Karl Holl (1866 – 1926)

Deutscher evangelischer Theologe, der seit 1901 Professor für Kirchengeschichte in Tübingen sowie ab 1906 in Berlin war und 1915 Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften wurde. Holl, der die Rechtfertigungslehre wieder in den Mittelpunkt der Theologie stellte, setzte durch seine bis heute grundlegenden Luther-Untersuchungen, in denen er Luthers Religions- und Gottesverständnis als »Gewissensreligion« zu erklären suchte, eine »Luther-Renaissance« in Gang.

Siehe auch Wikipedia und Ki
rchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zusagen?
a) Das Problem
, b) Der moderne Mensch und seine und seine Frömmigkeit, c) Die wahre Lage des Menschen,
d) Sinn und erlösende Macht der »Rechtfertigung«

Was verstand Luther unter Religion?


Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zusagen?
a) Das Problem
Nicht ohne weiteres stößt der Mensch von heute, wenn er sich über sich selbst klar zu werden strebt, auf das Problem, das die Rechtfertigungslehre meint. Unserer Zeit sind schon die Elemente der religiösen und sittlichen Weltanschauung riesengroßen Fragen geworden. Wer kommt heute zum Einfachsten, zum Glauben an Gott ohne Kampf und schwere Krisen? Und wer kann in unseren Tagen noch sein Lebensideal ohne eigene Überlegung der kirchlichen und gesellschaftlichen Sitte entnehmen? Schon bei den ersten Schritten mühevolles Grundsuchen und angstvolle Entscheidung, wo frühere Geschlechter wie auf breitem, festen Boden sich bewegt hatten.

Daraus erwächst uns der Gewinn, da
ss wir den Wert der einfachen Wahrheiten besser schätzen zu wissen. Wir empfinden heute stärker, ein wie Großes es ist, wenn in einem Menschen der lebendige Gottesglaube durchbricht: die Sonne ist ihm aufgegangen. Wem ein Lebensideal in klaren Umrissen sich gezeigt hat, der hat zugleich damit sich selbst gefunden. Es ist wohl begreiflich, dass daraus bei manchen das Gefühl entsteht, als ob mit der Entdeckung dieser beiden Pole schon alles gewonnen wäre, was zur sicheren Führung des Lebens notwendig ist.

Die Rechtfertigungslehre verlangt noch einen weiteren Schritt in der Selbstbesinnung. Sie fordert vom Menschen, dass er nicht einfach mit Gott dahinlebe, so wie er selbst sich das Verhältnis zurechtgemacht hat, sondern, dass er sich bewusst vor die Frage stelle: wie stehst du persönlich zu Gott, und wie meinst du, dass Gott von dir halte?

[Zum zweiten:] Sie erklärt paradox, nur den erkenne Gott an, der
seinen völligen Unwert gefühlt habe. Das Verhältnis Gottes zum Menschen sei immer eine freie Setzung Gottes, der des Unwürdigen in Gnaden sich erbarme.

b) Der moderne Mensch und seine und seine Frömmigkeit
Das Dogma widerspricht, so sagt man, dem Glauben an die gottgeschaffene Kreatur des Menschen, widerspricht der wirklichen Erfahrung, die uns nirgends absolute, sondern nur relative Gegensätze zeigt, und widerspricht der Aufrichtigkeit, die auch im Verkehr mit Gott, ja dort erst recht geziemt. Man ehrt Gott nicht durch Kriecherei.

Die Forderung, auch Gott gegenüber sich selbst nicht wegzuwerfen, ist [freilich] von niemand in dem Sinn gemeint, als ob nun der Mensch in trotzigem Selbstgefühl sich Gott gegenüberstellen und von ihm verlangen sollte, er müsse ihn anerkennen, so wie er ist. Daß nicht alles, was der Mensch tut, wohlgetan ist, gilt jedermann als selbstverständlich. Es wäre Hybris, etwas anderes von sich zu behaupten. Kein Ernsthafter stellt darum in Abrede, daß der Mensch Vergebung von Gott braucht und dass sich gegenüber dem heiligen Gott Demut geziemt. Gern steigt man sogar noch eine Stufe weiter herab. Auch das Selbstgefühl, zu dem man sich berechtigt hält, kann eine tiefere Betrachtungsweise in Demut verwandeln. Goethe hat mit der »Ehrfurcht vor sich selbst« die klassische Formel dafür gefunden. Sich selbst in seiner ganzen Existenz hinnehmen als eine Gabe Gottes, sich in seiner Eigenart verstehen als ein Erzeugnis des göttlichen Willens, als ein Wesen, das einen besonderen Gedanken der Gottheit ausdrückt, als ein Organ, das eine bestimmte Stelle im göttlichen Weltplan auszufüllen berufen ist, das Beste, was man ist und leistet, als Gnade betrachten – das ist die Beugung vor Gott, in die man gern einwilligt.

Aber nur um so bestimmter wird von da aus eine Rechtfertigung im Sinne des Dogmas abgelehnt. Denn um so fester erscheint in dieser vertieften Selbstauffassung die Zuversicht begründet, dass der Mensch bei all seiner Gebrechlichkeit und Sündhaftigkeit doch auch wirklich Gutes schafft. Und wenn nun vom Selbstgefühl alle Überhebung abgestreift ist, wenn alles eigene Rühmen zuletzt in Dank übergeht, warum soll dann der Mensch nicht auch vor Gott sagen dürfen, was ihm gelungen ist? Soll er das nicht vielmehr zu Gottes Ehre sagen müssen? Und soll er nicht hoffen dürfen, daß Gott, der doch weiß, was für ein Gemächte wir sind, der größer ist als unser Herz und den verborgenen Willen des Guten auch in unserer Verworrenheit erkennt!

Der Eindruck, den dieser Gedankengang auf uns macht, ist deshalb so berückend, weil hier moderne Stimmung mit echt religiösen Ideen sich verbindet. Der moderne Individualismus in der aktiven Wendung, die das letzte Menschenalter Tapferkeit gegeben hat, modernes Dringen auf Natürlichkeit, Unmittelbarkeit, Wahrhaftigkeit, gleichen sich aus mit einem Ichgefühl, das aus Gottergebung stammt. Die Würde des Menschen und die Ehrfurcht vor Gott kommen in und miteinander zum Ausdruck.

Aber ist die Erreichung dieses Ziels dem Menschen wirklich möglich? Kann er aus eigenem Vermögen sich über sich selbst erheben und eine Persönlichkeit absoluten Werts in sich hervorbringen? Die Aufklärung hat daran geglaubt; sie nimmt nicht nur den Menschen von Haus aus als gut, sie ist auch überzeugt von der sieghaften Macht der Vernunft über die niederen Triebe und von der Möglichkeit einer stetigen Selbstverkommnung des Menschen.

c) Die wahre Lage des Menschen
Jedoch in diesem Stück sind wir Moderne skeptisch geworden. Die psychologischen Voraussetzungen dieses freundlichen Optimismus sind uns ins Wanken geraten. Die Frage, was das »eigentliche« Ich des sittlich strebenden Menschen sei, ist für uns ein verwickeltes Problem geworden.

Aus dem einfachen, weil der Mensch, so hochgeistig er sich fühlen mag, doch niemals aufhört ein Naturwesen zu sein, das hungert und dürstet und nach Selbsterhaltung streben muss. Bei jedem Lebensakt treten unwillkürlich diese Instinkte in Funktion, sie stellen sich als die nächstliegenden und stärksten bei jedem Willensentschluss und schieben von hinten her, auch wenn der Mensch sich einbildet, ganz anderen Impulsen zu folgen. Eine wahrhaft dämonische Gewalt! Welches ist dann das wirkliche Ich des im sittlichen Kampf stehenden Menschen? Das ideale oder das natürlich-egoistische? Kann man harmlos von dem »guten Willen« des Menschen reden, den Gott anerkennen müsse, wo doch bis ins Innerste des »guten Willens« der heimtückische Drang sich einschleicht und den Menschen zwingt, bei allem Guten schließlich eben doch nur sich selbst zu wollen? Das Höchste, zu dem es der Mensch aus sich selbst bringen kann, ist eine starke Spannung zwischen dem Ideal, dem er zustrebt, und seinem natürlichen Begehren; aber nie vermag er den Bann seiner angeborenen Organisation wirklich zu brechen.

Gesteht man sich das ehrlich ein, wie es die simplen psychologischen Tatsachen verlangen, dann gestaltet sich die Lage des Menschen Gott gegenüber doch anders, als jene moderne Konstruktion voraussetzt. Der Boden bricht durch, auf den der Mensch sich vor Gott stellen möchte.

d) Sinn und erlösende Macht der »Rechtfertigung«.
Es gibt aus diesem Dilemma keinen anderen Ausgang als den, welchen die Rechtfertigungslehre weist. Sie statuiert ein souveränes Eingreifen Gottes. Derselbe Gott, der den Menschen zerbricht, gibt ihm eine neue Existenz. Der Ausdruck »Rechtfertigung« hebt eine Seite der Sache scharf hervor: der Mensch, der nicht in Gottes Nähe treten kann, ohne von seiner heiligen Majestät vernichtet zu werden, soll dennoch vor ihm bestehen dürfen, weil Gott ihn haben will. Nur ist Rechtfertigung nicht zu denken als Fiktion, als ideeller Vorgang, handelt es sich um einen im vollen Sinn schöpferischen göttlichen Willensakt. Gott schafft im Menschen ein neues Lebens- und Selbstgefühl dadurch, dass er ihn vor sich leben heißt: er erweckt ein neues Ich, eine neue Personhaftigkeit, die nicht in der Naturausstattung oder dem eigenen Streben des Menschen, sondern in dem von Gott frei gesetzten Verhältnis ihren Rückhalt findet.

Der Gottesbegriff, auf den die Rechtfertigungslehre hinausläuft, enthält eine Paradoxie. Neben dem Gedanken des heiligen, unerbittlich fordernden Gottes wir hart der andere gesetzt, da
ss Gott von wunderbarer Güte ist.
Eines soll so scharf, so vollständig gedacht werden, wie das andere, ohne das eine innere Ausgleichung versucht wird. Aber diese Paradoxie ist nichts anderes als das Wesen des christlichen Gottesglaubens. Im selben unversöhnten Kontrast des Richterzorns und der barmherzigen Vaterliebe hat Jesus den Gottesgedanken aufgestellt. Der Gegensatz ist für uns die einzige Form, mittels deren wir uns die Tiefe der Gottesidee zum Bewusstsein zu bringen vermögen. Die Gnade, die des Menschen sich erbarmt, muss vom Hintergrund der göttlichen Heiligkeit sich als etwas völlig Neues, wie ein unbegreifliches Wunder abheben. Nur dann ist die göttliche Liebe mehr als bloße Nachsicht oder blinde Vatergüte.

Aber eins allerdings folgt aus dieser Paradoxie des christlichen Gottesgedankens. Der Glaube, der aus der Todesnot sich erhebt, ist immer ein Wagen. Er behält diesen Charakter, wie man auch immer das einzelne, in unseren Zusammenhang Eingreifende sich zurechtlegen mag. Ob man das Versöhnungswerk Christi einschiebt, das die Umstimmung in Gott erklären soll, oder ob man an Christus in dem Sinn sich hält, dass er uns von dem Ernst des göttlichen Gnadenwillen überzeugt, ob man das Bibelwort als feste Zusage Gottes an uns betrachtet, oder sich auf das Zeugnis derer stützt, die in diesem Glauben selig geworden sind – immer bleibt noch ein Letztes, Wichtigstes übrig, das vom einzelnen persönlich gewagt sein will. Denn durch all diese Vermittlungsgedanken wird doch niemand der Frage überhoben, auf die es schließlich ankommt: ist es wirklich glaublich, dass Gott so gnädig ist, dass er auch mir so gnädig ist? Hier setzt ein persönliches Ringen ein, das jeder für sich bestehen muss. Je ernster es sich gestaltet, je mehr ein unmittelbarer Zusammenstoß des Menschen mit Gott daraus wird, desto besser für ihn. Aber niemals kann dieser Kampf um Gott ehrlicherweise endigen mit einem logisch sprunglosen Resultat. Das Letzte ist ein Mut, der von oben geschenkt sein muss, das Unglaubliche doch als wahr anzunehmen.

Niemand, der seine Rechtfertigung als eine innere Umwälzung erlebt hat, wird es verstehen können, dass diese Lehre ihn zur sittlichen Bequemlichkeit verleiten soll. Es wächst ja vielmehr aus dem Rechtfertigungsgedanken ein sittliches Ideal heraus, größer als es eine autonome Ethik je aufzustellen vermöchte. Das Verhältnis, das Gott in der Rechtfertigung zwischen sich und dem Menschen stiftet, gibt dem Menschen den Stoß zu einer unendlichen Bewegung. So gewiss Gott ein ununterbrochen lebendig Schaffender ist, so gewiss ist auch seine Gnade ein Ruf zur Arbeit in seinem Dienst. Und der von ihm Bezwungene ist wirklich frei zum Dienst. Wem Gott das natürliche Selbstgefühl zerbrochen hat, der hat den Schwerpunkt seiner Persönlichkeit außerhalb seines empirischen Daseins. Er hat damit den richtigen Abstand von sich selbst und von den Dingen dieser Welt. So mag er mit dem, was um ihn ist, ja auch mit dem eigenen Selbst handeln wie mit etwas Fremdem, allein dem Zug dessen folgend, der von oben ihn lenkt. S.44-48
Aus: Religionskundliche Quellenhefte. Herausgeben von Prof. D. H. Lietzmann und Akademiedirektor Dr. K. Weidel
Heft 44, Aus der Gotteslehre der gegenwärtigen Philosophie und Theologie von D. Dr. Heinrich Weinel
Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin

Was verstand Luther unter Religion?
Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Worts. Mit all der Eindringlichkeit und persönlichen Bedingtheit, die einer solchen zukommt. Wie sie aus einer Gewissenserfahrung bestimmter Art, aus dem von Luther in eigenartiger Schärfe erlebten Zusammenstoß eines zugespitzten Verantwortungsgefühls mit dem als unbedingt, als schlechthin unverrückbar geltenden göttlichen Willen hervorging, so ruht sie als Ganzes auf der Überzeugung, daß im Bewußtsein des Sollens, in der Unwiderstehlichkeit, mit der die an den Willen gerichtete Forderung den Menschen ergreift, das Göttliche sich am bestimmtesten offenbart. Und zwar um so klarer und unzweideutiger, je tiefer das Sollen den Menschen erregt und je schärfer es sich von den »natürlichen« Lebenswünschen des Menschen abhebt. Es ist für Luther ein grundlegender Satz, dass nicht das vom Menschen selbst »Erwählte«, das frei von ihm Erdachte, sondern das ihm durch eine höhere Ordnung Auferlegte, das Gemußte, den Stempel des Göttlichen an sich trägt. Denn gerade das Gemusste, das mit dem natürlichen Lebensverlangen in Spannung Tretende und deshalb dem nur nach seinem Glück Trachtenden als »unsinnig« Erscheinende erweckt im Menschen zugleich die Ahnung, daß es den tieferen, den wahren Sinn des Lebens in sich birgt. Das Gesetz geht »über die Vernunft« sagt Luther, das heißt das Sollen liegt jenseits aller bloßen Zweckmäßigkeits- und Folgeberechnungen. In ihm taucht dem eigenen »vernünftigen« Trachten gegenüber ein anderer, unbedingter Wille auf, den der Mensch von dem »seinigen« unterscheidet und doch nicht umhin kann, als den richtigen zu bejahen. So ist der Gottesgedanke und zwar der Gedanke eines persönlichen Gottes bei Luther unmittelbar mit dem Gefühl des Sollens verbunden. Eben auf den Druck, der dabei verspürt wird, gründet sich seine Gewißssheit, daß es nicht ein »gedichteter«, sondern der wirkliche Gott sei, mit dem er es zu tun habe.

Bei ihm führte Gott selbst ganz unmittelbar im Gewissen den Beweis für sein Dasein. Aber er hatte gegen alle philosophische Erörterung der theologischen Dinge — und zwar von Anfang an — auch den Verdacht, dass sie auf einen ganz anderen Gott als den des Christentums hinausführten. Der Gott, der der »Vernunft« entsprach, konnte immer nur der Gott der Werkgerechtigkeit sein. Denn die »Vernunft« mußte an dem Satz festhalten, daß Gott demjenigen wohl will, der sich um eine »untadelige« Lebensführung bemüht. Ein Gott, der sich um den Sünder kümmert, war auf diesem Boden etwas Unverständliches.

Dafür hebt Luther um so kräftiger die Seite an der Religion hervor, dass sie sich — eben als Gewissensreligion — an die
persönliche Freiheit, an den persönlichen Entschlu
ss wendet. Nirgends schien es ihm so wichtig, die Freiheit zu betonen, wie in der Religion. Auch das Gottesverhältnis gilt ihm nur dann als aufrichtig und als wirklich, wenn es auf persönlicher Überführung beruht. Luther tritt damit in ausgesprochenen Gegensatz zu der katholischen Auffassung. Dort herrscht der Glaube an die Masse, an die unbedingte Richtigkeit des von ihr instinktmäßig eingeschlagenen Wegs, und empfindet man es deshalb als fromm, andern die Verantwortung für das eigene Tun zu überlassen. Bei Luther ist umgekehrt der Wille, persönliche Verantwortung zu tragen, entscheidend für den Ernst der Religion. Der einzelne kann darum in die Lage kommen, sein Gottesbewußsssein auch gegenüber der Gesamtheit zu behaupten.

Aus der Begründung auf die Gewissenserfahrung ergab es sich nun aber auch von selbst, dass in der Ordnung der Gedanken der Gottesbegriff das Beherrschende wurde. Handelt es sich in der Religion um ein Sollen, so muß zuerst der Wille, der hinter diesem Sollen steht, verdeutlicht werden. Luther denkt streng »theozentrisch«. Gott ist ihm nicht wie dem Philosophen der Grenzbegriff, den er als Letztes hinter der Welt und dem Menschen erreicht, sondern umgekehrt der Ausgangspunkt, von dem aus er die Welt und den Menschen überhaupt erst wahrnimmt.

Luthers Gottesbild ist die treue Wiedergabe des von ihm Durchlebten. Es war jedoch das Naturgemäße, dass das, was er als Letztes gefunden hatte, beim sachlichen Aufbau ihm an die erste Stelle rückte. Er hat Gott zuletzt verstanden als denjenigen, der ihn an sich heranzieht, das heißt als Liebe, und er ist überzeugt, da
ss er damit in das Innerste in Gott, in sein »Herz« hineingeblickt hat. Aber mit der Liebe stößt nun bei ihm sofort eine andere Seite in Gott zusammen, die ihm in seiner Gewissenserfahrung gleichfalls wichtig geworden war. Luther hat die paulinische Lehre vom Zorn Gottes, die im Abendland hauptsächlich durch Augustin zurückgedrängt worden war, wiederum zu Ehren gebracht. Sie entsprach seiner ernsten Auffassung von Gottes Heiligkeit. Gott muss nicht nur dem Sünder, sondern auch dem verhältnismäßig Gerechten zürnen, das heißt ihn rundweg verwerfen. Denn es gibt bei Gott kein Mittelding zwischen Ja und Nein; allein das Vollkommene kann vor ihm bestehen, das Unvollkommene kann er nur ablehnen und vernichten.

Die Wiedereinführung dieser Lehre vom Zorn Gottes gab nicht nur der Gottes-, sondern der ganzen Weltanschauung eine neue Wendung. Sie bedeutet nicht nur einen Gegensatz gegen die Mystik, der die Welt bloß wie ein Schattenbild erschien — Luther bejaht, indem er Gott zürnen läßt, seinerseits ernsthaft die Wirklichkeit und die Selbständigkeit der Welt; es war noch wichtiger, dass Luther damit auch den ästhetischen Bestandteil wieder ausschied, der vom Neuplatonismus her in die Gottesanschauung des Christentums eingedrungen war.

Er bricht mit der Betrachtungsweise, der der Reichtum Gottes als eine wesentliche, wo nicht als die vornehmste Eigenschaft Gottes erschien und die diesen in der Fülle der nebeneinander bestehenden Stufen in der Welt bewunderte. Für ihn wird wieder wie für das Urchristentum das Sittliche, das unbedingt zu Verwirklichende, zum allein gültigen Maßstab der Weltbetrachtung.

Aber das von ihm behauptete Nebeneinander von Zorn und Liebe in Gott stellte Luther nun vor eine schwere Frage. Er war nicht gewillt, auf Grund der Anschauung vom Zorn die Vorstellung eines Gottes zu vertreten, der das in der Welt Wachsende und zuletzt doch von ihm selbst Geschaffene bloß verurteilen und zerstören kann. Dem stand der Gedanke der göttlichen Liebe entgegen. Aber ebensowenig war er geneigt, den Gedanken des Zorns durch den der Liebe aufzuheben oder abzuschwächen. Beides, Zorn und Liebe, sollte in seiner Ganzheit aufrecht erhalten werden. Und doch fühlte er sich gedrängt, hinter dem Gegensatz die Einheit zu suchen. Die Lösung gab ihm ein Schriftwort: die Stelle, an der Jesaja (28, 21 nach der Vulgata) vom Zorn als von einem »fremden« Werk Gottes redete. Daraus entnimmt Luther: Zorn und Liebe stehen in Gott nicht auf derselben Stufe. Die Liebe ist sein »eigentliches«, der Zorn sein uneigentliches Werk. Der Zorn ist die Maske, hinter der sich »Gott« verbirgt.

Es gehört zu Gottes Wesen, dass er sich auch in seinem Gegensatz offenbart. Aber er tut dies nicht aus Laune, sondern nach bestimmtem Plan. Gott braucht den Zorn, um zu seinem Ziel zu gelangen; um die Hindernisse wegzuräumen, die der reinen Durchsetzung des Höchsten im Wege stehen. Denn im Vergleich mit dem Höchsten, dem ganz Vollkommenen, ist auch das teilweise Vollkommene ein Hemmnis, ein Aufenthalt auf dem Wege.

Nur gilt es wohl zu unterscheiden zwischen Zorn und Zorn. Es gibt einen
»Zorn der Strenge«, der nur straft und deshalb vernichtet. Er offenbart sich im Jüngsten Gericht; aber auch hier schon überall da, wo Gott das völlig Unbrauchbare ausscheidet. Aber es gibt auch einen »Zorn des Erbarmens«, der läutert und befreit. Ihn erfährt der Mensch an sich, den Gott im Gewisssensgericht heimsucht. Gott zerbricht mit ihm den Menschen, aber bloß um ein Neues, ein Besseres aus ihm zu machen. Er muß ihn immer wieder zerbrechen, wenn er ihn wirklich bis zu sich selbst emporbringen und ihn in sein eigenes Wesen wandeln will. So offenbart sich durch den Zorn hindurch, ja in dem Zorn selbst Liebe; die Liebe, die dem Menschen das Höchste gönnt und unermüdlich an ihm arbeitet. Das ist tiefer und männlicher gedacht als das scheinbar so nahe Anklingende, dass»alles, was besteht, wert ist, daß es zugrunde geht«. Luther sieht hinter der Vernichtung ein Werden, hinter dem Zerstören ein Schaffen, das Hervorgehen eines Ewigen in dem zugrundegehenden Endlichen. Aber ebenso ist auf der anderen Seite ersichtlich, wie durch die Verbindung mit dem Zorn der Begriff der Liebe bei Luther vertieft wird. Das Willensstarke, das heilsam Harte, das Erzieherische kommt in die Liebe hinein. Die Liebe wird verstanden als eine Macht, die sich nicht scheut, wehe zu tun, um den von ihr Gemeinten von sich selbst loszureißen und ihn über sich hinauszuheben. Man braucht nur Tolstois weiche Auffassung dagegen zu halten, um das Große in Luthers Deutung zu empfinden.
S.333ff.
Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen