(Übeln, wenn wir allgemein werden) ist die letztere an sich das geringere.
Aber die Vermeidung der Scheidung ist wahrscheinlich nicht die einzige Rechtfertigung
für diese Einrichtung; sie ist teilweise eine Konzession an die Natur des
Mannes, der, entsprechend dieser Einrichtung, die Erlaubnis hat, seiner Neigung
nach Abwechslung nachzukommen, ohne ungehindert der Verantwortlichkeit zu entwischen,
die sich aus der Befriedigung seiner Begierden ergibt. In England genießt
das Individuum gelegentlich seine Neigungen, aber das Recht spricht ihn absolut
frei von der Verantwortung, die aus seiner sexuellen Freiheit entsteht. Er ist
nicht verantwortlich für die Kinder, die er zeugt. Auch können solche
Kinder nicht ihren Vater beerben. Die Folgen sind, in manchen Fällen, furchtbar.
Frankreich ist gezwungen gewesen, die Prostitution als soziale Einrichtung anzuerkennen,
die gesund zu erhalten die hässliche Pflicht des Staates ist. Aber
vielleicht die größte Kritik an der Monogamie ist die Existenz der
überzähligen Frauen in mehreren europäischen Ländern, wo
verschiedene Kräfte sozialer und politischer Natur dazu führen, daß
sich die Zahl der Frauen erhöht, die sich keinen Gatten sichern können.
Sie können nicht Mutter werden, und infolgedessen werden sie dazu getrieben,
andere Interessen zu suchen als die Aufzucht von Kindern. Sie sind gezwungen,
Ideen statt Kinder zu >empfangen<. Neuerdings haben sie die inspirierende
Idee >Stimmrecht für Frauen< empfangen. Das ist wirklich ein Versuch
seitens der überzähligen Frauen, oder, wenn man will, ein Versuch
für sie, sich Interessen in dem Bereich der Politik zu schaffen. Wenn eine
Gesellschaft ihren Frauen nicht erlauben kann, Kinder hervorzubringen und sie
zu erziehen, muss sie ihnen etwas anderes geben, womit sie sich beschäftigen
können. Die Frauenstimmrechtsbewegung in Europa ist im Grunde mehr ein
Schrei nach Ehemännern als nach Stimmrecht. Für mich ist es nichts
als ein Aufstand der Arbeitslosen.
44. Es ist Goethes Faust — nicht die Bücher, die von den galiläischen
Fischern geschrieben sein sollen —, der die geistigen Ideale der deutschen
Nation enthüllt. Und die Deutschen sind sich dessen voll bewusst.
48. Goethe nahm eine gewöhnliche Legende und erfüllte sie mit der
ganzen Erfahrung des neunzehnten Jahrhunderts, nein, der gesamten Erfahrung
der menschlichen Rasse. Die Transformierung einer gewöhnlichen Legende
in einen systematischen Ausdruck des letzten Ideals des Menschen ist kaum geringer
als ein göttliches Werk. Es ist ebensogut wie die Schöpfung eines
schönen Universums aus dem Chaos formloser Materie.
60. Die Wirkungskraft einer Idee hängt von der Kraft der Persönlichkeit
ab, in der sie sich verkörpert. Muhammad, Buddha und Jesus Christus sind
die großen Verkörperungen der Idee der Gleichheit — aber der
Islam ist die einzige Kraft in der Welt, die noch immer in Richtung auf Gleichheit
hin wirkt.
63. Macht ist göttlicher als Wahrheit. Gott ist Macht. Seid ihr also wie
euer Vater, der im Himmel ist!
65. Macht berührte die Falschheit, und siehe, sie ward in Wahrheit verwandelt.
69. Niemand kann die Bedeutung von Kants Kategorischem Imperativ ganz verstehen,
der nicht die politische Geschichte des deutschen Volkes studiert. Die Härte
von Kants Begriff der Pflicht findet hier seine volle Erklärung.
76. Ein Mathematiker kann Unendlichkeit nicht in einer Linie einschließen,
ein Poet wohl.
80. Zumindest in einem Punkt ist Sünde besser als Frömmigkeit. In
ihr ist ein imaginatives Element, das bei der letzteren fehlt.
85. Erkenne deine Begrenzungen, schätze deine Fähigkeiten ein, und
dein Erfolg im Leben ist gesichert.
87. Kein religiöses System kann den moralischen Wert des Leidens ignorieren.
Der Irrtum der Erbauer des Christentums war, dass sie ihre Religion auf
die Tatsache des Leidens allein bauten und den moralischen Wert anderer Faktoren
übersahen. Doch war ein solches religiöses System eine Notwendigkeit
für den europäischen Geist, um das schöne, aber einseitige hellenische
Ideal zu ergänzen. Der griechische Lebenstraum war sicherlich der beste
wie Goethe sagt, aber ihm fehlte das Farbelement Leiden, das vom Christentum
beigebracht wurde.
94. Nationen werden geboren in den Herzen von Dichtern; sie gedeihen und sterben
in den Händen von Politikern.
95. Ein Prophet ist nur ein praktischer Poet.
97. Die Natur war nicht ganz entschlossen, was sie aus Plato suchen sollte —
einen Dichter oder einen Philosophen. Dieselbe Unsicherheit scheint sie im Falle
Goethes gefühlt zu haben.
100. All die wunderbare Buchgelehrsamkeit in deiner Bibliothek ist nicht soviel
wert wie ein großartiger Sonnenuntergang am Ufer des Ravi.
102. Die Schönheiten der Natur können nur durch die Augen eines Liebenden
wirklich bemerkt werden. Daher die Wichtigkeit einer echten Ehe.
103. Gott und der Teufel geben dem Menschen nur Gelegenheiten und überlassen
es ihm, sie zu verwenden, wie er es richtig findet.
108. Wenn du die Anatomie des menschlichen Geistes studieren möchtest,
magst du zu Wundt, Ward, James oder Stout gehen. Aber eine wirkliche Einsicht
in die menschliche Natur kannst du allein von Goethe erhalten.
112. Shakespeare und Goethe denken noch einmal den göttlichen Gedanken
der Schöpfung. Es besteht jedoch ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen.
Der realistische Engländer denkt das Individuum nach, der Idealist Goethe das Universelle. Sein Faust ist nur scheinbar individuell. In Wirklichkeit ist
er individualisierte Menschheit.
117. Literarische Kritik braucht nicht unbedingt der Schöpfung von Literatur
zu folgen. Wir finden Lessing gerade an der Schwelle der deutschen Literatur.
118. Keine Nation war so glücklich wie die Deutschen. Sie brachten Heine
hervor, als Goethe noch aus voller Kehle sang. Zwei ununterbrochene Lenze!
122. Wenn du im Lärm dieser Welt gehört werden willst, lass deine
Seele von einer einzigen Idee beherrscht werden. Es ist der Mann mit einer einzigen
Idee, der politische und soziale Revolutionen schafft, Königreiche einrichtet
und der Welt Gesetze gibt.
Aus: Muhammad Iqbal: Botschaft des Ostens. Ausgewählte
Werke. Herausgegeben von Annemarie Schimmel (S.21-30)
Horst Erdmann Verlag Tübingen und Basel