Max Horkheimer (1895-1973)
Deutsch-jüdischer Philosoph und Soziologe, war seit 1930 Professor in Frankfurt a. M. und seit 1931 Direktor des von ihm mit gegründeten »Instituts für Sozialforschung«, das mit seiner Emigration 1933 nach Genf, 1934—49 nach New York verlegt, 1950 mit Theodor W. Adorno in Frankfurt wieder gegründet und bis 1958 von ihm geleitet wurde. Als Begründer und einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entwarf er eine sozialökonomische und sozialpsychologische Kritik der kapitalistischen Wirtschaft und Familie und der Voraussetzungen des Totalitarismus. In seinen letzten Lebensjahren wandte er sich einem religiös gestimmten Pessimismus zu. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Über
den Zweifel Zur Produktivität des Zweifels |
Über
den Zweifel
Von den vielen Arten des Zweifels,
seinen logischen, psychologischen, sachlichen Nuancen, vermag ich in Kürze
nicht zu sprechen. Etwa die Hypothese
in der Wissenschaft,
die Ungewissheit vor, während und nach einem Experiment, nach einer Entscheidung
oder Handlung,
weiterhin Gedächtnisschwierigkeiten, jede Art gedanklichen Schwankens fallen
unter die in Rede stehende Kategorie. Ich beschränke mich auf die Krise
der Theologie, die
historisch bedingte Gefährdung der Religion.
Seit der Antike hat der Begriff
des Zweifels eine der entscheidenden philosophischen Tendenzen in der Geschichte
des Denkens, den
Skeptizismus, bestimmt. Ihm galt sicheres Wissen
von dem, was ist und was sein soll, Wahrheit ohne Fragezeichen, als Trägheit des Denkens, als Naivität.
Nie ist die skeptische Denkart, das Bekenntnis zum Zweifel,
in Europa völlig verschwunden. Im Mittelalter
waren ihr Grenzen gesetzt. Nicht nur die Verbindung von Kirche und Herrschaft,
sondern die Vereinbarkeit des bescheidenen Wissens von
der Natur mit christlicher
Lehre verwischte den Geltungsunterschied zumindest für den einfachen Mann,
machte die Durchdringung täglicher Erfahrung
durch Kategorien wie Seele,
Gott, Erlösung, theologische Ideen schlechthin, zur Selbstverständlichkeit.
Wer die Erschaffung
der Welt durch den allmächtigen
Gott nicht
als ebenso gewiss betrachtete wie die Entstehung eines Bauwerks durch die Menschen, den Himmel
nicht als Stätte ewiger Geborgenheit, das Evangelium, die Offenbarung
nicht als Wahrheit schlechthin, war nicht
bloß ein Sünder, sondern ein Narr. Philosophische Skepsis galt nur
den Gelehrten als beachtliche, wenn auch falsche
Position.
Der heilige Augustinus,
wie nach ihm viele scholastische
Denker, hat mit der skeptischen Lehre, dass »in
den Ansichten der Menschen nichts gewiss, wenn auch das, was man annimmt, zufällig
einmal wahr ist«, sich auseinandergesetzt. »Ihr Zweifel am eigenen Leben«, so sagt er, »ist
ja auch nicht einmal imstande, etwas nicht zu wissen... Sie meinen freilich
dadurch, dass sie ihr Sein
nicht fest annehmen, dem Irrtum aus dem Wege zu gehen, während sie doch auch durch ihren Irrtum von der
Tatsächlichkeit ihres Seins überzeugt werden: denn wer nicht ist,
der kann auch nicht irren.« Ein Stück der Lehre von Descartes,
die als Beginn der Neueren Philosophie zu gelten pflegt, nämlich, dass
der Zweifel selbst die Existenz des eigenen
Ichs bezeugt, war von Augustin somit vorweggenommen.
Nach dem Mittelalter versuchten zunächst die
Reformatoren, Luther im Anschluss an Augustin,
das seit der Renaissance durch Fortschritt
der Erkenntnis bedrohte, religiös bestimmte Weltbild zu retten. Sie erklärten die
biblischen Texte als sicheren, unveränderlichen Bereich besonderer Geltung,
unangreifbar durch die das Leben und Denken revolutionierende neue Naturforschung,
die das alte biblische Weltbild radikal veränderte und zumindest von vielen Intellektuellen jener Zeit
in die Bestimmung sinnvollen Verhaltens schon mit einbezogen wurde.
Der reformatorische Begriff des von Vermutung geschiedenen, ja als ihr Gegensatz
verstandenen Glaubens
war die Ausweitung und Popularisierung einer Doktrin der Scholastik,
der Lehre vom Lumen Supranaturale, der Wahrheit
aus Gnade,
die das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt. Zur Zeit des Thomas
von Aquin galt das übernatürliche Licht als Quelle weniger Dogmen,
wie der Dreieinigkeit und der unbefleckten Empfängnis. Schon am Ende des
13. Jahrhunderts, bei Duns Scotus, hatte sich
die Zahl der nicht zu verifizierenden theologischen Sätze um ein Vielfaches
vermehrt. Schließlich erklärte der Protestantismus die ganze biblische Lehre als einen eigenen geistigen Bezirk jenseits natürlichen Wissens. Aus einem Inbegriff an Vorschriften fürs
tägliche Leben aufgrund von Lehren, die zumeist natürlich schienen,
wurde Religion zum besonderen,
begnadeten Glauben.
Nach der Reformation war Neuere Philosophie,
vor allem die rationalistische,
auf dem europäischen Kontinent der zweite welthistorische Versuch, die religiösen Grundbegriffe
trotz der scientivischen [wissenschaftlichen]
Errungenschaften nicht preiszugeben. Der Gedanke
Gottes und damit die Verehrung, der Gehorsam, kurz
die Moral seien
der Vernunft schon
eingeboren,
daher dem Zweifel enthoben und die Ideen
evident, nicht weniger als die logischen
Grundgesetze, ohne
die das Denken, und erst recht die Wissenschaft,
nicht möglich
ist.
Durch solche Theorien
haben Descartes, Leibniz
und die anderen Rationalisten versucht, Religion,
zunächst ihre begriffliche Basis, mit Wissenschaft
in Einklang zu bringen, den Widerstreit wenigstens zu mildern.
Immanuel Kant erklärte, die moralische Verpflichtung,
der Kategorische
Imperativ, sei der praktischen
Vernunft immanent,
Gottes Dasein
ein aus ihr folgendes, notwendiges Postulat.
Seine Theorie ist ingeniös [erfinderisch,
geistreich] , jedoch wenig plausibel,
denn Moral stammt logisch, und erst recht historisch, aus Theologie.
Wie sehr ein zivilisiertes, sozial zweckmäßiges, humanes Verhalten
faktisch auf Erziehung und aus ihr resultierende psychologische Faktoren zurückgehen
mag — ohne Voraussetzung der Gültigkeit des göttlichen
Gebots sind Nächstenliebe,
Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein logisch nicht besser begründet als Hass, die Hilfe für
Leidende nicht besser als Unterdrückung. Wie dem auch sein mag, Kant
ist der theoretischen Bemühung treu geblieben, den Gedanken
an Gott in einer Weise zu begründen, die der bürgerlichen Ära
angemessen war. Erst wenn Moral, humane Entscheidungen der einzelnen, durch
allumfassende Verwaltung gesellschaftlich einmal belanglos geworden sein werden,
verliert Theologie ihre
pragmatische Notwendigkeit.
Reformation wie Neuere Philosophie
verdanken sich bei solcher Unentbehrlichkeit von Religion in weitem Maß dem Zweifel, dem steigenden
Bewusstsein des Gegensatzes zwischen weltlich-wissenschaftlicher
Erkenntnis und Offenbarung. Inzwischen ist
der Abstand noch größer geworden. Akademische
Philosophie hat weitgehend kapituliert. Ihre scheinbar avancierteste
Richtung, der Neo-Positivismus,
hat als Spezialdisziplin vorbehaltlos der Wissenschaft
sich angeschlossen; sie ist ein Fach wie andere, wenn auch von zweifelhafter
Nützlichkeit.
Wissenschaft mit ihren vielen, immer weiter sich
vermehrenden Spezialbereichen, Fächern, Unterfächern, Unterunterfächern
beliefert Technik, Industrie, Verwaltung, nicht zuletzt die Rüstung. Sie
dient der Herstellung von Mitteln für das Leben der Gesellschaft wie des
einzelnen und ist selbst ein Mittel,
das wie materielle Arbeit in den Werktag gehört. Andere, von ihr wie unter
sich getrennte Sphären, Theater, Reisen, Sport, Lektüre, Berichte
über interessante Forschungsresultate eingeschlossen, bilden die Mußestunden.
Auch die Religion, wie sehr sie noch von manchem
ernst genommen wird, hat mehr und mehr der Freizeitgestaltung sich eingefügt.
Viele Feiertage tragen kirchliche Namen, werden in den Ländern je nach
ihren Konfessionen eingehalten. Im Anschluss an die verdienstvollen Untersuchungen
zuständiger Institute aus den letzten Jahren und Monaten könnten intensive
Meinungsforschung, klinische Interviews, etwa für das Weihnachtsfest, erstaunliche
Ergebnisse zutage fördern. Dass selbst das Ereignis zu Bethlehem ernsthaft
geglaubt, ja im eigentlichen Sinn bezweifelt wird, erscheint mir kaum wahrscheinlich;
die Bilder und Figuren werden fabriziert und angeschaut, aber nicht nur die
historische Richtigkeit der Darstellung, sondern selbst die
Wahrheit des durch sie Bezeugten dürfte eine recht bescheidene Rolle
spielen. An den Motiven, von der weihnachtlichen Sitte sich nicht auszuschließen,
hat Religion wohl nur noch geringen Anteil; die
zahllosen Begünstigten, ferner kommerzielle Interessen,
Erinnerung
an eigene Kindheit, nicht zuletzt die Freizeit sind wirksamer als Frömmigkeit.
Der gesellschaftliche Fortschritt in den so genannten
entwickelten Ländern ist so weit gediehen, dass nicht allein verblasst,
was göttliche Wahrheit hieß, sondern
dass selbst der Zweifel an ihr, um mit der Jugend
zu reden, bereits romantisch geworden ist. Solche Haltung könnte auf Argumente
sich berufen, nicht weniger glaubhaft als die religiöse und philosophische
Tradition. Ich vermag nur anzudeuten, was im Augenblick besonders nahe liegt:
eine Reflexion zur Erdgeschichte.
Menschen gibt es, so wird angenommen, seit vierzig- bis fünfzigtausend
Jahren. Den Laien gelten solche Perioden als gewaltig; nach wissenschaftlicher
Forschung jedoch wird die Erde erst in vier bis fünf Milliarden Jahren
aus klimatischen Gründen unbewohnbar. Wenn die Menschengattung nicht durch
naturbewirkte oder von ihr selbst verschuldete Katastrophen verschwindet, stehen
ihr zumindest noch einige Jahrmilliarden bevor. Die bis jetzt zurückgelegte
Zeitstrecke könnte, falls Entwicklung überhaupt sich fortsetzt, jenen fernen Nachfahren als ähnlich erscheinen
wie dem Erwachsenen heute seine frühen Kindmonate, in denen er zu lallen,
noch nicht zu sprechen vermochte.
Schon heute weiß der halbwegs Orientierte von der Spannung zwischen biblischen
Erzählungen und naturgeschichtlicher, geschichtlicher, biologischer, physikalischer Realität.
Selbst die grobe Kenntnis raumzeitlicher
Dimensionen,
die im Verhältnis zum astronomisch bestimmbaren Universum armselige Größe unserer gesamten Galaxie, der Milchstraße,
zu der als recht bescheidenes Element die Sonne und noch winzigere Elemente,
die Planeten und die Erde, mit ihrem Schimmelüberzug und seinen Mikroorganismen
gehören, solche immer mehr verbreitete Kenntnis macht es schwer und schwerer,
an den überkommenen religiösen
Vorstellungen
festzuhalten, etwa am Menschen als dem Ebenbild des Schöpfers
des gesamten Kosmos,
an den unsterblichen
Seelen aller jener Mikroorganismen, an der Bekümmerung des Ewigen um jede von
ihnen sowie um ihre Kollektiveinheiten, die Nationen, die Stämme und sonstigen
Gruppen. Nicht allein der schließlich kompromissbereite Katholizismus,
auch die Reformation mit ihrem Bibelglauben wie die philosophischen Lehren vom
gemeinsamen Ursprung
logischer und theologischer
Ideen oder gar vom absoluten
Geist, die positiven
Systeme insgesamt,
erscheinen immer weiteren Kreisen als Illusion.
Die geistige Ernüchterung, die notwendig durch Technik, durch steigende
Beherrschung der Natur bewirkte soziale, politische
und geistige Umwälzung betrifft das Bewusstsein
der Menschen wie
ihre psychische
Substanz überhaupt.
Der Rückgang religiöser Überzeugung bildet
eine Seite der Veränderung der Familie, der Erziehung, des Tempos wie der Weise, aus der Kindheit in die
Jugend, schließlich in das so genannte reife Alter zu gelangen. Sowohl
die Art, mit primitiven Trieben
umzugehen, sie zu bilden, zu sublimieren, wie die Richtung und der Inhalt
der den einzelnen bestimmenden
Interessen sind von dem Prozess
betroffen.
Mit den religiösen sind die anderen kulturellen Motive schlechthin als
ideologisch und autoritär kompromittiert, nur die als zweckbedingt bejahten
werden anerkannt. Mit der Religion, mit der Idee
der Wahrheit, die selbst den Märtyrern des Atheismus
noch eigen war und im positivistischen Begriff
der Richtigkeit
nicht aufgeht, erlischt die Sehnsucht nach dem Absoluten,
nach dem Anderen, die mit dem emphatischen Zweifel identisch
ist. Die Verdrängung des Zweifels am eigenen religiösen, nationalistischen oder sonstigen Bekenntnis hat,
wie die Geschichte des Christentums, des Kommunismus, vieler alten und neuen
historischen Bewegungen beweist, seit je den Fanatismus hervorgebracht. Dasselbe gilt auch für den Teil der rebellischen Jugend,
die von allem so genannt Romantischen, von jeder Transzendenz
sich lossagt, dem Positivismus sich verschreibt
und den Verlust, den sie dadurch erleidet, ignoriert. Ohne von ihrer Verneinung
des überholten und wahrlich bedenklichen Zustands vieler Institutionen
im Geringsten abzubauen, könnte sie des Preises innewerden, den sie für
ihren Verzicht auf den Zweifel
bezahlt.
Noch die Überzeugung, aus der progressives,
unkonformistisches Denken und Handeln
sich herleiten, der Mut, der sie kennzeichnet, entbehren der Wahrheit,
wenn sie die Angst und die Frage nicht in sich bewahren. Es scheint mir kein
Zufall, dass eben das theologische Symbol der Wahrheit,
Jesus, der Stifter
des Christentums, als Sterbender gemäß dem jüdischen
Psalm den Zweifel an seiner Einheit
mit dem göttlichen Vater ausspricht:
»Eli, Eli lama asabthani.« Wie
viele, die nicht beim eigenen Sterben, sondern bei ihren schlimmen Taten auf
seine oder andere Lehren sich beriefen, wähnten, ihrer Sache völlig gewiss zu sein. Bewusster
Zweifel hätte sie zu Menschen machen können. S.
7-12
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart
. Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung
von Herrn Gerhard Rein
Zur
Produktivität des Zweifels
Dass westliche Kultur in einer Krise sich befindet, die an Schärfe die
vergangenen Übergangsperioden übertrifft, ist eine triviale Feststellung.
Mit einiger Exaktheit die Situation zu bestimmen, bedürfte nuancierter
Überlegung. Hier wage ich einige der viel erörterten Momente kurz
zu bezeichnen, die mir theoretisch, wie auch im Hinblick auf die Praxis,
als wichtig erscheinen: das Elend der Theologie,
das Versagen der Marxschen Konzeption, einen bescheidenen
Gedanken zu dem, was geschehen kann.
Wie auch immer der Begriff Kultur zu definieren sei, sie geht in Kunst
und Wissenschaft nicht auf, auch nicht in Sitten und Gebräuchen. Die Art des Denkens, Fühlens
und Verhaltens des einzelnen, soweit sie nicht rein physiologisch oder durch
den materiellen Zweck bestimmt wird, gehört zum Begriff von Kultur. Weitgehend
ist das innere Leben, bewusst und unbewusst, das Produkt der geistigen Überlieferung. Religiöse Ideen verschiedenen Ursprungs
haben bei Entwicklung der Sprache,
nicht zuletzt der deutschen, eine Rolle gespielt, sie erscheinen in den Regungen
wie in deren Ausdruck bei jedermann, Atheisten wie Gläubigen.
Religion als solche jedoch hört auf, im Leben
des einzelnen bestimmend zu sein. Vorstellungen
wie göttliche
Allmacht, Weltschöpfung,
Erbsünde, Fortleben der Seele
nach dem Tod, ewige
Gerechtigkeit galten der übergroßen Mehrzahl europäischer Menschen
durch viele Jahrhunderte für nicht weniger real als die dreidimensionale
Welt und die Dinge in ihr. Angesichts des Fortschritts und der Ausbreitung von
Wissenschaft wurden sie, zumindest seit der Reformation, einem besonderen Bereich,
dem Glauben, zugewiesen. Nunmehr sind sie, wie ich meine, in der Regel aus Gewohnheit,
Konformismus und als Grund der Feiertage anerkannt.
Der Unterschied zwischen den historischen Wendepunkten im Verhältnis von
Religion und Wissenschaft zur Gegenwart ist offenbar. Man denke an die Bahnbrecher
der neuen Weltvorstellung in Renaissance und Barock, etwa den Domherrn
Kopernikus, Galilei und Kepler.
Nicht nur aus Furcht
bejahten sie die Offenbarung.
Selbst Isaac Newton, der Entdecker des Gravitationsgesetzes,
war in seinen älteren Jahren, zu Beginn des achtzehnten
Jahrhunderts, an theologischen Fragen nicht weniger
interessiert als an Naturforschung. Nach ihm erschöpfte sich die Wahrheit
nicht in Wissenschaft. Er lässt noch andere Einsicht gelten als mathematisch geordnete, durch
Instrumente vermittelte Wahrnehmung;
er war kein Positivist.
Um das Schicksal von Religion in der Gegenwart zu begreifen, bedarf es weiterer
Reflexion als des Gedankens an die Reihe überwältigender Erfolge in
physikalischen, astronomischen, medizinischen Institutionen. Entscheidend ist
die durch Wissenschaft ermöglichte Technik und die aus ihr folgende Änderung
gesellschaftlichen Lebens, das den Ausblick auf ein Jenseits, auf Strafe und
Belohnung in der Ewigkeit entbehrlich macht. Die Steigerung der Kriminalität, die wachsende Unruhe
unter der Jugend, deren »Wildheit«
Goethe noch beschützen wollte (Gespräch
mit Eckermann, 12. Mai 1828), sind Symptome des Übergangs zur strafferen
Ordnung.
Die in steigendem Maß das Leben bestimmenden sozialen Faktoren, Manipulation
durch Massenmedien, Freizeitgestaltung, Administration schlechthin werden perfektioniert,
gleichen das Verhalten der Individuen einander an, ersetzen Religion und die
in ihr begründete Moral bei der Steuerung des Verhaltens. Wird der Prozess
zur umfassenden Ordnung nicht durch Katastrophen unterbrochen und zurückgeworfen,
so führt er zur Gewöhnung an akkurates Reagieren auf Zeichen, zu seiner
Aufnahme des geforderten Verhaltens in die menschliche Substanz als gattungsmäßigen Instinkt. Religion wird überflüssig.
Nicht allein die Religion, auch andere Sphären der Kultur verdanken die
Entfaltung weitgehend ihrer gesellschaftlichen Funktion Seit ihrer historisch
bedingten Entbehrlichkeit, die längst vor der heutigen Rebellion etwa im
Gang moderner Kunst sich ausdrückt, wird von allen nicht rein scientivischen Ideen durch die jungen Aktivisten lediglich die unbestimmte Freiheit proklamiert.
Der Rest gilt als Romantik. Die Gesinnung war im bürgerlichen Jahrhundert
bereits formuliert. »Alle Erziehung«,
sagt um 1840 Georg Herwegh,
»soll nur darauf hinauslaufen, den Menschen zu einem
freien Mann zu bilden, oder vielmehr, da der Mensch so lange frei ist, bis er
einem deutschen Professor in die Hände gerät, die angeborene Freiheit
zu erhalten, zu entwickeln, ihr Inhalt und Fülle zu geben.« (Herwegh, Werke, Deutsches Verlagshaus Bomm & Co., II. Teil, 5. 159.)
Auch Marx und Engels erklärten
Freiheit als das der Epoche einzig angemessene Ziel. Der historische Materialismus bildet die Begründung. Nach ihm ist jede Ordnung der Gesellschaft durch
den Stand der Naturbeherrschung bedingt. Beim Bau der Pyramiden mussten Menschen,
von der Peitsche angetrieben, die Steine schleppen, es bedurfte der Sklaverei.
Je differenzierter, leistungsfähiger die Werkzeuge, desto weniger bedarf
es krasser Unterjochung. »Die Handmühle ergibt
eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit
industriellen Kapitalisten«, heißt es bei Marx
im Werk über »Das Elend der Philosophie«
(2. Kap. § 1).
Da die Herren jeweils ihre alte Machtstellung verteidigen, erfolgte der Übergang
zu der dem höheren Stand der produktiven Kräfte angemessenen Gesellschaft
durch Revolution. Der Kapitalismus soll, nach Marx,
zum letzten solchen Umsturz führen, zur Überwindung der Klassenverhältnisse
schlechthin. Der Stand der Technik gestatte gleiche Freiheit für jedermann.
Die sich verschärfenden Wirtschaftskrisen, die steigende Misere der Arbeiter
erzeugen ihre Solidarität im Kampf um jenen neuen Zustand, mit dem, nach
allem Elend, die wahre Geschichte
der Menschheit beginnen wird. Durch solche Verkündigung wurde die Marxsche
Analyse der Gesellschaft, die von ihm als Wissenschaft bezeichnete Kritik
politischer Ökonomie, zur neuen, anti-religiösen Religion.
Das Vertrauen in sie ist jetzt nicht weniger erschüttert als der Theismus,
der einst dem Leben keinen realistischen, sondern transzendenten Sinn verlieh.
Nicht nur hat die Prophezeiung vom steigenden Elend sich als falsch erwiesen;
insbesondere die vom Reich der Freiheit wie die Lehre insgesamt sind kompromittiert. In den Ländern, die den Marxismus zur offiziellen Doktrin erklären, funktioniert er, wie einst in ganz Europa
das Christentum: als Rationalisierung der Herrschaft, als Instrument von Innen-
und Außenpolitik. Sollte in den hoch industrialisierten westlichen Ländern
die Naturbeherrschung so weit sich entwickelt haben, dass, wie Marx erhoffte,
Klassenunterschiede ihren Grund verlieren, dann wird, wie erwähnt, die
rationale, allumfassende Verwaltung den Menschen selber automatisieren.
Die Reaktion auf Zeichen, rationales Verhalten, wird zum eingeborenen Instinkt,
das autonome Subjekt erweist sich als ein Zwischenstadium, ephemer, als bloßer
Übergang der erstrebte Endzustand, als die vollendete Zweckmäßigkeit.
Dogmatische Systeme, religiöse, idealistisch-philosophische wie materialistische,
im tiefsten miteinander verwandt, sind desavouiert. Die Jugend ahnt es bereits.
Der bloße Schrei nach Freiheit, seiner Abstraktheit insgeheim bewusst,
drückt die in Wut verwandelte Verzweiflung über den geschwundenen,
als Romantik denunzierten Sinn des eigenen wie des fremden Lebens aus.
Von den zergehenden Ideen etwas zu bewahren, sind Theologen, Sozialisten, fortschrittliche
Intellektuelle jeder Richtung aufrichtig bemüht. Die verschiedenen Kirchen
suchen sich zu nähern, ja mit aufgeschlossenen Marxisten zu verhandeln.
Durch die Milderung der Gegensätze hoffen sie, die Lehren wie den Kultus
schließlich so zu gestalten, dass trotz manchen Differenzen geistige,
nicht bloß wissenschaftliche Bildung bei Erwachsenen wie bei der Jugend
nicht ganz illusorisch wird. Bei allem Verständnis für solche Anstrengung
scheint sie mir, entgegen ihrem Willen, die Fragwürdigkeit der Lehre wie
der Bräuche zu bestätigen, die sie retten will. Die durch Wissenschaft
vermittelte, gesellschaftliche Änderung hat längst den Glauben erschüttert,
der, zur Zeit der Reformation bereits als eine Konzession, an die Stelle der
Gewissheit getreten war.
Die veränderte Bedeutung der Familie in der Gegenwart betrifft das ganze
Denken und Fühlen. Mit der Verehrung des irdischen Vaters schwindet die
des göttlichen, damit schwinden die religiösen Kategorien, die ohne
ihn sich nicht halten können. Schon die Färbung der Stimme des Vaters,
wenn er von biblischen Dingen erzählt, verrät den Unterschied zum
Wirklichen. Kann religiöse Überlieferung, so ist zu fragen, ernsthaft
dauern, wenn anstatt des Positiven nicht das Negative, anstatt der Gewissheit
nicht der Schmerz der Ungewissheit eingestanden wird?
Die Gespräche der Konfessionen untereinander, wie mit Marxisten und Vertretern
jeder anderen Weltanschauung,
verdienen alle Achtung. Ich frage jedoch, ob nicht ein anderer Weg mit eingeschlossen
werden sollte, nämlich die Betonung, dass die gesamten theologischen Systeme
und Begriffe im rein positiven Sinn nicht mehr haltbar sind. Den Religionen,
das Judentum eingeschlossen, liegt der Gedanke
an ein ewiges
Wesen, seine
Allmacht und
Gerechtigkeit zugrunde. Was die menschlichen Organe zu erkennen vermögen,
ist jedoch das Endliche, den Menschen mit eingeschlossen. Das Ich,
das eigene
Bewusstsein, die so genannte Seele sind, soweit wir selbst zu urteilen vermögen,
schon im Leben leicht in Unordnung zu bringen, zu verwirren, zu unterbrechen;
Unglücksfälle, schwere Krankheit, ja der Genuss von Alkohol und anderer
Stimulantien schaffen es. Dass auf Erden an so vielen Stellen Ungerechtigkeit
und Grauen herrschen und die Glücklichen, die es nicht leiden müssen, davon profitieren, dass ihr Glück vom Unglück anderer Kreaturen, heute wie in der vergangenen Geschichte,
abhängt, die so genannte Erbschuld, ist offenbar.
Den im eigentlichen Sinn Denkenden ist all dies bewusst, und ihr Leben, selbst
in glücklichen Momenten, schließt die Trauer ein. Wenn die Tradition,
die religiösen Kategorien, insbesondere die Gerechtigkeit und Güte
Gottes nicht als Dogmen, nicht als absolute Wahrheit
vermittelt werden, sondern als die Sehnsucht derer, die zu wahrer Trauer fähig
sind, eben weil die Lehren nicht bewiesen werden können und der Zweifel
ihnen zugehört, lässt theologische Gesinnung, zumindest ihre Basis,
in adäquater Form sich erhalten. Die Maßnahmen in Hochschulen und
Schulen, die zu solcher Änderung notwendig sind, vermag ich hier nicht
zu erörtern. Den Zweifel in die Religion
einzubeziehen, ist ein Moment ihrer Rettung.
Ich erinnere zuletzt nur an die wahrlich notwendige Aufhebung des Begriffs der
Solidarität, den Marx auf Proletarier reduzieren
wollte. In der Beschränkung hat er versagt. In der Ausbreitung auf alle
Menschen kann er zur produktiven Wahrheit werden, zum heute adäquaten Sinn
der Nächstenliebe. Als endliche Wesen, deren Gemeinschaft in Angst vor Leiden und Tod,
im Kampf um die Verbesserung, Verlängerung des Lebens aller zu bestehen
hätte, würde die richtige Solidarität sich
erzeugen, die Religion und große Philosophie
in sich vereinigte. Wissenschaft wäre nicht ihr Gegner, sondern ihr wichtigstes
Instrument. Solche Andeutung sollte, wie ich meine, weiter entfaltet werden.
S. 148-152
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart
. Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung
von Herrn Gerhard Rein