Karl Holl (1866 –
1926)
Deutscher evangelischer
Theologe, der seit 1901 Professor für Kirchengeschichte in Tübingen sowie ab 1906 in Berlin war und 1915 Mitglied der preußischen Akademie
der Wissenschaften wurde. Holl, der die Rechtfertigungslehre wieder in den Mittelpunkt
der Theologie stellte, setzte durch seine bis heute grundlegenden Luther-Untersuchungen, in denen er Luthers Religions- und Gottesverständnis als »Gewissensreligion«
zu erklären suchte, eine »Luther-Renaissance« in Gang.
Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
Inhaltsverzeichnis
Was hat die Rechtfertigungslehre
dem modernen Menschen zusagen?
a) Das Problem,
b) Der
moderne Mensch und seine und seine Frömmigkeit,
c) Die wahre
Lage des Menschen,
d) Sinn und erlösende
Macht der »Rechtfertigung«
Was verstand Luther unter Religion?
Was hat die Rechtfertigungslehre
dem modernen Menschen zusagen?
a) Das
Problem
Nicht ohne weiteres stößt der Mensch von heute, wenn er sich über
sich selbst klar zu werden strebt, auf das Problem, das die Rechtfertigungslehre
meint. Unserer Zeit sind schon die Elemente der religiösen und sittlichen
Weltanschauung riesengroßen Fragen geworden. Wer kommt heute zum Einfachsten,
zum Glauben an Gott ohne Kampf und schwere Krisen? Und wer kann in unseren Tagen
noch sein Lebensideal ohne eigene Überlegung der kirchlichen und gesellschaftlichen
Sitte entnehmen? Schon bei den ersten Schritten mühevolles
Grundsuchen und angstvolle Entscheidung, wo frühere Geschlechter
wie auf breitem, festen Boden sich bewegt hatten.
Daraus erwächst uns der Gewinn, dass wir den Wert
der einfachen Wahrheiten besser schätzen zu wissen. Wir empfinden
heute stärker, ein wie Großes es ist, wenn
in einem Menschen der lebendige Gottesglaube durchbricht: die Sonne ist ihm
aufgegangen. Wem ein Lebensideal in klaren Umrissen sich gezeigt hat,
der hat zugleich damit sich selbst gefunden. Es ist wohl begreiflich, dass
daraus bei manchen das Gefühl entsteht, als ob mit der Entdeckung dieser
beiden Pole schon alles gewonnen wäre, was zur sicheren Führung des
Lebens notwendig ist.
Die Rechtfertigungslehre verlangt noch einen weiteren Schritt in der Selbstbesinnung.
Sie fordert vom Menschen, dass er nicht einfach mit Gott dahinlebe, so
wie er selbst sich das Verhältnis zurechtgemacht hat, sondern, dass er sich bewusst vor die Frage stelle: wie
stehst du persönlich zu Gott, und wie meinst du, dass Gott von dir
halte?
[Zum zweiten:] Sie erklärt paradox, nur den erkenne Gott an, der seinen
völligen Unwert gefühlt habe. Das Verhältnis Gottes zum
Menschen sei immer eine freie Setzung Gottes, der
des Unwürdigen in Gnaden sich erbarme.
b) Der
moderne Mensch und seine und seine Frömmigkeit
Das Dogma widerspricht, so sagt man, dem Glauben an die gottgeschaffene Kreatur
des Menschen, widerspricht der wirklichen Erfahrung, die uns nirgends absolute,
sondern nur relative Gegensätze zeigt, und widerspricht der Aufrichtigkeit,
die auch im Verkehr mit Gott, ja dort erst recht geziemt. Man ehrt Gott nicht durch Kriecherei.
Die Forderung, auch Gott gegenüber sich selbst nicht wegzuwerfen, ist [freilich]
von niemand in dem Sinn gemeint, als ob nun der Mensch in trotzigem Selbstgefühl
sich Gott gegenüberstellen und von ihm verlangen sollte, er müsse
ihn anerkennen, so wie er ist. Daß nicht alles, was der Mensch tut, wohlgetan
ist, gilt jedermann als selbstverständlich. Es wäre Hybris, etwas
anderes von sich zu behaupten. Kein Ernsthafter stellt darum in Abrede, daß
der Mensch Vergebung von Gott braucht und dass sich gegenüber dem
heiligen Gott Demut geziemt. Gern steigt man sogar noch eine Stufe weiter herab.
Auch das Selbstgefühl, zu dem man sich berechtigt hält, kann eine
tiefere Betrachtungsweise in Demut verwandeln. Goethe
hat mit der »Ehrfurcht vor sich selbst« die klassische Formel dafür gefunden. Sich selbst in seiner ganzen Existenz
hinnehmen als eine Gabe Gottes, sich in seiner Eigenart verstehen als ein Erzeugnis
des göttlichen Willens, als ein Wesen, das einen besonderen Gedanken der
Gottheit ausdrückt, als ein Organ, das eine bestimmte Stelle im göttlichen
Weltplan auszufüllen berufen ist, das Beste, was man ist und leistet, als
Gnade betrachten – das ist die Beugung vor Gott, in die man gern einwilligt.
Aber nur um so bestimmter wird von da aus eine Rechtfertigung im Sinne des Dogmas
abgelehnt. Denn um so fester erscheint in dieser vertieften Selbstauffassung
die Zuversicht begründet, dass der Mensch bei all seiner Gebrechlichkeit
und Sündhaftigkeit doch auch wirklich Gutes schafft. Und wenn nun vom Selbstgefühl alle Überhebung abgestreift ist, wenn alles eigene
Rühmen zuletzt in Dank übergeht, warum
soll dann der Mensch nicht auch vor Gott sagen dürfen, was ihm gelungen
ist? Soll er das nicht vielmehr zu Gottes Ehre sagen müssen? Und soll er
nicht hoffen dürfen, daß Gott, der doch weiß, was für
ein Gemächte wir sind, der größer ist als unser Herz und den verborgenen Willen des Guten auch in unserer Verworrenheit
erkennt!
Der Eindruck, den dieser Gedankengang auf uns macht, ist deshalb so berückend,
weil hier moderne Stimmung mit echt religiösen Ideen sich verbindet. Der
moderne Individualismus in der aktiven Wendung, die das letzte Menschenalter
Tapferkeit gegeben hat, modernes Dringen auf Natürlichkeit, Unmittelbarkeit,
Wahrhaftigkeit, gleichen sich aus mit einem Ichgefühl, das aus Gottergebung
stammt. Die Würde des Menschen und die Ehrfurcht
vor Gott kommen in und miteinander zum Ausdruck.
Aber ist die Erreichung dieses Ziels dem Menschen wirklich möglich? Kann
er aus eigenem Vermögen sich über sich selbst erheben und eine Persönlichkeit
absoluten Werts in sich hervorbringen? Die Aufklärung hat daran geglaubt;
sie nimmt nicht nur den Menschen von Haus aus als gut, sie ist auch überzeugt
von der sieghaften Macht der Vernunft über die niederen Triebe und von
der Möglichkeit einer stetigen Selbstverkommnung des Menschen.
c) Die
wahre Lage des Menschen
Jedoch in diesem Stück sind wir Moderne skeptisch geworden. Die psychologischen
Voraussetzungen dieses freundlichen Optimismus sind uns ins Wanken geraten.
Die Frage, was das »eigentliche« Ich des
sittlich strebenden Menschen sei, ist für uns ein verwickeltes Problem
geworden.
Aus dem einfachen, weil der Mensch, so hochgeistig er
sich fühlen mag, doch niemals aufhört ein Naturwesen zu sein, das
hungert und dürstet und nach Selbsterhaltung streben muss. Bei jedem
Lebensakt treten unwillkürlich diese Instinkte in Funktion, sie stellen
sich als die nächstliegenden und stärksten bei jedem Willensentschluss
und schieben von hinten her, auch wenn der Mensch sich einbildet, ganz anderen
Impulsen zu folgen. Eine wahrhaft dämonische Gewalt! Welches ist dann das
wirkliche Ich des im sittlichen Kampf stehenden Menschen? Das ideale oder das
natürlich-egoistische? Kann man harmlos von dem »guten
Willen« des Menschen reden, den Gott anerkennen müsse, wo
doch bis ins Innerste des »guten Willens« der heimtückische
Drang sich einschleicht und den Menschen zwingt, bei allem Guten schließlich
eben doch nur sich selbst zu wollen? Das Höchste, zu dem es der
Mensch aus sich selbst bringen kann, ist eine starke Spannung zwischen dem Ideal,
dem er zustrebt, und seinem natürlichen Begehren; aber nie vermag er den
Bann seiner angeborenen Organisation wirklich zu brechen.
Gesteht man sich das ehrlich ein, wie es die simplen psychologischen Tatsachen
verlangen, dann gestaltet sich die Lage des Menschen Gott gegenüber doch
anders, als jene moderne Konstruktion voraussetzt. Der Boden bricht durch, auf
den der Mensch sich vor Gott stellen möchte.
d) Sinn
und erlösende Macht der »Rechtfertigung«.
Es gibt aus diesem Dilemma keinen anderen Ausgang als den, welchen die Rechtfertigungslehre
weist. Sie statuiert ein souveränes Eingreifen Gottes. Derselbe Gott, der
den Menschen zerbricht, gibt ihm eine neue Existenz. Der
Ausdruck »Rechtfertigung« hebt eine Seite der Sache scharf hervor:
der Mensch, der nicht in Gottes Nähe treten kann, ohne von seiner heiligen
Majestät vernichtet zu werden, soll dennoch vor ihm bestehen dürfen,
weil Gott ihn haben will. Nur ist Rechtfertigung nicht zu denken als
Fiktion, als ideeller Vorgang, handelt es sich um einen im vollen Sinn schöpferischen
göttlichen Willensakt. Gott schafft im Menschen ein neues Lebens- und Selbstgefühl
dadurch, dass er ihn vor sich leben heißt: er erweckt ein neues Ich,
eine neue Personhaftigkeit, die nicht in der Naturausstattung oder dem eigenen
Streben des Menschen, sondern in dem von Gott frei gesetzten
Verhältnis ihren Rückhalt findet.
Der Gottesbegriff, auf den die Rechtfertigungslehre hinausläuft,
enthält eine Paradoxie. Neben dem Gedanken des heiligen, unerbittlich fordernden
Gottes wir hart der andere gesetzt, dass Gott von wunderbarer Güte
ist. Eines soll so scharf, so vollständig gedacht werden, wie das
andere, ohne das eine innere Ausgleichung versucht wird. Aber
diese Paradoxie ist nichts anderes als das Wesen des christlichen Gottesglaubens.
Im selben unversöhnten Kontrast des Richterzorns und der barmherzigen Vaterliebe
hat Jesus den Gottesgedanken aufgestellt. Der Gegensatz ist für
uns die einzige Form, mittels deren wir uns die Tiefe der Gottesidee zum Bewusstsein
zu bringen vermögen. Die Gnade, die des Menschen sich erbarmt, muss
vom Hintergrund der göttlichen Heiligkeit sich als
etwas völlig Neues, wie ein unbegreifliches Wunder abheben. Nur dann ist
die göttliche Liebe mehr als bloße Nachsicht oder blinde Vatergüte.
Aber eins allerdings folgt aus dieser Paradoxie des christlichen Gottesgedankens.
Der Glaube, der aus der Todesnot sich erhebt, ist immer ein Wagen. Er behält
diesen Charakter, wie man auch immer das einzelne, in unseren Zusammenhang Eingreifende
sich zurechtlegen mag. Ob man das Versöhnungswerk Christi einschiebt, das
die Umstimmung in Gott erklären soll, oder ob man an Christus in dem Sinn
sich hält, dass er uns von dem Ernst des göttlichen Gnadenwillen
überzeugt, ob man das Bibelwort als feste Zusage Gottes an uns betrachtet,
oder sich auf das Zeugnis derer stützt, die in diesem Glauben selig geworden
sind – immer bleibt noch ein Letztes, Wichtigstes übrig, das vom
einzelnen persönlich gewagt sein will. Denn durch all diese Vermittlungsgedanken
wird doch niemand der Frage überhoben, auf die es schließlich ankommt:
ist es wirklich glaublich, dass Gott so gnädig ist, dass er auch
mir so gnädig ist? Hier setzt ein persönliches Ringen ein, das jeder
für sich bestehen muss. Je ernster es sich gestaltet, je mehr ein
unmittelbarer Zusammenstoß des Menschen mit Gott daraus wird, desto besser
für ihn. Aber niemals kann dieser Kampf um Gott ehrlicherweise endigen
mit einem logisch sprunglosen Resultat. Das Letzte ist
ein Mut, der von oben geschenkt sein muss, das Unglaubliche doch als wahr
anzunehmen.
Niemand, der seine Rechtfertigung als eine innere Umwälzung erlebt hat,
wird es verstehen können, dass diese Lehre ihn zur sittlichen Bequemlichkeit
verleiten soll. Es wächst ja vielmehr aus dem Rechtfertigungsgedanken ein
sittliches Ideal heraus, größer als es eine autonome Ethik je aufzustellen
vermöchte. Das Verhältnis, das Gott in der Rechtfertigung zwischen
sich und dem Menschen stiftet, gibt dem Menschen den Stoß zu einer unendlichen
Bewegung. So gewiss Gott ein ununterbrochen lebendig Schaffender ist, so
gewiss ist auch seine Gnade ein Ruf zur Arbeit in seinem Dienst. Und der
von ihm Bezwungene ist wirklich frei zum Dienst. Wem Gott
das natürliche Selbstgefühl zerbrochen hat, der hat den Schwerpunkt
seiner Persönlichkeit außerhalb seines empirischen Daseins. Er hat
damit den richtigen Abstand von sich selbst und von den Dingen dieser Welt.
So mag er mit dem, was um ihn ist, ja auch mit dem eigenen Selbst handeln wie
mit etwas Fremdem, allein dem Zug dessen folgend, der von oben ihn lenkt.
S.44-48
Aus: Religionskundliche Quellenhefte. Herausgeben von Prof. D. H. Lietzmann
und Akademiedirektor Dr. K. Weidel
Heft 44, Aus der Gotteslehre der gegenwärtigen Philosophie und Theologie
von D. Dr. Heinrich Weinel
Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin
Was
verstand Luther unter Religion?
Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten
Sinne des Worts. Mit all der Eindringlichkeit und persönlichen Bedingtheit,
die einer solchen zukommt. Wie sie aus einer Gewissenserfahrung bestimmter Art,
aus dem von Luther in eigenartiger Schärfe erlebten Zusammenstoß eines zugespitzten Verantwortungsgefühls mit
dem als unbedingt, als schlechthin unverrückbar geltenden göttlichen
Willen hervorging, so ruht sie als Ganzes auf der Überzeugung, daß
im Bewußtsein des Sollens, in der Unwiderstehlichkeit, mit der die an
den Willen gerichtete Forderung den Menschen ergreift, das Göttliche sich
am bestimmtesten offenbart. Und zwar um so klarer und unzweideutiger, je tiefer
das Sollen den Menschen erregt und je schärfer es sich von den »natürlichen«
Lebenswünschen des Menschen abhebt. Es ist für Luther ein grundlegender
Satz, dass nicht das vom Menschen selbst »Erwählte«,
das frei von ihm Erdachte, sondern das ihm durch eine
höhere Ordnung Auferlegte, das Gemußte, den Stempel des Göttlichen an sich trägt. Denn gerade das Gemusste, das mit dem natürlichen
Lebensverlangen in Spannung Tretende und deshalb dem nur nach seinem Glück
Trachtenden als »unsinnig« Erscheinende erweckt im Menschen zugleich
die Ahnung, daß es den tieferen, den wahren Sinn des Lebens in sich birgt.
Das Gesetz geht »über die Vernunft« sagt
Luther, das heißt das Sollen liegt jenseits aller bloßen Zweckmäßigkeits-
und Folgeberechnungen. In ihm taucht dem eigenen »vernünftigen«
Trachten gegenüber ein anderer, unbedingter Wille auf, den der Mensch
von dem »seinigen« unterscheidet und doch nicht umhin kann, als
den richtigen zu bejahen. So ist der Gottesgedanke und
zwar der Gedanke eines persönlichen Gottes bei Luther unmittelbar mit dem
Gefühl des Sollens verbunden. Eben auf den Druck, der dabei verspürt
wird, gründet sich seine Gewißssheit, daß es nicht ein »gedichteter«,
sondern der wirkliche Gott sei, mit dem er es zu tun habe.
Bei ihm führte Gott selbst ganz unmittelbar im Gewissen den Beweis für
sein Dasein. Aber er hatte gegen alle philosophische Erörterung der theologischen
Dinge — und zwar von Anfang an — auch den Verdacht, dass sie
auf einen ganz anderen Gott als den des Christentums hinausführten. Der
Gott, der der »Vernunft« entsprach, konnte immer nur der Gott der
Werkgerechtigkeit sein. Denn die »Vernunft« mußte an dem Satz
festhalten, daß Gott demjenigen wohl will, der sich um eine »untadelige«
Lebensführung bemüht. Ein Gott, der sich um den Sünder
kümmert, war auf diesem Boden etwas Unverständliches.
Dafür hebt Luther um so kräftiger die Seite an der Religion hervor,
dass sie sich — eben als Gewissensreligion — an die persönliche Freiheit, an den persönlichen Entschluss wendet.
Nirgends schien es ihm so wichtig, die Freiheit zu betonen, wie in der Religion.
Auch das Gottesverhältnis gilt ihm nur dann als aufrichtig und als wirklich,
wenn es auf persönlicher Überführung beruht. Luther tritt damit
in ausgesprochenen Gegensatz zu der katholischen Auffassung. Dort herrscht der Glaube an die Masse, an die unbedingte Richtigkeit des von
ihr instinktmäßig eingeschlagenen Wegs, und empfindet man es deshalb
als fromm, andern die Verantwortung für das eigene
Tun zu überlassen. Bei Luther ist umgekehrt der Wille, persönliche
Verantwortung zu tragen, entscheidend für den Ernst der Religion. Der einzelne
kann darum in die Lage kommen, sein Gottesbewußsssein
auch gegenüber der Gesamtheit zu behaupten.
Aus der Begründung auf die Gewissenserfahrung ergab es sich nun aber auch
von selbst, dass in der Ordnung der Gedanken der Gottesbegriff das Beherrschende
wurde. Handelt es sich in der Religion um ein Sollen, so muß zuerst der
Wille, der hinter diesem Sollen steht, verdeutlicht werden. Luther denkt streng »theozentrisch«. Gott ist ihm nicht wie dem
Philosophen der Grenzbegriff, den er als Letztes hinter der Welt und dem Menschen
erreicht, sondern umgekehrt der Ausgangspunkt, von dem aus er die Welt und den
Menschen überhaupt erst wahrnimmt.
Luthers Gottesbild ist die treue Wiedergabe des von ihm
Durchlebten. Es war jedoch das Naturgemäße, dass das,
was er als Letztes gefunden hatte, beim sachlichen Aufbau ihm an die erste Stelle
rückte. Er hat Gott zuletzt verstanden als denjenigen,
der ihn an sich heranzieht, das heißt als Liebe, und er ist überzeugt,
dass er damit in das Innerste in Gott, in sein »Herz« hineingeblickt
hat. Aber mit der Liebe stößt nun bei ihm sofort eine andere
Seite in Gott zusammen, die ihm in seiner Gewissenserfahrung gleichfalls wichtig
geworden war. Luther hat die paulinische Lehre vom Zorn Gottes, die im Abendland
hauptsächlich durch Augustin zurückgedrängt worden war, wiederum
zu Ehren gebracht. Sie entsprach seiner ernsten Auffassung von Gottes Heiligkeit.
Gott muss nicht nur dem Sünder, sondern auch dem verhältnismäßig
Gerechten zürnen, das heißt ihn rundweg verwerfen. Denn
es gibt bei Gott kein Mittelding zwischen Ja und Nein; allein das Vollkommene
kann vor ihm bestehen, das Unvollkommene kann er nur ablehnen und vernichten.
Die Wiedereinführung dieser Lehre vom Zorn Gottes gab nicht nur der Gottes-, sondern der ganzen Weltanschauung eine neue Wendung.
Sie bedeutet nicht nur einen Gegensatz gegen die Mystik, der die Welt bloß wie ein Schattenbild erschien — Luther bejaht, indem
er Gott zürnen läßt, seinerseits ernsthaft die Wirklichkeit
und die Selbständigkeit der Welt; es war noch wichtiger, dass
Luther damit auch den ästhetischen Bestandteil wieder ausschied, der vom
Neuplatonismus her in die Gottesanschauung des Christentums eingedrungen war.
Er bricht mit der Betrachtungsweise, der der Reichtum Gottes als eine wesentliche,
wo nicht als die vornehmste Eigenschaft Gottes erschien und die diesen in der
Fülle der nebeneinander bestehenden Stufen in der Welt bewunderte. Für
ihn wird wieder wie für das Urchristentum das Sittliche,
das unbedingt zu Verwirklichende, zum allein gültigen Maßstab der
Weltbetrachtung.
Aber das von ihm behauptete Nebeneinander von Zorn und Liebe in Gott stellte
Luther nun vor eine schwere Frage. Er war nicht gewillt, auf Grund der Anschauung
vom Zorn die Vorstellung eines Gottes zu vertreten, der das in der Welt Wachsende
und zuletzt doch von ihm selbst Geschaffene bloß verurteilen und zerstören
kann. Dem stand der Gedanke der göttlichen Liebe entgegen. Aber ebensowenig
war er geneigt, den Gedanken des Zorns durch den der Liebe aufzuheben oder abzuschwächen.
Beides, Zorn und Liebe, sollte in seiner Ganzheit aufrecht erhalten werden.
Und doch fühlte er sich gedrängt, hinter dem Gegensatz die Einheit
zu suchen. Die Lösung gab ihm ein Schriftwort: die Stelle, an der Jesaja
(28, 21 nach der Vulgata) vom Zorn als von einem »fremden« Werk Gottes redete. Daraus entnimmt Luther: Zorn
und Liebe stehen in Gott nicht auf derselben Stufe. Die Liebe ist sein »eigentliches«,
der Zorn sein uneigentliches Werk. Der Zorn ist die Maske, hinter der sich »Gott« verbirgt.
Es gehört zu Gottes Wesen, dass er sich auch in seinem Gegensatz offenbart.
Aber er tut dies nicht aus Laune, sondern nach bestimmtem Plan. Gott braucht
den Zorn, um zu seinem Ziel zu gelangen; um die Hindernisse wegzuräumen,
die der reinen Durchsetzung des Höchsten im Wege stehen. Denn im Vergleich
mit dem Höchsten, dem ganz Vollkommenen, ist auch das
teilweise Vollkommene ein Hemmnis, ein Aufenthalt auf dem Wege.
Nur gilt es wohl zu unterscheiden zwischen Zorn und Zorn. Es gibt einen »Zorn der Strenge«, der nur straft und deshalb vernichtet.
Er offenbart sich im Jüngsten Gericht; aber auch hier schon überall
da, wo Gott das völlig Unbrauchbare ausscheidet. Aber es gibt auch
einen »Zorn des Erbarmens«, der läutert
und befreit. Ihn erfährt der Mensch an sich, den Gott
im Gewisssensgericht heimsucht. Gott zerbricht
mit ihm den Menschen, aber bloß um ein Neues, ein Besseres aus ihm zu
machen. Er muß ihn immer wieder zerbrechen, wenn er ihn wirklich bis zu
sich selbst emporbringen und ihn in sein eigenes Wesen wandeln will. So offenbart
sich durch den Zorn hindurch, ja in dem Zorn selbst Liebe; die Liebe, die dem
Menschen das Höchste gönnt und unermüdlich an ihm arbeitet. Das ist tiefer und männlicher gedacht als das scheinbar so nahe Anklingende,
dass»alles,
was besteht, wert ist, daß es zugrunde geht«. Luther sieht hinter der Vernichtung ein Werden, hinter dem Zerstören ein
Schaffen, das Hervorgehen eines Ewigen in dem zugrundegehenden Endlichen.
Aber ebenso ist auf der anderen Seite ersichtlich, wie durch die Verbindung
mit dem Zorn der Begriff der Liebe bei Luther vertieft wird. Das
Willensstarke, das heilsam Harte,
das Erzieherische kommt in die Liebe hinein. Die Liebe wird verstanden als eine Macht, die
sich nicht scheut, wehe zu tun, um den von ihr
Gemeinten von sich selbst loszureißen und
ihn über sich hinauszuheben. Man braucht nur Tolstois
weiche Auffassung dagegen zu halten, um das Große
in Luthers Deutung zu empfinden. S.333ff.
Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang
Philipp
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias
Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen