Walter Hilton (etwa 1330 – 1396)
Englischer Eremit und Mystiker, der Theologie und wahrscheinlich kanonisches Recht studiert hatte. Um 1380 beendete er sein Einsiedlerdasein und trat als Augustinerchorherr ins Priorat Thurgarton in Nottinghamshire ein. Hilton gilt als Lehrer der Mystik, der das mystische Gotteserlebnis in Verbindung mit der christlichen Selbstüberwindung schildert. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Begriff der Beschauung, Weg zur Beschauung, Beschauung und Askese,
Christus der Weg,
Die Nacht der Seele
Begriff
der Beschauung
Du sollst wissen, daß es in der heiligen Kirche zwei Leben gibt, wie St.
Gregor sagt, wodurch Christen ihr Heil gewinnen mögen. Das eine heißt
das tätige, das andere das beschauliche. Ohne eines von diesen beiden kann
niemand selig werden.
Das tätige Leben besteht in der Liebe, die nach außen zutage tritt
in guten Werken, Erfüllung der Gebote Gottes und der sieben Werke der Barmherzigkeit,
der geistlichen wie der leiblichen, gegenüber den Mitchristen. Das beschauliche
Leben besteht in der Liebe, die man innerlich fühlt in geistigen Tugenden,
in wahrem Erkennen und Schauen Gottes und geistlicher Dinge.
Es gibt viele Menschen, die haben wahre Tugend, Demut, Geduld, Liebe zum Mitmenschen
nur im vernünftigen Denken und Wollen und haben nicht geistliche Trostempfindung
oder gefühlsmäßige Liebe dabei. Oft fühlen sie Widerwillen,
Beschwerde und Bitterkeit, sie zu betätigen, und üben sie doch in
der Tat, auf Geheiß der Vernunft und aus Gottesfurcht; kurz, sie haben
Tugend in Geist und Willen, ohne daß sie den Genuß gefühlsmäßiger
Liebe hätten. Erst wenn durch Jesu Gnade und unter dem Einfluß der
Übung in geistigem oder leiblichem Werke ihr Verstand in Licht und ihr
Wille in Liebe sich wandelt, haben sie auch die Tugend in ihrem Gemüte.
(Um es mit anderen Worten zu sagen): es sind zwei
Arten, wodurch sich das Gottesbild in der Seele
erneuert. Die eine besteht im Glauben allein, die andere
in der Verbindung von Glaube und Liebe. Die erste, das ist die Erneuerung durch
den Glauben, genügt zum ewigen Heil; die zweite erwirbt sich besonderen
Lohn im Himmel. Die erste ist leicht und schnell zu erlangen, die zweite
nicht so, sondern in langer Zeit und mit vieler geistiger Mühe. Die erste
bezeichnet die Anfänger und Fortschreitenden, Menschen des tätigen
Lebens, die zweite ist die Art der vollkommenen Seelen, der beschaulichen Menschen.
Es bedarf großer Fülle von Gnade und großer geistlicher Anstrengung,
daß eine Seele dazu gelange. Erst wenn sie geheilt ist von ihrer seelischen
Krankheit, wenn alle niederen Leidenschaften und fleischlichen Lüste und
alle Empfindungen des alten Menschen ausgebrannt sind aus dem Herzen durch feuriges
Verlangen und neue, gnadenvolle Empfindungen an deren Stelle getreten sind in
Glut der Liebe und geistlichem Licht: nähen sich die Seele der Vollkommenheit
und der Erneuerung des Gemütes.
Unser Herr Jesus ist es, der in erbarmungsreicher Güte diese Erneuerung
wirkt. Er öffnet die inneren Augen der Seele, indem er die Vernunft
durch Belehrung erleuchtet und sein gesegnetes Licht ausstrahlen läßt,
daß man ihn sieht und erkennt; nicht auf einmal, sondern nach und nach
zu verschiedenen Zeiten, sowie die Seele dessen empfänglich ist. Sie sieht
nicht, was er ist (denn dessen ist keine Kreatur imstande im Himmel und auf
Erden), noch sieht sie ihn, wie er ist (denn dieses Schauen
ist himmlische Seligkeit); aber sie sieht, daß er ist: ein
unwandelbares Sein, ein erhabenes Licht, erhabene Wahrheit, seliges Leben, endloses
Glück. In dieser inneren Anschauung und Erkenntnis Jesu, mit der
heiligen Liebe, die daraus entspringt, besteht die Erneuerung der Seele in Glaube
und Liebe, wovon ich rede. Es ist in Glauben, weil dunkel im Vergleich zur vollen
Erkenntnis, die einst im Himmel sein wird: denn dann werden wir sehen —
nicht nur, daß er ist, sondern auch »wie er
ist« (nach St. Johannes). Aber es ist auch in Fühlen, wenn
man es neben das blinde Erkennen hält, das eine Seele hat, die nur im Glauben
steht.
Das beschauliche Leben hat drei Teile.
Der erste besteht in der Erkenntnis Gottes und
geistlicher Dinge, erzeugt im Verstand durch Belehrung von Menschen und Studium
in der Heiligen Schrift, noch ohne geistliche Regung und inneren Wohlgeschmack,
der aus besonderer Gabe des Heiligen Geistes kommt. Dies ist der Anteil von
manchen Gottesgelehrten, die durch langes Studium in der Erkenntnis der Schrift
eine gewisse Fertigkeit erlangt haben.
Der zweite Teil der Beschauung besteht vor allem
in der Gemütsbewegung, die (als solche) des
Lichtes und des Verstehens geistlicher Dinge ermangelt, und solches begegnet
gewöhnlich bei einfachen, ungebildeten Seelen, die sich ganz der Frömmigkeit
widmen.
Der dritte und vollkommene Teil der Beschauung
liegt in der Verbindung von Erkenntnis und Liebe Gottes. Und dies ist der Fall,
wenn die Seele des Menschen durch Fülle der Tugend erneuert ist zu dem
Bilde Jesu, und dann durch göttliche Heimsuchung aller irdischen, sinnlichen
Anhänglichkeit, aller eitlen Gedanken und Bilder der leiblichen Kreatur
enthoben und gleichsam den leiblichen Sinnen entrückt, durch die Gnade
des Heiligen Geistes erleuchtet wird, daß sie die göttliche Wahrheit
und geistliche Dinge schauen mag, mit einer sanften, süßen Glut der
Liebe, so vollkommen, daß in der Entzückung der Liebe die Seele mir
Gott geeint und zum Bild der heiligsten Dreifaltigkeit umgestaltet wird. Die
volle Wirklichkeit dieser Gaben kann niemand haben, er sei denn zuvor erneuert
in Jesu Bild durch Fülle der Tugenden; und niemand, der noch im sterblichen
Fleische lebt, kann es in seiner überströmenden Fülle erleben,
es sei denn in Stunden, wo ihm die Heimsuchung wird.
Beachte jedoch, daß
Gesichte und Offenbarungen allerlei Art, sei es in körperhafter Gestalt
oder in innerer Vorstellung, sei es im Schlaf oder im Wachen oder irgendwelcher
Sinnesempfindung, so geistlich sie sein mag, sei es in Klang oder Geschmack
oder Geruch oder einer Art Wärme, die dir die Brust glühen macht,
oder überhaupt etwas, was mit leiblichen Sinnen empfangen wird, mag es
auch noch so schön und erwünscht sein — nicht wahre Beschauung
ist. So gut das alles sein mag, es ist etwas Nebensächliches im
Vergleich zu den geistigen Tugenden: zur geistigen Erkenntnis und Liebe Gottes.
Weg
zur Beschauung
Drei Mittel sind es vor allem, die den Menschen im allgemeinen zur Beschauung
dienlich sind: Lesung der Heiligen Schrift und heiliger Lehre, Betrachtung und
eifriges, andächtiges Gebet. Und drei Dinge müssen zuerst vorhanden
sein, auf denen du, wie auf sicherem Grunde, dein ganzes Werk gründen mußt:
Demut, fester Glaube und unbedingte Richtung auf Gott, ein ganzer Wille, der
nichts anderes will als Gott gefallen.
Das Gebet ist nützlich, um zur Reinheit des Herzens zu gelangen durch Ausrottung
der Sünde und Empfang der Tugenden. Obschon es nicht die Ursache ist, daß
Gott deshalb seine Gnade verleiht, so ist es doch ein Weg, auf dem die frei
geschenkte Gnade in eine Seele kommt.
Du sollst wissen, daß drei Arten des Betens
sind.
Das erste ist jenes mündliche, das in besonderem
Sinne von Gott ist, das Vaterunser, und was von der heiligen Kirche verordnet
ist: die Tagzeiten vom Morgen zum Abend, oder was fromme Menschen sonst an besonderen
Formeln zu unserem Herrn, zu Maria, zu den Heiligen eingeführt haben.
Die zweite Art des Gebetes ist ebenfalls mündlich,
aber nicht nach einer bestimmten Formel, sondern wenn man durch Gottes Gnade
die Regung der Andacht verspürt und in seiner Ergriffenheit des Gemütes
zu ihm redet wie zu einem, der leibhaft zugegen ist.
Die dritte Art ist im Herzen allein ohne Worte,
in großer Ruhe und Stille für Leib und Seele. Reinen Herzen vornehmlich
ist es gegeben, so zu beten. Denn sie haben durch lange Mühe leiblicher
wie auch geistiger Art einen inneren Frieden erlangt. und ihr Gemüt bar
solchen geistlichen Sinn bekommen, daß sie immerfort beten können
in ihrem Herzen und Gott loben und preisen ohne viel Störung durch Versuchung
und irdische Eitelkeiten.
Noch kurz etwas von Betrachtung, wie es mir recht scheint. Da sollst du wissen,
daß man sich nicht einer festen Regel verschreiben soll, an die man sich
bindet. Es handelt sich ja um freie Gaben unseres Herrn nach den mannigfachen
Verhältnissen der auserwählten Seelen und nach dem jeweiligen Stande,
in dem sich Menschen befinden. Zu Beginn der inneren Umkehr,
wo man es noch mit Welt und Sünde zu tun hat, gehen die Gedanken zumeist
um die Sünden mit großer Zerknirschung und Betrübnis des Herzens
und vielen Tränen, womit man in Demut und Eifer Gnade und Vergebung sucht
bei seinem Gott. Es ist Gott, der die Seele so zum Empfang
von besonderen Gnaden der Liebe bereiten will, indem er sie reinigt durch solches
Feuer der Zerknirschung für alle früheren Sünden. Nach
solchen Mühen und oft auch zu gleicher Zeit (auch solchen, die durch Gottes
Gnade in Unschuld verharrten) gibt unser Herr eine Betrachtung seiner Menschheit
(seiner Geburt, seines Leidens), verbunden mit
Mitleiden mit seiner heiligen Mutter. Wem solche Betrachtung gegeben ist durch
den Heiligen Geist, dem ist sie überaus heilsam und nützlich. Da fühlst
du in deinem Herzen eine solche Bewegung des Mitleids
oder der Teilnahme mit deinem Herrn, daß du in tiefer Trauer und vielen
Tränen mit aller Kraft der Seele und auch des Leibes von Staunen erfüllt
bist über die Güte und Liebe, Geduld und Demut des Herrn, da er für
einen so elenden Sünder, wie du bist, so große Pein ausgestanden.
Und du fühlst dabei eine solche Innigkeit und Gnade im Herrn, daß
dein Herz in Liebe und Freude in ihm erglüht unter süßen Tränen:
so groß ist deine Zuversicht, daß dir die Sünden vergeben sind
und deine Seele gerettet ist durch die Kraft seines heiligen Leidens. Mag solches
eine »fleischliche Liebe« heißen,
um mit St. Bernhard zu reden, sie ist gut und überaus wertvoll, um Sünde
in dir zu zerstören, und ein guter Weg, um zu Tugenden zu gelangen, und
danach auch zur Betrachtung der Gottheit. Denn man kann
nicht zu geistlicher Lust in der Beschauung der Gottheit gelangen, so man nicht
erst in seiner inneren Vorstellung durch die Bitterkeit und das Mitleiden und
das stete Gedenken an seine Menschheit hindurchgegangen.
Doch merke hier eines: Unser Herr gibt mancherlei Gaben, wo und wie es ihm gefällt,
nicht einem Menschen alles und nicht allen Menschen eines — außer
der Liebe, die allen gemein ist.
Wenn deshalb jemand eine Gnade von Gott empfangen, wie es die Andacht im Gebete
oder im Mitleiden mit Christus ist oder sonst irgend etwas, und wäre es
noch so unscheinbar —: gib es nicht schnell wieder auf für ein anderes,
es sei denn, du spürest wirklich ein Besseres! Halte fest, was du hast,
und gib dir ernstliche Mühe darin, wenngleich du nach Besserem wohl verlangst,
wenn Gott es dir geben will! Wenn es dir aber mählich entzogen wird und
du siehst ein Besseres und fühlst dich dazu gezogen, dann ist es wohl auch
der Ruf des Herrn, und dann ist es Zeit, daß du ihm nachgehst, um es zu
erlangen, so gut du vermagst.
Beschauung
und Askese
Nichts, was du tust, kann dich Gott ähnlich machen als Demut und Liebe;
die zwei sind Gottes eigenes Kleid. »Lernet von
mir«, sagt er, »denn ich bin sanft
und demütig von Herzen!« Lernet nicht, barfuß zu gehen
und in die Wüste zu pilgern. noch vierzig Tage zu fasten, noch Jünger
um euch zu sammeln, sondern lernt Demut von mir! Und von der Liebe sagt er,
daß es »sein« Gebot sei, daß wir einander liehen, wie
er uns geliebt; und daran wolle er seine Jünger erkennen, nicht an Wunderwerken
und Teu¬felsaustreibungen, nicht an Predigt und Lehre, sondern allein an
der Liebe zum Nächsten. So gibt auch im Himmel unser Herr seinen Auserwählten
einen zweifachen Lohn; der eine ist wesentlich und ist das erhabenste: seine
Liebe und Erkenntnis — sie wird bemessen nach der Liebe, die eine Seele
im sterblichen Leibe trug. Diese Liebe ist das höchste
Gut, denn sie ist Gott selber, und ist allen Seelen gemeinsam, die da das Heil
haben, in welchem Stand oder Grad auch immer sie in der Kirche gelebt haben
mögen; nur die Liebe ist Maß. Da kann es wohl sein, daß
manch weltlicher Mann oder Weib, Herr oder Dame, Ritter oder Junker, Kaufmann
oder Landmann mehr Lohn haben mag als Priester oder Mönch, Ordensmann oder
Domherr oder einge¬schlossener Einsiedler. Warum? Weil er Gott mehr liebt
durch Gottes Gabe. Der zweite Lohn aber ist unwesentlich im Vergleich zu diesem;
den gibt unser Herr für besondere Werke, die ein Mensch über das Gebot
hinaus tut. Dreier solcher Werke tun die Gottesgelehrten besonders Erwähnung:
Martertum, Apostolat und Jungfrauschaft. — Du lebst in der Einsamkeit;
aber es ist wohl mancher Mann und manches Weib in der Welt, die Gott näher
sind als du und ihn einst mehr besitzen werden in Liebe und Erkenntnis als du,
bei allem Unterschied des Standes. Willst du also gut fahren, so vergiß
deinen Stand, als wäre er gar nichts! Denn es ist Wahrheit: soweit es auf
dich ankommt, ist er nichts. Laß all deine Sehnsucht und all dein Bemühen
nur auf das eine gehen: Demut und Liebe, geistige Tugend! Denn daran ist alles
gelegen. Soviel als du Gott und deinen Bruder liebst und erkennst, soviel ist
deine Seele wert. Liebst du ihn wenig, so ist sie wenig, liebst du ihn gar nicht,
so ist sie gar nichts.
Die Askese besteht darin, daß an die Stelle des alten Sündenbildes
das Bild Gottes in deiner Seele tritt. Dort ist Sinnlichkeit, Lauheit, Unkeuschheit.
Diese niederen Begierden machen den Menschen tierhaft und lassen ihn nicht die
Liebe Gottes verkosten und versperren ihm die Anschauung geistiger Dinge. Darum
sollst du nicht nur die Tat in dieser Beziehung fliehen, die schwere Sünde
ist, und auch das freiwillige Verlangen in deinem Herzen (das oft läßliche,
gelegentlich aber auch schwere Sünde ist), sondern du sollst auch die Wurzel
derselben bekämpfen, die Empfindung und Lust der sinnlichen Regung.
Aber dieser Kampf muß in erster Linie geistig sein, durch Gebet und geistige
Tugendübung, nicht leiblich durch äußeres Bußwerk. Wenn
ein Mensch mit seinem geistigen Auge erkennt, wie häßlich vor Gott
und wie ihm entgegen Stolz und Begierde, so wird er solches vor allem verabscheuen,
und wird darum auch sich fürchten und ankämpfen gegen den bösen
Willen des Neides oder des Zornes über den Nächsten, mehr als gegen
die Regungen der Sinnlichkeit. Freilich denken nicht alle so; die Menschen sind
im allgemeinen empfindsamer gegen Regungen des Fleisches und haben über
solche Sünden mehr Trauer und Weh als wegen großer Leidenschaften
des Stolzes und anderer geistiger Sünden. Aber das ist nicht recht; denn
wenn sie die Heilige Schrift verstehen und die Aussprüche der Kirchenlehrer,
so werden sie finden, was ich sage. Befleißige dich der Demut und Liebe,
und so du dir recht darin Mühe geben willst, so wirst du genug zu tun haben!
Christus
der Weg
Das beste aber wird immer noch sein und das zweckmäßigste, wenn du
dein Herz auf eines zu lenken suchst, was ich dir jetzt sage: Das ist nichts
anderes als die Person unseres Herrn Jesus Christus, des
Gottmenschen. Ihn sollst du im Sinne haben, ihn vor Augen wie das innere
Licht deiner Seele, mit großer, ehrfürchtiger Scheu, ihm zu mißfallen,
und mit innigem Verlangen des Herzens, ihm zu gefallen, ihn zu lieben, zu erkennen,
zu schauen, ihn durch seine Gnade zu eigen zu haben — hier durch ein bißchen
geistlicher Empfindung und drüben durch Fülle des Seins. So du dieses
Verlangen, das Jesus Christus zum Grunde hat, im Herzen hast, wird es dich lehren,
was Sünde ist und was nicht, was gut und was besser ist. Willst du deshalb
gegen die Wurzel der Sünde im allgemeinen oder gegen eine insonderheit
aufkommen, so verlege dich recht auf dieses Verlangen in deinem Herzen und habe
mehr Jesus im Sinn, nach dem du verlangst, als die Sünde, die dir zuwider!
Handelst du so, so wird Jesus für dich kämpfen und Sünde in dir
zerstören! Er ist es, der dies Verlangen gibt. Er ist es, der selber in
dir verlangt und der zugleich der Verlangte ist. Er ist alles und wirkt alles,
wenn du nur auf ihn schauen willst. Du aber »tust« nichts, sondern
läßt ihn nur wirken in dir und gibst deine innere Zustimmung mit
großer Freude des Herzens, die er dir geschenkt, um solches in dir zu
wirken. Du bist nichts anderes als das vernünftige Werkzeug, wodurch er
sein Werk vollbringt. Wenn du also in deinem Innern fühlst, daß die
Berührung seiner Gnade dich emporträgt zum Verlangen nach ihm, mit
mächtiger Sehnsucht, ihm zu gefallen und ihn zu lieben, so denke, daß
Jesus es ist, den du hast! Er ist es ja, den du suchst. Schau ihn recht an:
Er geht vor dir her, nicht zwar in leiblicher Gestalt, aber unsichtbar durch
die verborgene Gegenwart seiner Kraft; und er wird
dich führen den rechten Weg nach Jerusalem, zur Schau des Friedens.
Es gibt manche Fromme, die benehmen sich so, als stünde die Liebe Gottes
in ihrer eigenen Macht: Sie zwingen sich mit großer Gewalt und keuchen
so heftig, daß sie in leibliches Glühen geraten, als wollten sie
Gott vom Himmel zu sich hernieder ziehen. Sie sprechen in ihrem Herzen und mit
dem Munde: »O Herr, ich liebe dich und ich will dich lieben und will für
deine Liebe den Tod erleiden!« und sie spüren dabei eine große
Eifersglut und starke Gnade. Gewiß, dies Werk ist gut, wie ich glaube
— wenn es mit Demut und Maß geübt wird. Aber die Seele, die
die rechte Gabe der Liebe hat durch ein gnadenvolles Hinschauen auf Jesus (oder
die wenigstens danach verlangt), die quält sich nicht über
ihre Kräfte, als käme es auf ihre leibliche Anstrengung an. Sie denkt
vielmehr, daß sie gar nichts ist und daß sie gar nichts aus sich
vermag, sondern gleichsam ein totes Ding ist, dessen Leben allein von der Gnade
Gottes kommen kann. Sie sieht, daß Jesus alles ist und alles wirkt, und
darum begehrt sie nichts als die Gabe seiner Liebe. Darum bittet sie und danach
verlangt sie, daß die Liebe Gottes ihre Seele berühre mit seinem
gesegneten Licht, auf daß sie ein wenig erschaue von ihm durch die Kraft
seiner gnadenreichcn Gegenwart: dann kann sie ihn lieben. Und so kommt die Gabe
der liebe, das ist Gott, in die Seele.
Da sind manche, die auf dem gewöhnlichen Weg der Liebe voranschreiten und
alle Tage sich mühen und gegen die Sünde im Kampfe liegen, um zur
Tugend zu gelangen. Oft sind sie oben, oft sind sie unten, wie Ringkämpfer
tun. Es ist gut so. Sie haben Tugend im Denken und Willen — aber nicht
im inneren Fühlen und nicht in der Liebe; denn sie kämpfen, als sei
es an ihrer Kraft gelegen. Und darum können sie nicht zur Ruhe gelangen
und nicht völlig siegen. Freilich werden sie großen Lohn erhalten,
aber es fehlt ihnen noch an rechter Demut. Sie haben sich noch nicht völlig
in Gottes Hand gelegt; denn sie sehen ihn noch nicht. Die Seele aber, die die
geistige Anschauung Jesu hat, plagt sich nicht so im Kampf um die Tugenden und
richtet nicht darauf in erster Linie ihr Augenmerk. Sie trachtet vielmehr danach,
daß sie die innere Anschauung Jesu bewahre,
die sie besitzt, und ihn immer vor Augen habe und ihre Liebe recht an ihn binde,
daß sie nicht davon abgehe; und alles andere mag sie darüber vergessen,
soweit es möglich. Dann ist Jesus der Meister und Herr in der Seele gegen
alle Sünde und drängt sie in den Schatten mit seiner gesegneten Gegenwart
und bringt alle Tugend zum Wachsen; und die Seele ist so gestärkt und neu
geboren durch das süße Gefühl der Liebe, das sie von ihrer inneren
Anschauung hat, daß sie äußerlich nicht großen Aufwand
macht. Liebe schlägt alle Sünden nieder in einer Seele und macht sie
wie neu in neuem Empfinden der Tugend.
Die
Nacht der Seele
»Wer Gott liebt, weilet im Licht.«
Wenn ein Mensch die Liebe dieser Welt als trügerisch erkennt und sich deshalb
von ihr abwendet und Gottes Liebe sucht, so wird er nicht auf einmal ihre Seligkeit
erfahren, sondern muß eine Weile im Dunkeln tasten, da er nicht plötzlich
vom einen Licht zum andern, von der Weltliebe zur Gottesliebe übergehen
kann. Und wie die Nacht dunkel ist und die körperhafte Kreatur verhüllt
und das äußere Schaffen zur Ruhe führt, so verhüllt sich
einem Menschen, der Jesus in sein Denken nimmt und ihn allein lieben will, der
Anblick der eitlen Dinge und sein Begehren wird stille gegenüber allem
Körperhaften. Es ist wie eine Nacht in ihm; denn er lebt in einem Dunkel.
Aber wie gut ist diese Nacht und wie lichtvoll dieses
Dunkel! Denn sie verscheucht die falsche Liebe dieser Welt und ist ein
Anbrechen des wahren Tages. Und wahrlich, je tiefer die Nacht, um so wahrer
der Tag der Liebe zu Jesus. Das meint der Prophet, da er sagt: »So
ich sitze in Finsternis, ist der Herr mein Licht«, wenn meine Seele
den Regungen der Sünde entschlummert ist, gleichsam
in mystischem Schlafe, dann ist der Herr mein Licht; dann nahet er mir mit seiner
Gnade, mir zu zeigen von seinem Lichte. Wohl kostet es Schmerzen, solange
der Mensch noch unrein und noch nicht gewohnt ist an diese Dunkelheit der Gnade,
die nicht sogleich in Fülle kommt. Doch, wenn du auch solches spürst,
nimm es nicht zu schwer und übermüde dich nicht, als wolltest du durch
die eigene Leistung die Welt vollends ausräumen aus deinem Sinn! Nicht
so; harre der Gnade, sei nur geduldig, brich dich nicht, und halte mit klugem
Bedacht deine Sehnsucht und den Blick deiner Seele auf Jesus gerichtet, als
hättest du nichts mit jenem andern zu schaffen! Mache es oft so, und nach
und nach wird es durch das innere Empfinden der Gnade dir leichter werden, und
du wirst zu immer größerer Ruhe gelangen.
Dieses Absterben der Welt, diese Nacht der Seele, ist
die Pforte der Beschauung und der Neugestaltung des inneren Menschen, und nichts
anderes als dieses. Es mögen mancherlei Wege sein und verschiedene
Übungen, die den vielen behilflich sind zum Ziel der Beschauung. Aber nach
all den verschiedenen Arten, sich zu bereiten, von seiten des Menschen und nach
den verschiedenen Ständen in Orden und Welt mit ihren verschiede¬nen
Weisen — schließlich gibt es nur eine Pforte: Sterben
der Welt, geistliche Nacht. »Ihr seid gestorben
und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott.« Dann wird unser
Herr Jesus Christus deine Seele mit seinem Lichtschein füllen und all ihre
Kräfte.
So öffnet denn Liebe die geistigen Augen der Seele
im Schauen auf Jesus durch seiner Gnade inneren Hauch und macht sie rein und
fein und empfänglich für das Werk der Beschauung. Was dieses Auftun
der inneren Augen sei: kein Gottesgelehrter auf Erden kann es ausdenken mit
seinem Witz und sagen mit seiner Zunge. Es ist jene lichtvolle
Finsternis, jenes reiche Nichts, davon ich rede, und möchtest du
es umschreiben, so nenne es:
Reinheit des Geistes, geistliche Ruhe, innere Stille,
Friede des Gemüts, Höhe des Gedankens, Feinheit der Seele, lebendiges
Gefühl der Gnade, Bewußtsein des Herzens, wachenden Schlummer der
Braut und Kosten himmlischer Süße, Glut der Liebe, Schimmer des Lichts,
Eintritt der Beschauung, Neuwerden des Gefühls.
Oft hat es den Anschein, daß eine Seele im Anfang des geistlichen Lebens
mehr inniges Fühlen der Gottesliebe habe als eine andere, die zur Gabe
der vollkommenen Beschauung gelangt ist. Denn ihre Andacht tritt mehr nach außen
hervor in bemerkbaren Zeichen infolge des großen Eifers: in Tränen,
Gebeten in kniender Haltung, in Worten und anderen leiblichen Gebärden
und Regungen; und manchem mag es scheinen, daß solche in Liebe förmlich
verzückt seien. Und doch ist meine Meinung, daß dem nicht so sei.
Gewiß, es sind Gaben der Gnade, erwählten Seelen von Gott verliehen,
um sie von Weltliebe und Sinneslust abzuziehen, die lange Zeit in ihnen Wurzel
geschlagen, und es mag sein, daß sie nicht anders davon befreit werden
können als durch solche fühlbaren Regungen des Eifers und glühender
Andacht. Und doch sind die starken Bewegungen des Trostes nicht nur von großer
Liebesgewalt, die sie haben, sondern auch von der Kleinheit und Schwäche
ihrer Seelen, die auch ein leises Berühren Gottes
nicht aushalten können. Es ist wie mit einem
alten Faß, wenn man neuen, starken Wein hineingießt: es dehnt sich
und schwillt, als müßte es bersten, bis allmählich der Wein
alles Unreine geläutert und ausgegoren hat. Sobald er klar und fein geworden,
ist alles still. So wird auch die Liebe klar und still, wenn die Gärung
vorüber. Seele und Leib sind ruhig geworden. Aber die Liebe, obschon sie
nach außen sich stiller gebärdet, ist unvergleichlich stärker
als zuvor. Sie ist jetzt ganz innen in kraftvoller Ruhe, und nur ein leichtes
Glühen schimmert nach außen durch. S.471ff.
Aus: Die große Glut, Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto
Karrer, Verlag Ars sacra Josef Müller, München