Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)

Deutscher Philosoph, Sprachforscher, Schriftsteller und Kulturpolitiker, der nach dem Studium zunächst am Berliner Kammergericht tätig war (1790/1). Danach widmete er sich seinen philosophisch-ästhetischen und später sprachwissenschaftlichen Interessen. Er war mit Friedrich Heinrich Jacobi, Friedrich August Wolf, Schiller und Goethe befreundet. 1794-97 arbeitete er in Jena an Schillers »Horen« mit. 1802—08 war er preußischer Ministerresident in Rom. Auf Veranlassung des Freiherrn vom Stein wurde er 1809 als Leiter des Kultus- und Unterrichtswesens in das preußische Innenministerium berufen. Humboldt konzipierte die Berliner Universität (Humboldt-Universität) und das neuhumanistische Gymnasium. Zum Staats-Minister ernannt, ging er 1810 als Gesandter nach Österreich und vertrat Preußen neben Hardenberg 1814/15 auf dem Wiener Kongress. 1816/17 wirkte er als Mitglied der deutschen Territorialkommission in Frankfurt a. M., 1817 ging er als Gesandter nach London. 1819 wurde er Minister für die ständischen und kommunalen Angelegenheiten, doch führten Meinungsunterschiede zwischen ihm und Hardenberg und seine in Denkschriften geäußerte Ablehnung der Karlsbader Beschlüsse im Dezember 1819 zu seiner Entlassung. Als Kulturpolitiker war Humboldt ein führender Vertreter des Neuhumanismus (humanistische Bildung). — Bedeutend für die Entwicklung der Sprachwissenschaft war seine Erkenntnis, dass in jeder Sprache eine eigentümliche Weltsicht zum Ausdruck kommt, die von der Geistes-kraft großer Individualitäten der jeweiligen Nation nach und nach geistig erzeugt und sprachlich hineingeprägt wird.So gesehen ist »die Sprache das Organ des inneren Seins, dies Sein selbst, wie es nach und nach zur inneren Erkenntnis und zur Äußerung gelangt«. Entsprechend wird Sprache nicht als »Ergon« (als statische Erzeugung), sondern als »Energeia« (als dynamische Zeugung) gesehen. Wilhelm war der ältere Bruder des Naturforschers Alexander von Humboldt.

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Inhaltsverzeichnis
Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung . . .
Die wahre Unendlichkeit der göttlichen Kraft
Erziehung durch Religion
Heilsame Wahrheit
Sinn und Gefühl für die höhere Welt
Die unzerstörbaren Grundsäulen der Metaphsik


Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts

Die Verteilung des Menschengeschlechts in Völker und Völkerstämme und die Verschiedenheit seiner Sprachen und Mundarten hängen zwar unmittelbar miteinander zusammen, stehen aber auch in Verbindung und unter Abhängigkeit einer dritten, höheren Erscheinung, der Erzeugung menschlicher Geisteskraft in immer neuer und oft gesteigerter Gestaltung. Sie finden darin ihre Würdigung, aber auch, soweit die Forschung in sie einzudringen und ihren Zusammenhang zu fassen vermag, ihre Erklärung. Diese in dem Laufe der Jahrtausende und in dem Umfange des Erdkreises, dem Grade und der Art nach, verschiedenartige Offenbarwerdung der menschlichen Geisteskraft ist das höchste Ziel aller geistigen Bewegung, die letzte Idee, welche die Weltgeschichte klar aus sich hervorgehen zu lassen streben muß. Denn diese Erhöhung oder Erweiterung des inneren Daseins ist das einzige, was der einzelne, insofern er daran teilnimmt, als ein unzerstörbares Eigentum ansehen kann, und in einer Nation dasjenige, woraus sich unfehlbar wieder große Individualitäten entwickeln. Das vergleichende Sprachstudium, die genaue Ergründung der Mannigfaltigkeit, in welcher zahllose Völker dieselbe in sie, als Menschen, gelegte Aufgabe der Sprachbildung lösen, verliert alles höhere Interesse, wenn sie sich nicht an den Punkt anschließt, in welchem die Sprache mit der Gestaltung der nationellen Geisteskraft zusammenhängt. Aber auch die Einsicht in das eigentliche Wesen einer Nation und in den inneren Zusammenhang einer einzelnen Sprache, so wie in das Verhältnis derselben zu den Sprachforderungen überhaupt, hängt ganz und gar von der Betrachtung der gesamten Geisteseigentümlichkeit ab. Denn nur durch diese, wie die Natur sie gegeben und die Lage darauf eingewirkt hat, schließt sich der Charakter der Nation zusammen, auf dem allein, was sie an Taten, Einrichtungen und Gedanken hervorbringt, beruht und in dem ihre sich wieder auf die Individuen fortvererbende Kraft und Würde liegt. Die Sprache auf der andren Seite ist das Organ des inneren Seins, dies Sein selbst, wie es nach und nach zur inneren Erkenntnis und zur Äußerung gelangt. Sie schlägt daher alle feinste Fibern ihrer Wurzeln in die nationelle Geisteskraft; und je angemessener diese auf sie zurückwirkt, desto gesetzmäßiger und reicher ist ihre Entwicklung. Da sie in ihrer zusammenhängenden Verwebung nur eine Wirkung des nationellen Sprachsinns ist, so lassen sich gerade die Fragen, welche die Bildung der Sprachen in ihrem innersten Leben betreffen, und woraus zugleich ihre wichtigsten Verschiedenheiten entspringen, gar nicht gründlich beantworten, wenn man nicht bis zu diesem Standpunkte hinaufsteigt. Man kann allerdings dort nicht Stoff für das, seiner Natur nach, nur historisch zu behandelnde vergleichende Sprachstudium suchen, man kann aber nur da die Einsicht in den ursprünglichen Zusammenhang der Tatsachen und die Durchschauung der Sprache, als eines innerlich zusammenhängenden Organismus, gewinnen, was alsdann wieder die richtige Würdigung des einzelnen befördert.

Die Betrachtung des Zusammenhanges der Sprachverschiedenheit und Völkerverteilung mit der Erzeugung der menschlichen Geisteskraft, als einer sich nach und nach in wechselnden Graden und neuen Gestaltungen entwickelnden, insofern sich diese beiden Erscheinungen gegenseitig aufzuhellen vermögen, ist dasjenige, was mich in dieser Schrift beschäftigen wird.

Aus: Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprache Herausgegeben von Michael Böhler Reclams Universalbibliothek Nr. 6922 (S.30-32)
© 1973 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Die wahre Unendlichkeit der göttlichen Kraft
Wenn man sich ein göttliches allgenugsames und unveränderliches Wesen denkt, so ist das ein Unding . Denn es ist nicht bloß etwas für uns, die wir an Bedingungen der Zeit gebunden sind, Unbegreifliches , sondern enthält, als ruhende Kraft , einen eigentlichen Widerspruch und gründet sich, indem es der Zeit entflieht, auf falsch angewendeten Begriffen von Raum und Substanz . Die wahre Unendlichkeit der göttlichen Kraft beruht auf dem allem Geschaffnen beiwohnenden Vermögen sich ewig neu und immer größer zu gestalten, kann aber nicht , abgesondert von dem Geschaffenen, hypostasiert werden.
Aus: Wilhelm von Humboldt, Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum, S. 7
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche. Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages der Directmedia Publishing GmbH, Berlin

Erziehung durch Religion
Außer der eigentlichen Erziehung der Jugend gibt es noch ein anderes Mittel, auf den Charakter und die Sitten der Nation zu wirken, durch welches der Staat gleichsam den erwachsenen, reif gewordenen Menschen erzieht, sein ganzes Leben hindurch seine Handlungsweise und Denkungsart begleitet und derselben diese oder jene Richtung zu erteilen, oder sie wenigstens vor diesem oder jenem Abwege zu bewahren versucht — die Religion. Alle Staaten, soviel uns die Geschichte aufzeigt, haben sich dieses Mittels, obgleich in sehr verschiedener Absicht und in verschiedenem Maße, bedient. Bei den Alten war die Religion mit der Staatsverfassung innigst verbunden, eigentlich politische Stütze oder Triebfeder derselben, und es gilt daher davon alles das, was ich im vorigen über ähnliche Einrichtungen der Alten bemerkt habe. Als die christliche Religion statt der ehemaligen Partikulargottheiten der Nationen eine allgemeine Gottheit aller Menschen lehrte, dadurch eine der gefährlichsten Mauern umstürzte, welche die verschiedenen Stämme des Menschengeschlechts voneinander absonderten, und damit den wahren Grund aller wahren Menschentugend, Menschenentwicklung und Menschenvereinigung legte, ohne welche Aufklärung und Kenntnisse und Wissenschaften selbst noch sehr viel länger, wenn nicht immer, ein seltnes Eigentum einiger weniger geblieben wären, wurde das Band zwischen der Verfassung des Staats und der Religion lockerer. Als aber nachher der Einbruch barbarischer Völker die Aufklärung verscheuchte, Mißverstand eben jener Religion einen blinden und intoleranten Eifer, Proselyten zu machen, eingab und die politische Gestalt der Staaten zugleich so verändert war, daß man, statt der Bürger, nur Untertanen, und nicht sowohl des Staats, als des Regenten fand; wurde Sorgfalt für die Erhaltung und Ausbreitung der Religion aus eigener Gewissenhaftigkeit der Fürsten geübt, welche dieselbe ihnen von der Gottheit selbst anvertraut glaubten. In neueren Zeiten ist zwar dies Vorurteil seltener geworden, allein der Gesichtspunkt der innerlichen Sicherheit und der Sittlichkeit — als ihrer festesten Schutzwehr — hat die Beförderung der Religion durch Gesetze und Staatseinrichtungen nicht minder dringend empfohlen. S.75f.
Aus: Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Mit einem Nachwort von Robert Haerdter
Reclams Universalbibliothek Nr. 1991 © 1967 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Wenn die Idee einer Gottheit die Frucht wahrer geistiger Bildung ist, so wirkt sie schön und wohltätig auf die innere Vollkommenheit zurück. Alle Dinge erscheinen uns in veränderter Gestalt, wenn sie Geschöpfe planvoller Absicht, als wenn sie ein Werk eines vernunftlosen Zufalls sind. Die Ideen von Weisheit, Ordnung, Absicht, die uns zu unsrem Handlen und selbst zur Erhöhung unsrer intellektuellen Kräfte so notwendig sind, fassen festere Wurzel in unsrer Seele, wenn wir sie überall entdecken. Das Endliche wird gleichsam unendlich, das Hinfällige bleibend, das Wandelbare stet, das Verschlungene einfach, wenn wir uns eine ordnende Ursach an der Spitze der Dinge und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen denken. Unser Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach Vollkommenheit gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit, wenn es ein Wesen für uns gibt, das der Quell aller Wahrheit, der Inbegriff aller Vollkommenheit ist. Widrige Schicksale werden der Seele weniger fühlbar, da Zuversicht und Hoffnung sich an sie knüpft. Das Gefühl, alles, was man besitzt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zugleich die Glückseligkeit und die moralische Güte. s. o. S.79

Bei dem rohem Teile des Volks rechnet man von allen Religionswahrheiten am meisten auf die Ideen künftiger Belohnungen und Bestrafungen. Diese mindern den Hang zu unsittlichen Handlungen nicht, befördern, nicht die Neigung zum Guten, verbessern also den Charakter nicht, sie wirken bloß auf die Einbildungskraft, haben folglich, wie Bilder der Phantasie überhaupt, Einfluß auf die Art zu handeln, ihr Einfluß wird aber auch durch alles das vermindert und aufgehoben, was die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft schwächt. Nimmt man nun hinzu, daß diese Erwartungen so entfernt und darum, selbst nach den Vorstellungen der Gläubigsten, so ungewiß sind, daß Ideen von nachheriger Reue, künftiger Besserung, gehoffter Verzeihung, welche durch gewisse Religionsbegriffe so sehr begünstigt werden — ihnen einen großen Teil ihrer Wirksamkeit wiederum nehmen, so ist es unbegreiflich, wie diese Ideen mehr wirken sollten als die Vorstellung bürgerlicher Strafen, die nah bei guten Polizeianstalten gewiß und weder durch Reue noch nachfolgende Besserung abwendbar sind, wenn man nur von Kindheit an die Bürger ebenso mit diesen als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Handlungen bekannt machte. Unleugbar wirken freilich auch weniger aufgeklärte Religionsbegriffe bei einem großen Teile des Volkes auf eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der Fürsorge eines allweisen und vollkommnen Wesens zu sein, gibt ihnen mehr Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer führt sie auf höhere Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und Plan in ihre Handlungen, das Gefühl der liebevollen Güte der Gottheit gibt ihrer Seele eine ähnliche Stimmung, kurz die Religion flößt ihnen Sinn für die Schönheit der Tugend ein. s. o. S.91

Wenn aber irgend etwas in den Seelen der Bürger einen fruchtbaren Boden für die Religion zu bereiten vermag, wenn irgend etwas die fest aufgenommene und in das Gedanken- wie in das Empfindungssystem übergegangene Religion wohltätig auf die Sittlichkeit zurückwirken läßt, so ist es die Freiheit, welche doch immer, wie wenig es auch sei, durch eine positive Sorgfalt des Staats leidet. Denn je mannigfaltiger und eigentümlicher der Mensch sich ausbildet, je höher sein Gefühl sich emporschwingt, desto leichter richtet sich auch sein Blick von dem engen, wechselnden Kreise, der ihn umgibt, auf das hin, dessen Unendlichkeit und Einheit den Grund jener Schranken und jenes Wechsels enthält, er mag nun ein solches Wesen zu finden oder nicht zu finden vermeinen. Je freier ferner der Mensch ist, desto selbständiger wird er in sich und desto wohlwollender gegen andre. Nun aber führt nichts so der Gottheit zu als wohlwollende Liebe; und macht nichts so das Entbehren der Gottheit der Sittlichkeit unschädlich als Selbständigkeit, die Kraft, die in sich genügt und sich auf sich beschränkt. Je höher endlich das Gefühl der Kraft in dem Menschen, je ungehemmter jede Äußerung derselben, desto williger sucht er ein inneres Band, das ihn leite und führe. Und so bleibt er der Sittlichkeit hold, es mag nun dies Band ihm Ehrfurcht und Liebe der Gottheit oder Belohnung des eignen Selbstgefühls sein. Der Unterschied scheint mir demnach der; der in Religionssachen völlig sich selbst gelassene Bürger wird nach seinem individuellen Charakter religiöse Gefühle in sein Innres verweben oder nicht; aber in jedem Fall wird sein Ideensystem konsequenter, seine Empfindung tiefer, in seinem Wesen mehr Einheit sein. und so wird ihn Sittlichkeit und Gehorsam gegen die Gesetze mehr auszeichnen. Der durch mancherlei Anordnungen beschränkte hingegen wird — trotz derselben — ebenso verschiedne Religionsideen aufnehmen oder nicht; allein in jedem Fall wird er weniger Konsequenz der Ideen, weniger Innigkeit des Gefühls, weniger Einheit des Wesens besitzen, und so wird er die Sittlichkeit minder ehren und dem Gesetz öfter ausweichen wollen.

Ohne also weitere Gründe hinzuzufügen, glaube ich demnach den auch an sich nicht neuen Satz aufstellen zu dürfen, daß alles, was die Religion betrifft, außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staats liegt und daß die Prediger, wie der ganze Gottesdienst überhaupt, eine ohne alle besondre Aufsicht des Staats zu lassende Einrichtung der Gemeinen sein müßten.
s. o. S.97f.

Heilsame Wahrheit
An Charlotte Diede (1814)
Das aber ist eine gewisse und tröstliche und im höchsten Grab heilsame Wahrheit, daß durch das Christentum alle Segnung der Religion eine durchaus allgemeine Wohltätigkeit erlangt haben, daß alle innere und äußere Bevorrechtung aufhört und jeder ohne Unterschied Gott so nahe zu stehen glauben kann, als er sich ihm durch seine eigene Kraft und Demut im Geist und in der Wahrheit zu nähern vermag. Es ist überhaupt in allem, im Religiösen und Moralischen, der wahrhaft unterscheidende Charakter des Christentums, die Scheidewände, die vorher die Völker wie Gattungen verschiedener Geschöpfe getrennt, hinweggeräumt, den Dünkel, als gäbe es eine von der Gottheit bevorrechtete Nation, genommen und ein allgemeines Band der Christenpflicht und Nächstenliebe um alle Menschen geschlungen zu haben. Hier ist nun nicht mehr von bildlichen Darstellungen und nicht mehr von Wundern die Rede. Es herrscht hier die geistige Gemeinschaft, welche die einzige ist, deren der Mensch wahrhaft bedarf, und zugleich diejenige, der er immer durch Vertrauen und Wandel teilhaftig werden kann. Ich gestehe daher auch, daß ich nicht in die Idee eingehen kann, als wäre oder als könnte nur noch jetzt eine engere Gemeinschaft zwischen Gott und einzelnen sein, als die allgemeine, der schlichten Lehre des Christentums angemessene, in die jeder durch Reinheit und Frömmigkeit der Gesinnung tritt. Es wäre ein gefährlicher Stolz, sich einer solchen andern und besondern teilhaftig zu glauben, und das Menschengeschlecht bedarf dessen nicht. Frömmigkeit und Reinheit der Gesinnung und Pflichtmäßigkeit des Handelns, selbst schon Streben nach beiden, da das vollendete Erreichen keinem gelingt, sind alles den Menschen einzeln und in der Gesamtheit Notwendige und alles dem höchsten Wesen, wie wir es denken müssen, Wohlgefällige.
Aus: Wilhelm von Humboldt . Auswahl und Einleitung von Heinrich Weinstock ( S.164-165 aus Humboldts Briefen) Fischer Bücherei KG Frankfurt am Main, Bücher des Wissens 158

Sinn und Gefühl für die höhere Welt
An Charlotte Diede (1834)
Die Worte Paulus‘ , die Sie in Ihrem Briefe anführen: Lebten wir für diese Welt allein, so wären wir die elendesten Geschöpfe, haben allerdings eine tiefe Wahrheit und einen innerlich ergreifenden Sinn. Sie sprechen auf die kürzeste und einfachste Art die überirdische Bestimmung des Menschen aus. Denn in allen höhern, edlem, des Menschen wahrhaft würdigen Gefühlen erblicken wir mit Recht einen Ursprung, der nicht der Erde angehören kann. Alle Veredlung unsers Wesens stammt nur aus dem Gefühl der Ausdehnung unsers Daseins über die Grenzen dieser Welt. Das gibt dem Menschen ein so eigentümliches, den Nachdenkenden unaufhörlich begleitendes Gefühl, dass ihm die Welt, die ihn umgibt, in der er allein unmittelbar wirkt und genießt, nicht genügt und dass seine Sehnsucht und seine Hoffnungen ihn zu einer andern, unbekannten und nur geahndeten hinziehen. In dem verschiedenen Verhältnis, in das sich jeder zu der einen und der andern stellt, liegt hauptsächlich der Unterschied der innern Individualität der Menschen. Es gibt den Charakteren die ursprüngliche Richtung, aus der sich alles übrige entwickelt. Wer nun da ganz im Irdischen befangen wäre, ohne für eine höhere Welt Sinn und Gefühl zu haben, der wäre in Wahrheit elend zu nennen. Er entbehrte der höchsten und besten innern Genugtuung und könnte in dieser Gesinnung zu keiner Vervollkommnung und eigentlichen Veredlung seines sittlichen Wesens gelangen. Es gibt aber auch eine gewisse Verschmähung der Erde und eine irrige Beschäftigung mit einem überirdischen Dasein, die, wenn sie auch nicht zu einer Vernachlässigung der Pflichten des Lebens führt, doch das Herz nicht dazu kommen lässt, die irdischen Wohltaten der Vorsehung recht zu genießen. Die wahrhaft schöne und edle Stimmung vermeidet diese doppelte Einseitigkeit. Sie geht von den unendlichen Spuren des Göttlichen aus, von denen alles Irdische und die ganze Schöpfung so sichtbar in weiser Anordnung und liebevoller Fürsorge durchdrungen ist . Man knüpft in ihr die reinen, wirklich einer bessern Welt angehörenden Empfindungen des Herzens zunächst an die menschlichen Verhältnisse an, denen dieselben auf eine würdige und nicht entweihende Weise gewidmet werden können. Man sucht so und pflanzt das Überirdische im Irdischen und macht sich dadurch fähig, sich zu dem ersteren in seiner Reinheit zu erheben. In diesem Verstande lebt man in dieser Welt für eine andere; denn das Irdische wird bloß zur Hülle des göttlichen Gedankens, er allein ist sein eigentlicher und nicht tief in ihm verborgen liegender, sondern hell und sichtbar aus ihm hervorstrahlender Sinn . In dieser Ansicht trennt sich dann die Seele leicht ganz vom Irdischen und erhebt sich über dasselbe. Unmittelbar daran knüpft sich der Glaube an Unsterblichkeit und ein jenseits des Grabes beginnendes Dasein an. Diesen trägt ein Gemüt, das im richtigen Sinn nicht für diese Welt allein lebt, nicht bloß als Hoffnung und Sehnsucht, sondern als unmittelbar mit dem Selbstbewusstsein verbundene Gewissheit in sich. Wären wir nicht gleichsam schon ausgestattet mit dieser Gewissheit auf die Erde gesetzt, so wären wir in der Tat in ein Elend hinabgeschleudert. Es gäbe keinen Ersatz für irdisches Unglück, und, was noch viel beklagenswerter wäre, die wichtigsten Rätsel blieben ungelöst und unserm ganzen innern Dasein fehlte, was erst eigentlich das Siegel seiner Vollendung aufdrückt.
Aus: Wilhelm von Humboldt . Auswahl und Einleitung von Heinrich Weinstock ( S.170-171 aus Humboldts Briefen) Fischer Bücherei KG Frankfurt am Main, Bücher des Wissens 158

Die unzerstörbaren Grundsäulen der Metaphsik
An Karl Gustav von Brinkmann ( Rom, 23.10. 1803)
Die Ideen, in denen sich in jedem Menschen das Letzte zusammenknüpft, und die man also wenigstens seine Metaphysik nennen kann, haben sich bei mir, seit einiger Zeit, beträchtlich verändert, und ich bin beinah zu einem ganz andern System gekommen, und zu einem, bei dem ich mehr Übereinstimmung mit andern hoffen darf. Sonst pflegte ich mich in eine einzige Individualität einzuspinnen und die ganze Welt in sie gleichsam aufzunehmen; jetzt scheinen sich mir alle im Ganzen der Menschheit zu verlieren, und das einzige, was ich nur hier vermisse, ist der bestimmte Begriff diesen Letzten des Letzten. Fichtes absolutes Ich (ich rede aus bloßen Erinnerungen) war mir sonst immer widrig und dunkel, weil es mir die wirklichen Ichs aufzuheben und ein durchaus chimärisches zu hypostasieren schien. Von dem Schellingschen Pantheismus habe ich kaum einen dunklen Begriff. Aber wenn Sie mir zugeben, dass in jeder Metaphysik ein fester und heller Punkt ist, von dem man ausgeht, und ein (nicht unsichrer, aber) dunkler, auf den man zugeht, so dünkt mich, so nimmt Fichte zum ersten an, was eigentlich der letzte ist, das absolute, eigentliche Ich. Ich fühle nun, und zwar auf tausend der verschiedensten Manieren, die Unzulänglichkeit eines (menschlich) intellektuellen Wesens und auf ebensoviele Manieren das Zusammengehören aller, daß ich davon getrieben werde nicht, denn das ist wieder ein unrichtiger Begriff, auf ein Alleins, sondern auf eine Einheit, in der aller Begriff von Zahl, alles Entgegensetzen von Einheit und Vielheit untergeht. Diese Einheit Gottheit zu nennen, finde ich abgeschmackt, weil man sie so ganz unnützerweise aus sich hinaus wirft. Der Ausdruck Welt, Universum führt gar auf blinde Kräfte, und physisches Dasein. Weltseele ist noch unschicklicher. Ich bleibe daher am liebsten bei dem stehen, was das Nächste ist. Diese Einheit ist die Menschheit, und die Menschheit ist nichts anders als ich selbst. Ich und Du, wie Jacobi immer sagt, sind durchaus eins und dasselbe, ebenso ich und er, und ich und sie und alle Menschen. Es ist nur als wenn jede Facette eines künstlich geschliffenen Spiegels sich für einen abgesonderten Spiegel hielte. Es wird einmal eine Veränderung kommen, wo dieser Irrtum schwinden und wie Schuppen vom Auge fallen wird. Mehr läßt sich nicht sagen, und mehr sollte keine Metaphysik sagen. Aber daß die Menschheit auch numerisch nur eins ist, und daß sie gar nicht das ist, was wir sehen, sondern nur, was einige wenige ahnden, zu welcher Ahndung aber in allen Menschen die Anlagen sind, das ist gewiß, und dies sind für mich die unzerstörbaren Grundsäulen aller Metaphysik.

Über den Weg, den die Metaphysik nimmt und nehmen soll, habe ich auch jetzt sehr veränderte Gedanken, denen ich aber nicht recht zu trauen wage, jeder gibt zu, daß sie das Letzte und Höchste sei. Sollte man das finden, wenn man auf die Welt und sich Verzicht tut und ein Wort hascht und auswickelt oder ein Gefühl, was kein Gefühl, und eine Anschauung, die keine Anschauung ist, wie die Fichtesche? Dem a priori, das die eigentliche Metaphysik verlangt, steht nicht die Erfahrung, sondern nur die Erfahrung im einzelnen entgegen. Das hat schon Kant sehr gut, nur daß seine Erfahrung ein leerer Schein ist. Das wahre a priori müßte, glaube ich, die Kraft im Menschen sein, die den eigentlichen, aber vollern Menschen reproduziert, aber ohne Anwendung auf diesen oder jenen Gegenstand und als bloße Energie. Denn ich nehme drei Stufen der menschlichen Energie an: bloß beobachten und sammeln; aus dem Beobachteten und Gesammelten Ideen ziehn, die Ideen sich assimilieren. Dies letzte nenne ich den Menschen reproduzieren, denn das gilt gleich. Nur aus der in einen Strauß gewundenen Summe aller Erfahrungen und Genüsse, aller Gedanken und Empfindungen, aller Geburten des Genies und Bestrebungen des Willens kann der Gedanke hervorgehen. Der eine Erweiterung der wahren Metaphysik ist, und an die Stelle des: Abgezogenen und Reinen, den wahren Gespenstern der bisherigen, müssen die menschlicheren und belebenderen Ausdrücke des Allverknüpften, des Ganzen und Vollen treten.

Dieser Metaphysik, und das werden Sie mir am leichtesten glauben, entspricht dann gleich wieder ein physischer Teil. Denn wie die Menschheit eins ist, wie einer des andern bedürftig ist, wie eins zum andern führt, Geschlechter, Nationen, Individuen, wie alles immer von einer Idee regiert wird, und wie es ein kräftiges inneres, dieser Idee entsprechendes Streben gibt, das läßt sich, und eigentlich nur da, in der Erfahrung zeigen.


Am schönsten aber bewährt sich dies System durch seine praktische Anwendung. Alle andern führen aufs höchste zu sogenannten Tugenden (die das hauptsächlichste Streben des Menschen unbestimmt lassen) und kleben daran fremde Zieraten, einen Gott, eine Unsterblichkeit und wer weiß was an. Diese Metaphysik befiehlt menschlich zu sein bis ins tiefste Fleisch, alles zu kennen und zu durchschauen, und alles in echte Menschheit zu verwandeln, sie schneidet keine Beschäftigung und keinen Genuß ab, aber nimmt von überall alles Kleinliche und Unedle hinweg. Sie braucht keinen fremden Gott und keine verheißene Unsterblichkeit. Wie überhaupt nicht, so kann auch in mir die Menschheit so wenig untergehn, als sie entstanden ist, mit der Zahl hebt sich auch die Zeit in ihrem Begriff auf, und da sie alles ist, so ist nichts außer ihr.
Aus: Wilhelm von Humboldt . Auswahl und Einleitung von Heinrich Weinstock ( S.172-174 aus Humboldts Briefen) Fischer Bücherei KG Frankfurt am Main, Bücher des Wissens 158