Hippokrates (um 460 – 375 v. Chr.)

  Griechischer Arzt, Gründer der Ärzteschule von Kos und Begründer der wissenschaftlichen Heilkunde. Nach Hippokrates sind die Ursachen der Krankheit in einer fehlerhaften Mischung der Körpersäfte zu finden. Hippokrates gilt als Verfasser oder geistiger Vater zahlreicher Schriften, die im »Corpus Hippocraticum« zusammengefasst sind. Der Eid des Hippokrates, der aber in der überlieferten Form vermutlich nicht von Hippokrates selbst stammt, verpflichtet noch heute jeden Arzt in seiner Grundeinstellung.

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Inhaltsverzeichnis

Göttliche und menschliche Einsicht
Der Eid des Hippokrates
  Die heilige Krankheit
Polemik gegen die magische Auffassung und Behandlung der Epilepsie
Die Epilepsie entsteht durch Vererbung und ist an eine bestimmte Konstitution gebunden

Göttliche und menschliche Einsicht. Natur und Brauch
Die Menschen aber verstehen nicht, im Sichtbaren das Unsichtbare zu schauen. Sie üben nämlich Künste, die der menschlichen Natur ähnlich sind, und erkennen es nicht. Die göttliche Vernunft lehrte sie, was in ihnen vorgeht, nachzuahmen, indem sie erkennen, was sie tun, aber nicht erkennen, was sie nachahmen. Denn alles ist ähnlich, indem es unähnlich ist, und alles ist verträglich, indem es abträglich ist, es redet und redet nicht, es hat Vernunft und ist unvernünftig. Entgegengesetzt ist die Weise eines jeden und doch übereinstimmend. Denn Brauch und Natur, wonach wir alles ausführen, stimmen nicht überein, obwohl sie übereinstimmen. Den Brauch haben die Menschen sich selbst gesetzt, ohne zu erkennen, worüber sie ihn setzten; die Natur von allem aber haben die Götter geordnet. Was nun die Menschen setzten, bleibt niemals sich selbst gleich, sei es nun richtig oder nicht. Was aber die Götter setzten, ist immer richtig, das Richtige sowohl wie das Nichtrichtige. So groß ist der Unterschied. S.286
Aus: Hippokrates, Ausgewählte Schriften: Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Hans Diller . Mit einem bibliographischen Anhang von Karl-Heinz Leven
Reclams Universalbibliothek Nr. 9319. © 1994 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Der Eid des Hippokrates

1. Ich schwöre und rufe Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, daß ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und nach meiner Einsicht erfüllen werde.
Ich werde den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich meinen Eltern achten, ihn an meinem Unterhalt teilnehmen lassen, ihm, wenn er in Not gerät, von dem Meinigen abgeben, seine Nachkommen gleich meinen Brüdern halten und sie diese Kunst lehren, wenn sie sie zu lernen verlangen, ohne Entgelt und Vertrag. Und ich werde an Vorschriften, Vorlesungen und aller übrigen Unterweisung meine Söhne und die meines Lehrers und die vertraglich verpflichteten und nach der ärztlichen Sitte vereidigten Schüler teilnehmen lassen, sonst aber niemanden.

2. Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.

3. Auch werde ich niemandem ein tödliches Mittel geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und werde auch niemanden dabei beraten; auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungamittel geben.

4. Rein und fromm werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.

5. Ich werde nicht schneiden, sogar Steinleidende nicht, sondern werde das den Männern überlassen, die dieses Handwerk ausüben.

6. In alle Häuser, in die ich komme, werde ich zum Nutzen der Kranken hineingehen, frei von jedem bewußten Unrecht und jeder Übeltat, besonders von jedem geschlechtlichen Mißbrauch an Frauen und Männern, Freien und Sklaven.

7. Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgang mir Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren.

8. Wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, so sei mir beschieden, in meinem Leben und in meiner Kunst voranzukommen, indem ich Ansehen bei allen Menschen für alle Zeit gewinne; wenn ich ihn aber übertrete und breche, so geschehe mir das Gegenteil. S. 8-10
Aus: Hippokrates, Ausgewählte Schriften: Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Hans Diller . Mit einem bibliographischen Anhang von Karl-Heinz Leven
Reclams Universalbibliothek Nr. 9319 . © 1994 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Die heilige Krankheit
Polemik gegen die magische Auffassung und Behandlung der Epilepsie
Mit der sogenannten heiligen Krankheit verhält es sich folgendermaßen: sie ist nach meiner Ansicht keineswegs göttlicher oder heiliger als die anderen, sondern wie die anderen Krankheiten so hat auch sie eine natürliche Ursache, aus der sie entsteht. Die Menschen aber haben angenommen, sie sei eine göttliche Schickung, weil sie ihnen fremdartig vorkam und sie sich darüber wunderten, daß sie in keiner Weise anderen Krankheiten gleicht. Nun bleibt zwar in der Unmöglichkeit, sie zu erkennen, ihr göttlicher Charakter erhalten, aber in den vielen Möglichkeiten, wie man glaubt, sie heilen zu können, geht er verloren. Man versucht nämlich, sie mir Reinigungen und Besprechungen zu heilen.

Wenn sie aber wegen ihrer wunderbaren Art als göttlich gelten soll, so wird es, wenn es darauf ankommt, viele heilige Krankheiten geben. Denn ich will zeigen, daß es andere Krankheiten gibt, die um nichts weniger erstaunlich und wunderbar sind, die aber niemand für heilig hält. Erstens scheinen mir die Quotidiana-, Terriana- und Quarranafieber um nichts weniger heilig und göttlichen Ursprungs zu sein als diese Krankheit, und doch wundert man sich nicht über sie. Ferner sehe ich, wie Menschen ohne jeden deutlichen Anlaß in Raserei verfallen und außer sich geraten und viel Sinnloses tun, und ich weiß, daß im Schlaf viele stöhnen und schreien, daß andere unter Alpdrücken leiden, wieder andere im Schlaf aufspringen, nach draußen laufen und von Sinnen sind, bis sie erwachen; dann aber sind sie gesund und wie früher bei klarem Verstand, aber bleich und schwach. Und das geschieht mit ihnen nicht nur einmal, sondern häufig. Es gibt noch viele andere derartige Zustände, über die im einzelnen zu reden zu weit führen würde.

Ich meine nun: diejenigen, die zuerst diese Krankheit für heilig erklärt haben, waren Menschen, wie sie auch jetzt noch als Zauberer, Entsühner, Bettelpriester und Schwindler herumlaufen und beanspruchen, äußerst gottesfürchtig zu sein und mehr als andere zu wissen. Diese Menschen nahmen die göttliche Macht als Deckmantel ihrer Ratlosigkeit, weil sie nicht wußten, wie sie den Kranken helfen sollten; und damit ihre Unwissenheit nicht offenbar würde, brachten sie auf, daß diese Krankheit heilig sei. Indem sie passende Gründe dafür angaben, suchten sie sich mit ihren Heilmethoden zu sichern. Sie behandelten die Kranken mit Entsühnungen und Besprechungen und verboten ihnen Bäder und viele Speisen, die kranken Menschen unbekömmlich sind, so von Seefischen Barben, Schwarzschwänze, Pfriemenfische und Aale — denn diese Fische sind besonders gefährlich —, ferner Fleisch von Ziegen, Hirschen, Schweinen und Hunden — denn dieses Fleisch regt am meisten die Verdauungsorgane auf —, von Vögeln Hühner, Tauben und Trappen und was sonst als besonders schwer gilt, an Gemüse Minze, Knoblauch und Zwiebeln; denn Scharfes ist dem Kranken auf keinen Fall zuträglich. Ferner verboten sie, schwarze Kleider zu tragen — denn Schwarz ist die Farbe des Todes —, auf Ziegenfellen zu schlafen oder sich in sie zu kleiden oder Fuß auf Fuß zu setzen oder Hand auf Hand zu legen — denn dies alles sei hemmend für das Wohlbefinden. Alle diese Vorschriften gaben sie wegen des göttlichen Charakters der Krankheit, als ob sie mehr wüßten und andere Ursachen als andere Menschen angeben könnten, damit, wenn der Kranke gesund wird, ihnen der Ruhm der Geschicklichkeit gehöre, wenn er aber stirbt, sie sich in Sicherheit verteidigen und etwas dafür anführen könnten, daß nicht sie schuld seien, sondern die Götter. Denn sie haben ja weder feste noch flüssige Medizin einzunehmen gegeben noch die Kranken in warme Bäder gesteckt, so daß der Eindruck entstehen könnte, sie seien schuld. Dagegen meine ich, wenn es an Ziegenleder und Ziegenfleisch läge, würde von den Afrikanern im Innern des Landes keiner gesund sein; denn diese haben keine Decke, kein Kleid und keine Schuhe, die nicht aus Ziegenleder gemacht wären, da sie ja kein anderes Vieh als Ziegen besitzen. Wenn aber tatsächlich die erwähnten Speisen, wenn man zu sich nimmt, die Krankheit erzeugen und verstärken, wenn man sie aber nicht nimmt, sie heilen, dann ist ja nicht die Gottheit daran schuld, und es helfen nicht die Entsühnungsriten, sondern was heilt und schadet, das sind die Nahrungsmittel, und die Einwirkung der Gottheit wird ausgeschaltet.

So scheint es mir, daß die, die auf solche Weise diese Krankheiten zu heilen versuchen, sie weder für heilig noch für göttlich halten. Denn wenn sie durch derartige Riten und durch eine solche Behandlung beseitigt werden, wie sollten sie dann nicht auch infolge anderer Praktiken dieser Art die Menschen befallen? Dann wäre also nicht mehr das Göttliche schuld, sondern etwas Menschliches. Denn wer imstande ist, durch Entsühnung und Zauberei ein solches Leiden zu entfernen, der kann es mit andern Praktiken auch zufügen. Wenn man sich das überlegt, kann man nicht mehr von göttlicher Einwirkung reden. Mit solchen Behauptungen und Vorkehrungen stellen die Behandelnden sich, als wüßten sie mehr als andere, und täuschen die Menschen, indem sie ihnen Sühnungs- und Reinigungsvorschriften geben, und der größte Teil ihrer Reden läuft auf göttliche und dämonische Einwirkung hinaus. Mir allerdings scheint es, daß ihre Reden nichts mit Frömmigkeit zu tun haben, wie sie meinen, sondern vielmehr mit Unfrömmigkeit, und daß sie auf der Voraussetzung beruhen, daß die Götter nicht existieren. Die Frömmigkeit aber und das Göttliche, wovon sie reden, ist unfromm und widergöttlich, wie ich jetzt zeigen werde.

Wenn sie nämlich behaupten, sie können den Mond vom Himmel herabziehen, die Sonne verfinstern, Sturm und gutes Wetter, Regen und Dürre hervorrufen, das Meer befahrbar und die Erde unfruchtbar machen und verständen sich auf alles andere dieser Art, mag dies nun nach ihrer Behauptung durch Weihen oder durch irgendeine andere Einsicht oder Übung geschehen können, so scheinen mir auf jeden Fall die, die solches betreiben, weder zu glauben, daß es Götter gibt, noch daß diese, wenn es sie gibt, Macht haben. Daher würden sie auch nicht vor dem schlimmsten Frevel aus Rücksicht gegen die Götter zurückschrecken, da diese ihnen keine Furcht einflößen. Denn wenn ein Mensch mit Zauberei und Opfern den Mond vom Himmel holen, die Sonne verfinstern und Sturm und gutes Wetter machen kann, so glaube ich nicht, daß etwas hiervon göttlich ist, sondern das ist Menschenwerk; wird hierbei doch die Kraft des Göttlichen von menschlicher Einsicht überwältigt und unterjocht.

Vielleicht ist es aber gar nicht so, sondern die Menschen ersinnen, weil sie doch etwas zu leben haben müssen, vielerlei und schmücken es aus, wie in anderen Fällen so besonders in Zusammenhang mit dieser Krankheit, und legen für jede Form des Leidens einem Gott die Schuld bei. Und zwar reden sie davon auf die verschiedenste Art und Weise. Wenn der Kranke nämlich wie eine Ziege schreit und mit der rechten Seite zuckt, dann sagen sie, die Göttermutter sei schuld; wenn er aber noch schriller und lauter schreit, vergleichen sie es mit dem Wiehern eines Pferdes und sagen, Poseidon sei schuld; wenn er dabei auch Kot abgehen läßt, was häufig bei den von dieser Krankheit Befallenen vorkommt, wird die Krankheit nach der Enodia genannt; ist der Kot dünner und geht häufiger ab, wie bei Vögeln, ist Apollon Nomios schuld; wenn der Kranke Schaum vor dem Mund hat und mit den Füßen um sich stößt, dann ist es Ares. Nächtliche Angstzustände, Schreck, Wahnvorstellungen, Aufspringen vom Lager, Flucht nach draußen nennen sie Anfälle der Hekate und Besessenheit von Heroen.

Und nun wenden sie Reinigungen und Besprechungen an und vollziehen, wie mir scheint, eine ganz unheilige und gottlose Handlung. Denn sie reinigen die von der Krankheit Befallenen mit Blut und anderen derartigen Mitteln, als ob sie eine Befleckung hätten oder voll bösen Geistern befallen oder von Menschen verzaubert wären oder etwas Böses getan hätten. Dabei sollte man das Gegenteil mit ihnen machen: man sollte opfern und beten, sie in die Heiligtümer tragen und zu den Göttern flehen. Aber man tut nichts dergleichen mit ihnen, sondern man reinigt sie, und einen Teil des Unreinen verbirgt man in der Erde, anderes wirft man ins Meer, wieder anderes trägt man fort in die Berge, wo niemand hinkommen und es berühren kann. Man sollte es aber in die Tempel bringen und dem Gott übergeben, wenn doch der Gott schuld ist. Ich allerdings glaube nicht, daß eines Menschen Leib von dem Gott befleckt wird, das Hinfälligste vom Reinsten. Vielmehr sollte der menschliche Leib, wenn er von etwas anderem befleckt oder irgendwie geschädigt ist, von der Gottheit entsühnt und gereinigt werden, statt daß er von ihr befleckt würde. Das Göttliche ist es doch, das die größten und ruchlosesten Verfehlungen entsühnt und reinigt und von uns abwäscht. Wir selbst setzen in Grenzen für die Tempel und heiligen Bezirke der Götter, daß keiner, der nicht rein ist, sie überschreitet, und wir treten ein und lassen uns reinigen, nicht als ob wir befleckt würden, sondern um, wenn wir vorher irgendeine Befleckung hatten, diese von uns abzutun. So, scheint es mir, verhält es sich mit den Entsühnungen.

Die Epilepsie entsteht durch Vererbung und ist an eine bestimmte Konstitution gebunden
Diese Krankheit aber ist nach meiner Ansicht in keiner Weise göttlicher als die übrigen, sondern sie ist in demselben Sinne göttlichen Ursprungs wie alle anderen Krankheiten und nicht weniger heilbar als sie, sofern sie nicht schon von langer Zeit her eingewurzelt ist, so daß sie stärker ist als die Arzneien, die man dem Kranken eingibt. Wie die anderen Krankheiten hat sie ihren Ursprung in der Vererbung. Denn wenn aus einem Menschen mit schleimiger Konstitution ein schleimiger Mensch und aus einem mit galliger Konstitution ein galliger entsteht, weiter aus einem Schwindsüchtigen ein Schwindsüchtiger und aus einem Milzsüchtigen ein Milzsüchtiger, warum sollte dann nicht einer der Nachkommen, dessen Vater oder Mutter von dieser Krankheit befallen war, auch von ihr befallen werden? Denn der Same kommt von allen Teilen des Körpers, von den gesunden gesunder und von den kranken kranker. Nun noch ein anderer wichtiger Beweis dafür, daß diese Krankheit in keiner Weise göttlicher ist als die übrigen: sie befällt die von Konstitution Schleimigen, die Galligen aber nicht. Wenn sie aber göttlicher ist als die anderen Krankheiten, müßte sie alle Konstitutionen in gleicher Weise befallen und keinen Unterschied zwischen Schleimigen und Galligen machen.
Aus: Hippokrates, Ausgewählte Schriften
Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Hans Diller . Mit einem bibliographischen Anhang von Karl-Heinz Leven
Reclams Universalbibliothek Nr. 9319 (S. 164-169)
© 1994 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags