Paul Thiry d’ Holbach (1723 - 1789)
Deutschstämmiger
französischer Philosoph, der aus seiner streng mechanistisch-kausalen
Naturauffassung heraus versucht, eine weltimmanente Ethik abzuleiten. Als Grundlage dient ihm das monistische
Axiom, dass
das Denken nur eine spezifische Form der allgemeinen Bewegung der Materie ist. Den cartesianischen Dualismus von Körper und Seele verwirft er. Die moralischen Gesetze müssen
deshalb wie physikalische Gesetze empirisch und kausal fundiert sein. So
wie Isaac Newton die Gravitation als das wesentliche Organisationsprinzip der Materie betrachtet, so nimmt er den Selbsterhaltungstrieb als zentrales Gesetz für das menschliche Zusammenleben an und entwickelt
daraus in Analogie zur Physik seine Ethik der sozialen Nützlichkeit: »Tugend ist das, was wirklich auf Dauer den
in Gesellschaft lebenden Wesen der menschlichen Gattung nutzt; Laster ist
das, was ihnen schadet.« Holbach
ist – wie Julien
Offray de La Mettrie - überzeugter Atheist und der Ansicht, dass
religiöses Denken dem Menschen weder hilft noch ihn moralisch weiterbringt,
sondern seine Entwicklung nur hemmt und ihr Schaden zufügt. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Religion
als Ursache moralischer Perversionen
Vorteile, welche dem Menschen
aus der Idee einer Gottheit entspringen sollen
Religiöse Meinungen können
nicht Grundlage für Sittlichkeit sein
Die Abgeschmacktheit
und Nutzlosigkeit der Gottesidee
Religion als Ursache moralischer Perversionen
Unter den Anbetern eines grausamen,
rachgierigen und eifersüchtigen Gottes begegnen wir friedfertigen Seelen,
die Feinde der Verfolgung, der Gewalttätigkeit, der Grausamkeit sind; und
unter den Anhängern eines mit Barmherzigkeit und Milde erfüllten Gottes
sehen wir Ungeheuer von Barbarei und Unmenschlichkeit. Da indessen sowohl diese
wie auch jene anerkennen, daß ihr Gott ihnen Vorbild sein soll: warum
richten sie sich nicht danach? Weil das Temperament des Menschen immer stärker
ist als seine Götter; weil die bösesten Götter eine rechtschaffene
Seele nicht immer zu verderben und weil die sanftmütigsten Götter
solche Herzen, die vom Verbrechen erfaßt sind, nicht zu bessern vermögen.
Die Veranlagung wird immer mächtiger sein als die Religion; die gegenwärtigen
Gegenstände, die augenblicklichen Interessen, die eingewurzelten Gewohnheiten,
die öffentliche Meinung haben viel mehr Macht als imaginäre Wesen
oder als Spekulationen, die selbst von dieser Veranlagung abhängen. [...]
Man sagt uns täglich, daß das ärgerliche oder verbrecherische
Verhalten der Priester und ihrer Anhänger nichts gegen die Güte des
Religionssystems beweist; warum sagt man nicht das gleiche vom Verhalten eines
Atheisten, der, wie wir bereits bewiesen haben, trotz eines ausschweifenden
Lebenswandels eine sehr gute und sehr richtige Moral haben kann? [...]
Die Güte Gottes bestärkt den Bösewicht, seine Strenge verwirrt
den Rechtschaffenen. So kehren sich die Eigenschaften, die die Theologie ihrem
Gott zuschreibt, gerade gegen die gesunde Moral. Auf diese unendliche Güte
wagen sich die verderbtesten Menschen zu verlassen, wenn sie Verbrechen begehen
oder sich gewöhnlichen Lastern hingeben wollen. Erinnert man sie an ihren
Gott, so sagen sie uns, Gott sei gut, seine Milde und Barmherzigkeit seien unendlich.
Wiederholt ihnen nicht der Aberglaube, der Handlanger der Ungerechtigkeiten
der Sterblichen, unaufhörlich und allerorten, daß man mit Hilfe bestimmter
Zeremonien, Gebete und Andachtsübungen den schrecklichen Gott besänftigen
und sich dann in die offenen Arme dieses zur Milde gestimmten Gottes werfen
kann? Besitzen nicht die Priester aller Völker unfehlbare Geheimnisse,
mit deren Hilfe sie auch die schändlichsten Menschen mit der Gottheit zu
versöhnen vermögen? [...]
Die christliche Religion, die sich rühmt, den Menschen die richtigsten
Ideen von der Gottheit zu geben, und die, wenn man sie beschuldigt, aufrührerisch
und blutdürstig zu sein, ihren Gott immer nur als gut und barmherzig schildert;
die sich rühmt, die reinste Moral gelehrt zu haben, und die unter denen,
die sich zu ihr bekennen, für immer Eintracht und Frieden stiften will:
diese Religion hat mehr Zwistigkeiten, Streit, Bürger- und auswärtige
Kriege und Verbrechen aller Art verursacht als alle übrigen Religionen
der Welt zusammengenommen. Man wird vielleicht einwenden, daß der Fortschritt
der Einsichten diesen Aberglauben hindern wird, in der Folgezeit ebenso schädliche
Wirkungen hervorzubringen wie diejenigen, die er vorher verursacht hatte; wir
antworten: der Fanatismus wird immer gleich gefährlich bleiben, und die
Wirkungen werden, solange die Ursache nicht beseitigt ist, immer die gleichen
sein. [...]
Aus: Texte zur Ethik, (dtv 30096, S.151f.) Herausgegeben
von Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster © 1976 Deutscher Taschenbuchverlag
(www.dtv.de)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Deutschen
Taschenbuchverlages
Untersuchung
der vermuteten Vorteile, welche dem Menschen aus der Idee einer Gottheit entspringen
sollen, oder ihr Einfluss auf Sitten, Politik, Wissenschaft, die Wohlfahrt der
Völker und die des einzelnen
Da Sittlichkeit ursprünglich die Selbsterhaltung
des Menschen und seine Wohlfahrt in Gesellschaft zum Endzweck hat, so hatte
sie nichts mit religiösen Beweggründen zu tun. Der Mensch fand in
seinem eigenen Sinne Bewegungsgründe hinlänglich, seine Leidenschaften
zu mäßigen, seine lasterhaften Neigungen zu beherrschen und sich
seinen Mitmenschen, die er fortwährend nötig hatte, nützlich
und schätzbar zu machen. –
Systeme, die Gott als einen Tyrannen schildern, können dem Menschen nicht
als Gegenstand einer Nachahmung dienen. Sie beschreiben ihn eifersüchtig,
rachsüchtig und interessiert. Auf diese Weise trennt die Religion die Menschen
unter sich. Sie streiten und verfolgen sich gegenseitig, und machen sich niemals
Vorwürfe über Verbrechen, die sie im Namen ihres Gottes begehen. –
Ein gleicher Sinn durchdringt die Religion. In ihr hören wir von nichts
anderem, als von Opfer; und selbst der Gott und reine Geist der Christen musste
seinen eigenen Sohn, um seine Wut zu befriedigen, am Kreuze gemordet haben.
Der Mensch aber bedarf eine Sittlichkeit, die sich auf Natur und Erfahrung gründet.
–
Finden wir wahre Tugend unter den Predigern der Religion? Sind diese Männer
so fest von der Existenz ihres Gottes überzeugt, und weniger der Wohllust
und der Unmäßigkeit ergeben? Wenn wir ihr Betragen bedenken, so müssen
wir geneigt werden zu glauben, dass sie in ihren Ideen über eine Gottheit
gänzlich enttäuscht sind. –
Verhindert die Idee eines lohnenden und strafenden Gottes die Fürsten,
die vorgeben, ihre Macht von der Gottheit selbst erhalten zu haben, in ihren
schlechten Handlungen? Sind jene bösen und schändlichen Monarchen,
die Zerstörung um sich verbreiten, Atheisten? Nein, sie rufen die Gottheit
zum Zeugen in dem Augenblicke an, wo sie ihre Eide zu verletzen beabsichtigen.
Haben religiöse Systeme je die Sitten eines Volkes verbessert? Religion
geht der Meinung nach über alles, – Prediger sind mit Lehrsätzen
und feierlichen Gebräuchen, die ihrer eigenen Macht nützen, zufrieden
und sie vervielfältigen ermüdende Zeremonien, um aus den Überschreitungen
derselben von seiten ihrer Sklaven, Vorteile zu ziehen. Blickt auf das Werk
der Religion und des Pfaffentums, hinsichtlich des Verkaufs der Begünstigungen
des Himmels und des Ablasses. Nichtssagende Worte als Unfrömmigkeit, Gotteslästerung,
Kirchenraub und Ketzerei wurden durch Prediger erfunden, und diese vorgeblichen
Verbrechen wurden einst mit der größten Grausamkeit bestraft. Was
muss unter solchen Lehrmeistern, aus dem Schicksale der Jugend werden? Von Kindheit
auf wird das menschliche Gemüt mit unsinnigen Ideen vergiftet, durch Truggestalten
beunruhigt; das Genie wird durch mechanische Demut beengt, und der Mensch wird
durch Vorurteile gänzlich gegen die Vernunft und Wahrheit geblendet. –
Bildet die Religion wahrhafte Bürger, Väter und Ehemänner? Sie
wird über alles hoch gepriesen. Dem Fanatiker wird befohlen, Gott und nicht
Menschen zu gehorchen; folglich glaubt er sich in der Sache des Himmels handelnd,
empört er sich gegen sein Vaterland, und verlässt seine Familie. –
Würde die Erziehung auf wirklich nützliche Gegenstände gerichtet,
so würden daraus unberechenbare Wohltaten für’s Menschengeschlecht
entspringen. Aber wie viele Menschen sind nicht, ungeachtet ihrer religiösen
Erziehung, verbrecherischen Gewohnheiten unterworfen. Unerachtet der Hölle,
in ihrer Beschreibung so fürchterlich, – welche Massen von verlassenen
Verbrechern füllen nicht unsere Städte! Leute weichen mit Schrecken
vor einem Manne zurück, der sich nur eines Zweifels in das Dasein ihres
Gottes äußert. Aus den Tempeln, wo Opfer gebracht, göttliche
Offenbarungen verlesen und die Laster im Namen des Himmels angeklagt worden
sind, kehren die Menschen bald zu ihren früheren verbrecherischen Gewohnheiten
zurück. –
Die verurteilten Diebe und Mörder, sind diese Atheisten oder Ungläubige?
Jene Unglücklichen glauben dennoch an einen Gott. Sie haben stets von Jugend
auf über ihn reden gehört, auch sind ihnen die Strafen, welche auf
Verbrechen folgen, nicht fremd. Jedoch ein verborgener Gott und entfernte Strafen
eignen sich schlecht, um von Verbrechen abzuhalten, welche gegenwärtige
und gewiss erfolgende Züchtigungen nicht mal verhindern können. –
Ein Mann, der bei Begehung des kleinsten Verbrechens im Angesicht der Welt zittern
würde, zögert keinen Augenblick, es zu begehen, sobald er glaubt,
er wird nur von Gott gesehen. So schwach ist die Idee der Göttlichkeit
im Menschen, wenn sie menschlichen Leidenschaften gegenübergesetzt ist.
Redet der religiöseste Vater zu seinem Sohne von einem rächenden Gotte?
Nein, seine Leibesbeschaffenheit, durch Ausschweifung geschadet, seine Habe,
durchs Spiel verloren, die Verachtung der Gesamtheit seiner Nebenmenschen –
das sind die Beweggründe, welche der Vater sich bedient, um seinen Sohn
zu bessern. –
Die Idee von Gott ist unnütz und einer gesunden Sittlichkeit zuwider; –
sie bringt weder der Gesamtheit noch dem Einzelnen die Glücklichkeit. Menschen,
die sich immer mit Scheinbildern beschäftigen, leben in beständigem
Schrecken; sie vernachlässigen ihre wichtigsten Angelegenheiten, und bringen
ein erbärmliches Dasein in Seufzern, Beten und in Büßungen zu.
Sie bilden sich ein, dass sie Gott beruhigen, und namentlich dadurch, dass sie
sich jedem Übel unterziehen. Welche Früchte zieht denn eine Gesamtheit
aus den kläglichen Vorstellungen solcher frommen Tollköpfe? Sie sind
sich selbst und der Welt nur unnütze Menschenfeinde oder Glaubensschwärmer,
die den Frieden der Völker stören. Welche religiöse Ideen auch
wirklich einige wenige furchtsame und friedfertige Schwärmer trösten,
so machen sie doch Millionen anderer Menschen, deren Handlungen weit mehr mit
wahrhaft sittlichen Grundsätzen übereinstimmen, ihr Leben hindurch
unglücklich. Ein Mann, der sich ruhig unter einem fürchterlichen Gotte
verhalten kann, kann nur ein Wesen ohne Vernunft sein.*
*Ein
Volk ist nicht eher für die politische Freiheit reif, als bis es die sich
selbst angelegte Fessel der Religion gebrochen, sich besonders von dem die Sklaverei
aussäenden Christentume losgesagt hat, und keine übersinnliche Gewalt
über sich anerkennt als die Vernunft, den einzigen untrüglichen Wegweiser
zur Glückseligkeit. Wer an Gott und die Unsterblichkeit der Seele glaubt,
wird, wie auch die Erfahrung lehrt, alle Leiden der Erde , die Unterdrückung,
der Tyrannei, des körperlichen Elends, geduldig tragen, in der Überzeugung,
dass er nach dem Tode von Gott hinreichende Entschädigung, die, nach den
Lehren des Christentums, um so reichlicher ausfallen wird, je größer
das auf der Erde erduldete Leid und Unrecht gewesen, und je geduldiger und gottergebener
es ertragen worden ist. Nur wer überzeugt ist, dass er bloß für
die Erde lebt, wird den Trieb haben, alle seine Kräfte anzuwenden, um auf
Erden gut, glücklich und frei zu leben.
Religiöse
Meinungen können nicht Grundlage für Sittlichkeit sein. Eine Vergleichung
zwischen religiöser und natürlicher Sittlichkeit. Die Religion hemmt
den Fortgang des Gemüts.
Willkürliche und unvereinbare Meinungen, widersprechende Begriffe, abgesonderte
und unverständliche Nachforschungen können nie als Grundlage zur Sittlichkeit
dienen; sie muss im Gegenteil auf klaren augenscheinlichen Prinzipien beruhen,
die aus der Natur des Menschen entlehnt sind und auf Vernunft sich begründen.
Die Sittlichkeit ist stets einförmig und folgt nie der Einbildung, der
Leidenschaft oder dem Interesse des Menschen. Sei muss dauerhaft, für alle
Menschen gleich sein, und sich niemals durch Zeit und Ort verändern. Die
Sittlichkeit, da sie die Wissenschaften der Pflichten des in Gesellschaft lebenden
Menschen ist, muss sich auf die in unserer Natur gewebten Gefühle begründen.
Mit einem Worte, ihre Grundlage muss Notwendigkeit sein. –
Die Theologie ist in ihrer Voraussetzung unrichtig, wenn sie behauptet, dass
die gegenseitigen Bedürfnisse der Menschen, der Wunsch nach Glücklichkeit,
und das augenscheinliche Interesse der Gesellschaften und des einzelnen, nicht
hinlängliche Beweggründe sind, um den Menschen zu leiten. Die Diener
der Religion unterwerfen die Sittlichkeit den menschlichen Leidenschaften, indem
sie sie von Gott ausfließen lassen. Die Priester gründen die Moralität
demnach auf ein Nichts, indem sie sie auf ein Hirngespinst begründen. –
Die von Gott gehegten Ideen wechseln, infolge der verschiedenen Ansichten, die
man über ihn hegt, mit der Einbildung eines jeden Menschen, von Alter zu
Alter und von Land zu Land, voneinander ab. –
Vergleiche man einmal die Moralität der Religion mit derjenigen der Natur,
und man wird sie wesentlich voneinander verschieden finden. Die Natur ladet
die Menschen ein, sich gegenseitig zu lieben, sich ihr Dasein zu erhalten, und
ihre Glücklichkeit zu erhöhen. Die Religion befiehlt dagegen, einen
furchtbaren Gott zu lieben, sich selbst zu hassen und die schönsten Freuden
seiner Seele einem fürchterlichen Götzenbilde zu opfern. Die Natur
befiehlt dem Menschen seien Vernunft zu beraten; die Religion lehrt ihm, dass
die Vernunft ein trüglicher Führer ist. Die Natur gebietet ihm, nach
Wahrheit zu forschen; die Religion verbietet ihm jede Untersuchung. Die Natur
gebietet dem Menschen, gesellschaftlich zu sein und seine Nachbarn zu lieben;
die Religion befiehlt ihm, die Gesellschaft zu scheuen und sich von der Welt
auszuschließen. Die Natur schreibt dem Ehemanne Zärtlichkeit und
Liebe zu; die Religion sieht auf den Ehestande als einen Zustand der Unreinheit
und des Verderbens. Die Natur gebietet dem bösen Menschen, seinen schändlichen
Neigungen zu widerstehen, da sie seiner Glücklichkeit zu widerstehen, da
sie seiner Glücklichkeit zuwider sind; die Religion verspricht, während
sie Verbrechen verbietet, dem Verbrecher die Vergebung, wenn er sich vor ihren
Priestern durch Opfer, Geschenke, Zeremonien, Gebete demütigt. –
Das menschliche Gemüt, durch die Religion verfälscht, ist seit Jahrtausenden
kaum ein geringes in seiner Verbesserung fortgeschritten. Die Vernunftlehre
ist allgemein verdreht worden, um die offenbarsten Abgeschmacktheiten zu beweisen.
Die Theologie begeistert die Könige mit falschen Ideen über ihre Rechte,
da sie ihnen erzählt, dass sie ihre Macht von Gott erhalten haben. Die
bürgerlichen Gesetze wurden den Launen der Religion unterworfen. Die Arzneikunst,
die Anatomie und die Naturgeschichte durften nur durch die Augen des Aberglaubens
angeschaut werden. Die klarsten Tatsachen wurden, sobald sie mit religiösen
Voraussetzungen nicht übereinstimmten, widerstritten. –
Lässt sich eine Frage der natürlichen Philosophie dadurch, dass man
behauptet, Naturerscheinungen als Vulkane oder Überschwemmungen wären
Beweise des göttlichen Zorns, genügend auflösen? Anstatt die
Kriege und die Hungersnot dem Grimme eines Gottes zuzuschreiben, würde
es weit nützlicher sein, den Menschen zu lehren, dass sie von ihrer eigenen
Torheit und von der Tyrannei ihrer Fürsten herrühren. Die Menschen
würden dann die Mittel gegen solche Übel, in einer besseren Regierungsform
gesucht haben. Die Erfahrung würde den Menschen die Fruchtlosigkeit des
Fastens, der Gebete, der Opfer und der feierlichen Prozessionen, die nie etwas
Gutes erzeugten, gelehrt haben.
Der
Mensch kann aus den Ideen, welche man ihm von der Gottheit beibringt, nichts
schließen. – Die Abgeschmacktheit und Nutzlosigkeit der Gottesidee
Angenommen, eine Intelligenz, wie die Theologie sie verkündet, wäre
vorhanden, so muss man doch gestehen, dass bis jetzt noch kein Mensch den Wünschen
einer Vorsehung nachgekommen ist. –
Gott wünscht durch die Menschen gekannt zu sein, und selbst nicht mal die
Theologen können sich eine Idee von ihm bilden. Zugestanden, sie könnten
es, und sein Wesen und seine Eigenschaften wären ihnen klar, genießt
daher das übrige der Menschheit gleiche Vorteile? Sehr wenige Menschen
sind tiefen und fortdauernden Nachdenkens fähig. Das gewöhnliche Volk
beider Geschlechter, das genötigt ist, für seine Erhaltung zu arbeiten,
denkt niemals nach. Leute der Mode, alle weiblichen Geschöpfe und junge
Personen beiderlei Geschlechts, die mit ihren Leidenschaften und Vergnügungen
beschäftigt sind, denken ebenso wenig nach als die untere Klasse. Es gibt
vielleicht nicht mal zehn aus einer Million Menschen, die sich einst ernsthaft
gefragt haben, was sie denn wirklich unter Gott verstehen; und noch weniger
gibt es , die aus dem Dasein einer Gottheit eine Aufgabe zur Lösung gemacht
haben; dennoch verlangt die Überzeugung einen Beweis, und dieser Beweis
kann uns allein die Gewissheit verschaffen. Wo sind denn die Männer, die
von dem Dasein Gottes überzeugt worden sind?
Ganze Nationen verehren freilich einen Gott auf das Ansehen ihrer Väter
und Prediger. Aber Zutrauen, gesetzmäßige Obrigkeit und Gewohnheit
sind vorhanden, statt die Überzeugung und den Beweis. Alles ruht auf gesetzmäßige
Autorität, und die Vernunft und die Untersuchung sind überall verboten.
–
Ist denn die Überzeugung von dem Dasein eines Gottes, welche doch so wichtig
für die Menschheit ist, allein den Predigern und Begeisterten erteilt worden?
Finden wir unter letzteren dieselbe Übereinstimmung in theologischen Lehrsätzen
als bei Personen, welche die Wissenschaften nützlicher Künste studieren?
Will von allen Menschen gekannt sein, warum zeigt er sich nicht der ganzen Welt,
in einer weniger zweideutigen und mehr überzeugenden Art, als er bis jetzt
durch Verbindungen, die ihn der Parteilichkeit anklagen, getan hat? Sind Fabeln
und Verwandlungen die einzigen Mittel, die er benutzen kann? Warum sind sein
Name, seine Eigenschaften und sein Wille nicht in allen Menschen mit leserlichen
Buchstaben geschrieben worden? –
Gott widersprechende Eigenschaften zulegend, verleitete die Theologie ihren
Gott in eine Lage zu versetzen, in der er nicht handeln konnte. Eingestanden,
er wäre selbst mit so außerordentlichen und widersprechenden Eigenschaften
vorhanden, so können wir weder mit gewöhnlichem Verstande noch mit
Vernunft sein Betragen, noch die Art und Weise des von ihm vorgeschriebenen
Gottesdienstes, billigen. –
Ist er unendlich gut, warum sollten wir ihn fürchten? Falls unendlich weise,
warum uns über unser Schicksal ängstigen? Falls allwissend, warum
ihm unsere Bedürfnisse erzählen, oder ihn mit unseren Gebeten ermüden.
Ist er überall, warum sollen wir ihm Tempel bauen? Falls Herr von allem,
wozu sollen wir ihm Opfer und Geschenke bringen? Falls gerecht, woher entsteht
denn der Glaube, dass er den Menschen, den er selbst schwach und kränklich
erschaffen hat, strafen werde? Falls allmächtig, wie kann er beleidigt
und widerstanden werden? Falls vernünftig, warum ihn mit einem blinden
Wesen, wie der Mensch ist, erzürnen? Falls unveränderlich, warum fordern
wir von ihm, seine Dekrete zu ändern? Und falls unbegreiflich, warum nehmen
wir uns heraus, eine Idee über ihn zu bilden. –
Dagegen, wäre Gott andererseits jähzornig, rächend und boshaft,
so sind wir nicht genötigt, ihm unsere Bitten vorzulegen. Ist er ein Tyrann,
wie können wir ihn lieben? Wie kann ein Herr von seinen Sklaven geliebt
werden, wenn er es zulässt, dass sie ihn beleidigen, bloß um das
Vergnügen zu haben, sie bestrafen zu können? Ist Gott über alles
mächtig, wie kann der Mensch seinem Zorne entfliehen? Falls unveränderlich,
wie kann der Mensch seinem Schicksale entgehen? –
Demnach, von welchem Standpunkte aus wir auch Gott betrachten, so können
wir ihm weder Gebete noch Verehrung widmen. Wollten wir selbst das Dasein einer
Gottheit voll Billigkeit, Vernunft und Wohltat zulassen, was würde dann
ein tugendhafter Atheist von demselben zu fürchten haben, falls er sich
unerwartet in der Gegenwart eines solchen Wesens befände, das er im Leben
missverstanden und vernachlässigt hätte. –
»O Gott, könnte er sagen, unbegreifliches Wesen,
das ich nie entdecken konnte, verzeihe, dass der beschränkte Verstand,
den du mir verliehen hast, nicht hinlänglich war zu deiner Entdeckung.
Wie konnte ich dein geistiges Wesen durch die Hilfe der Sinne allein entdecken?
Ich konnte meinen Verstand nicht dem Joche von Männern unterwerfen, die
eingestanden, über dich nicht aufgeklärter als ich zu sein, und die
nur unter sich einverstanden waren, dass ich der Vernunft, die du mir verliehen
hast, entsagen sollte. Aber, o Gott, wenn du deine Geschöpfe liebst, so
habe auch ich sie geliebt. Gefällt dir die Tugend, so hat auch mein Herz
sie immer verehrt; ich habe die Traurigen getröstet, niemals mir das Eigentum
der Armen zugeeignet – ich war immer gerecht, wohltätig und mitleidig.«
–
Ungeachtet der Vernunft werden die Menschen doch durch Krankheit, oft in die
Vorurteile der Kindheit, zurückgeworfen. Dieses findet am häufigsten
bei entkräfteten Leuten statt; bei der Herannahung des Todes zittern sie,
weil die Maschine geschwächt ist; das Gehirn ist nicht imstande seine Wirksamkeit
zu verrichten, und so verfallen sie natürlich in Irrereden. Unsere Systeme
unterliegen den Veränderungen des Körpers, ein kranker Körper
entwickelt nur einen kranken Ideengang.
Aus: Anthologie der neueren Philosophie, Arkanischer
Verlag Berlin 1919 (S. 129-135)