Hildegard von Bingen (1098 - 1179)

 

Erste deutsche Mystikerin, die Benediktinerin war.. Hildegards visionäres Talent meldete sich in dem schwachen und kränklichen Kind bereits im 5. Lebensjahr zu Wort. Im Alter zwischen acht und neun begann ihre Ausbildung bei der Klausnerin Jutta von Sponheim (1090-1136), deren Klause sich nahe der Benediktiner-Abtei Disibodenberg bei Kreuznach befand. Aus der Klause entstand eine Nonnengemeinschaft, die nach Juttas Tod zunächst von Hildegard geleitet wurde. 1147/1150 löste Hildegard die Zugehörigkeit zur Abtei Disibodental und gründete auf dem Rupertsberg ein eigenständiges Benediktinerinnenkloster. In ihrem dreiundvierzigsten Jahr befahl ihr eine »himmlische Stimme« aus einem »sehr großen Glanz« ihr visionären Erlebnisse niederzuschreiben. Hildegard wirkte mit ihren mystischen, prophetisch gehaltenen Schriften (insbesondere »Sci vias« = »Wisse die Wege«) ihrem Briefwechsel und auf Reisen für die Reform des kirchlichen Lebens in Deutschland. Sie verfasste eine Naturbeschreibung, die auch Volksheilmittel und Behandlungsmethoden beschreibt. - Heilige (Tag: 17.9.)

Siehe Wikipedia , Kirchenlexikon und Heiligenlexikon

 

Inhaltsverzeichnis
Berufungsvision
Der Menschensohn
Die Kirche ist die Braut Christi
Schau der Trinität; Rettung des Menschen aus Liebe
Hildegards Demut und der Lichtkreis göttlicher Macht

1 Berufungsvision
Und siehe! Im dreiundvierzigsten Jahre meines Lebenslaufes schaute ich ein himmlisches Gesicht. Zitternd und mit großer Furcht spannte sich ihm mein Geist entgegen.

Ich sah einen sehr großen Glanz. Eine himmlische Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir: »Gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst! Doch weil du schüchtern bist zum Reden, einfältig zur Auslegung und ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sage und beschreibe es nicht nach der Redeweise der Menschen, nicht nach der Erkenntnis menschlicher Erfindung noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der Gabe heraus, die dir in himmlischen Gesichten zuteil wird: wie du es in den Wundern Gottes siehst und hörst. So tu es kund wie der Zuhörer, der die Worte seines Meisters erlauscht und sie ganz, wie der Meister es meint und will, wie er es zeigt und vorschreibt, weitergibt. So tu auch du, o Mensch! Sage, was du siehst und hörst, und schreibe es, nicht wie es dir noch irgendeinem andern Menschen gefällt, sondern schreibe es nach dem Willen dessen, der alles weiß, alles sieht, alles ordnet in den verborgenen Tiefen seiner geheimen Ratschlüsse.«

Und wieder hörte ich die Stimme vom Himmel zu mir sagen; »So tue denn diese Wunder kund! Und schreibe sie, also belehrt, und sprich;
Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, des Gottessohnes, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht brannte sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen legt. Nun erschloß sich mir plötzlich der Sinn der Schriften, des Psalters, des Evangeliums und der übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testamentes. Doch den Wortsinn ihrer Texte, die Regeln der Silbenteilung und der [grammatischen] Fälle und Zeiten erlernte ich dadurch nicht.

Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Gesichte erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Innern seit meinem Kindesalter, das heißt, seit meinem fünften Lebensjahre, so wie auch heute noch. Doch tat ich es keinem Menschen kund, außer einigen wenigen, die wie ich im Ordensstande lebten. Ich deckte alles mit Schweigen zu bis zu der Zeit, da Gott es durch seine Gnade offenbaren wollte.

Die Gesichte, die ich schaue, empfange ich nicht in traumhaften Zuständen, nicht im Schlafe oder in Geistesgestörtheit, nicht mit den Augen des Körpers oder den Ohren des äußeren Menschen und nicht an abgelegenen Orten, sondern wachend, besonnen und mit klarem Geiste, mit den Augen und Ohren des inneren Menschen, an allgemein zugänglichen Orten, so wie Gott es will. Wie das geschieht, ist für den mir Fleisch umkleideten Menschen schwer zu verstehen.

Als ich die Mädchenjahre überschritten hatte und zu dem erwähnten gereiften Alter gekommen war, hörte ich eine Stimme vom Himmel sagen: »Ich bin das lebendige Licht, das alles Dunkel durchleuchtet. Den Menschen, den ich erwählt‘ und den ich, wie es mir gefiel, machtvoll erschüttert habe, stellte ich in große Wunder hinein, mehr noch als die Menschen der alten Zeiten, die viele Geheimnisse in mir schauten. Doch warf ich ihn zur Erde nieder, damit er sich nicht in Geistesaufgeblasenheit erhebe. Die Welt hatte keine Freude und kein Ergötzen an ihm und fand ihn ungeschickt für weltliche Geschäfte, denn ich habe ihn von trotziger Verwegenheit befreit. Furcht erfüllt ihn, und er zittert in seinen Mühen. Er leidet Schmerzen in seinem Marke und in den Adern seines Fleisches. Sinn und Gefühl sind ihm beengt, und schweres Leiden duldet er in seinem Körper, so daß keine Sicherheit in ihm wohnt, er sich vielmehr in allem als schuldig erachtet. Die Ritzen seines Herzens habe ich umzäunt, damit sein Geist sich nicht in Stolz und Ehrsucht erhebe, sondern aus all dem mehr Furcht und Schmerz als Freude und Lust schöpfe.

So sann er denn aus Liebe zu mir in seiner Seele nach, wo er den fände, der ihm helfend entgegenkomme. Und er fand einen und liebte ihn in der Erkenntnis, daß er ein treuer Mensch sei, der gleich ihm sich um den Auftrag Gottes mühe. Und er hielt ihn fest. Gemeinsam arbeiteten sie im hochstrebenden Eifer, meine verborgenen Wunder kundzutun.

Er aber [der von mir Erwählte] erhob sich nicht über sich selbst, sondern neigte sich in der Selbsterhöhung der Demut und in der Zielstrebigkeit guten Wollens seufzend dem zu, den er gefunden.

Du also, o Mensch, der du all dies nicht in der Unruhe der Täuschung, sondern in der Reinheit der Einfalt empfängst, hast den Auftrag, das Verborgene zu offenbaren.

Schreibe, was du siehst und hörst!«

All dieses sah und hörte ich, und dennoch — ich weigerte mich zu schreiben. Nicht aus Hartnäckigkeit, sondern aus dem Empfinden meiner Unfähigkeit, wegen der Zweifelsucht, des Achselzuckens und des mannigfachen Geredes der Menschen, bis Gottes Geißel mich auf das Krankenlager warf. Da endlich legte ich, bezwungen durch die vielen Leiden, Hand ans Schreiben. Ein adeliges Mädchen von guten Sitten und der Mann, den ich, wie oben gesagt, heimlich gesucht und gefunden hatte, waren meine Zeugen. Als ich nun zu schreiben begann und alsbald, wie anfangs berichtet, die Gabe tiefsinnender Schriftauslegung in mir wirksam fühlte, kam ich wieder zu Kräften und stand von meiner Krankheit auf. Nur mit Mühe brachte ich in zehn Jahren dieses Werk zustande und vollendete es.

In den Tagen des Erzbischofes Heinrich von Mainz, des Römischen Königs Konrad und des Abtes Kuno von Disibodenberg, unter dem Papste Eugenius sind diese Gesichte und Worte an mich ergangen. Und ich sagte und schrieb dies nicht nach der Erfindung meines Herzens oder irgendeines Menschen, sondern wie ich es in Himmelskundgebungen sah, hörte und empfing durch die verborgenen Geheimnisse Gottes.
Und wiederum hörte ich die Stimme vom Himmel. Sie sprach:
»So rufe denn und schreibe also:«

2 Der Menschensohn
Und danach sah ich am höchsten Punkte des Ostwinkels im Gebäude, wo die beiden Mauerteile, die leuchtende und die steinerne Mauer, zusammenstießen, sieben blendendweiße Marmorstufen. Sie schlossen sich schilddachartig an jenen großen Stein, über dem, auf dem Throne sitzend, der früher erwähnte Leuchtende erschien. Ein Sitz war auf diesen Stufen errichtet. Darauf saß ein jugendlicher Mann. Sein Antlitz war männlich, edel, aber bleich. Schattenhaft schwarzes Haar wallte bis auf seine Schultern herab, und eine purpurne Tunika umkleidete ihn. Er wurde mir vom Haupte bis zur Mitte des Leibes sichtbar. Ein Schatten entzog den unteren Teil meinen Blicken. Dieser Mann schaute in die Welt und rief den Menschen, die darin waren, mit mächtiger Stimme zu:

»Ihr törichten Menschen, ihr welket dahin in Lauheit und Schande. Nicht ein Auge wollet ihr öffnen, um zu sehen, was ihr in der Vorzüglichkeit eures Geistes seid, sondern immerdar brennet ihr, das Böse zu tun, nach dem die Begier eures Fleisches geht. Ein gutes Gewissen und den rechten Geistesblick verschmäht ihr, als wenn ihr die Erkenntnis des Guten und Bösen nicht hättet, noch die Ehre, daß ihr das Böse zu meiden und das Gute zu vollbringen wisset. Höret mich, den Menschensohn, der ich zu euch spreche:

O Mensch, sieh zu, was du warst, als du noch ungestaltet im Schoße deiner Mutter lagst. Ohne Bewußtsein und Kraft warst du, als du das Leben empfingest. Doch da wurde dir Geist und Bewegung und Empfindsamkeit gegeben, auf daß du lebendig dich regtest und durch die Regung [deiner Kräfte] nutzbarer Frucht innewürdest. Die Erkenntnis des Guten und Bösen und die Fähigkeit zu wirken wurde dir zuteil. Du kannst dich also nicht entschuldigen, als besäßest du nicht die Fülle aller Güter. Darum, wenn die Eingebung von oben dich ermuntert, so liebe Gott in Wahrheit und Gerechtigkeit, und widerstehe dir selbst in dem Begehren und der Ergötzung der Ungerechtigkeit. Du sollst dich selber kreuzigen und so mein Leiden verehren. Denn wenn du in diesen Gluten wider dich selber streitest, trägst du mein Kreuz an deinem Leibe, da du die unerlaubten Begierden fliehst, obgleich das Sündigen dich ergötzt.

Und woher kommt dir die so große Macht, das Böse zu meiden und das Gute zu tun? Von der Erkenntnis des Guten und Bösen, kraft deren du einsiehst, daß du ein Mensch und mir verantwortlich bist. Aber du verachtest das Gute und vollbringst das Böse, in Fleischesbegierden brennend. Denn das Gute dünkt dich schwer, das Böse aber regt sich leicht in dir. Und weil das so ist, willst du dich nicht in Zucht nehmen, sondern möchtest frei sündigen. Was habe ich getan, als ich am Kreuze in Fleischesschwachheit litt, als ich erbebte und geängstigt war, ich, der Menschensohn? Darum fordere ich von dir — ich fordere es wider dich — das Martyrium, das du durch die Lust deines Fleisches erduldest und durch die anderen Leidenschaften und unerlaubten Begierden, die meinem Willen zuwider sind, und durch Versuchungen, die daraus entspringen. Du kannst dich nicht entschuldigen, als wenn du es nicht wüßtest, wann du das Gute und wann du das Böse tust. Nicht verwerfe ich das Band der keuschen gesetzlichen Verbindung, die nach göttlichem Ratschluß zur vervielfältigenden Zeugung der Söhne Adams eingesetzt ist. Sie soll in wahrem Verlangen nach Nachkommenschaft und nicht in trügerischer Fleischeslust von denen vollzogen werden, denen es ohne Unrecht erlaubt ist, wie es ihnen das göttliche Gesetz gebietet [...].

Du sollst das Gute, das du von mir hast, wider dich selbst lieben. Himmlisch bist du dem Geiste, irdisch dem Fleische nach. Also mußt du das, was himmlisch ist, lieben und das, was irdisch ist, niedertreten. Wirkst du das Himmlische, so werde ich dir den ewigen Lohn reichen. Willst du aber im Willen deines Fleisches Frevelhaftes vollbringen, so zeige ich dir mein Leiden und die Pein, die ich um deinetwillen ertragen habe, damit du aus Liebe zu meinen Schmerzen dir selbst in deinen rebellischen Begierden widerstehest. Viel Erkenntnis hast du in dir, viel Verständnis wird deshalb von dir gefordert werden. Großes hast du empfangen, Großes muß von dir zurückverlangt werden.

Aber in all diesem hin ich dein Haupt und deine Hilfe. Denn wenn du, vom himmlischen Anstoß berührt, zu mir rufst, wirst du Antwort von mir vernehmen. Wenn du an die Pforte klopfest, wird dir aufgetan werden. In dem Geiste durchdringender Erkenntnis, der dich durchströmt, hast du alles in dir, was dir von Nutzen ist. Und weil dies in dir ist, darum werden meine Augen mit schärfstem Blicke zuschauen, was sie in dir finden. Von deinem Gewissen fordere ich die Wunden und den Schmerz deines Herzens, mit denen du dir Gewalt antun sollst, wenn du dich mit deinem Willen zur Sünde hingezogen fühlst, und solche Glut in dir entbrennt, daß du ganz aufgelöst, kaum zu atmen vermagst. Siehe, dann schaue ich auf dich. Und du? Was sollst du tun? Wenn du in diesem Mühen mit verwundetem Herzen und tränenfeuchten Augen, von der Furcht vor meinem Gerichte erschüttert, mich anrufst, und wenn du in diesem Rufen verharrst, daß ich dir zu Hilfe eilen möge wider die Verkehrtheit deines Fleisches und wider die Kämpfe der bösen Geister, dann werde ich alles tun, was du begehrst, und meine Wohnstätte werde ich in dir aufschlagen.

Nun also, mein Sohn, siehe zu, mit wieviel Mühe und Schweiß auf dem Felde gearbeitet wird, bevor man den Samen hineinsenkt. Aber wenn die Aussaat geschehen ist, bringt der Acker seine Frucht. Beachte und erwäge es. Verweigere ich nicht der Erde, ohne den Schweiß der Arbeit Frucht zu tragen? Wenn es mir gefällt, wird sie mit Frucht so überströmend erfüllt, daß die Menschen reiches, überreiches Genügen haben. Und ein anderes Mal, wenn ich es so will, ist der Ertrag so kärglich, daß die Menschen vor Hunger fast nicht leben können oder manchmal sogar der Schwäche erliegen. So ist es nach meiner Anordnung um die Menschen bestellt. Dem, der willig und guten Herzens den Samen meines Wortes aufnimmt, verleihe ich als gutem Acker die großen Gaben des Heiligen Geistes in reichlicher Fülle. Der aber, der bald sich meinem Worte öffnet, bald ihm die Aufnahme verweigert, ist wie ein Acker, der einmal grünt und das andere Mal brachliegt. Doch wird ein solcher Mensch nicht ganz verlorengehen, weil er etwas grünende Lebenskraft in sich hat, wenn er auch in seiner Seele Hunger leidet. Aber sterben, ganz und gar, wird der, dem jede Bereitschaft für meine Ermahnung fehlt, der weder durch die Anregung des Heiligen Geistes noch durch die Belehrung der Menschen sein Herz zum Guten erwecken will. Darüber wunderst du dich, o Mensch, und willst wissen, warum dies so geschieht. Aber wie du mit sterblichem Blick die Gottheit nicht anzuschauen vermagst, so kannst du auch ihre Geheimnisse nicht mit sterblichem Sinn erfassen, oder nur insoweit, als es dir durch Gottes Zulassung möglich ist.

Du aber verweilst mit zweifelnder Seele bald hier, bald dort. Wie die Glut des brennenden Herdfeuers das Wasser auflöst, so wird die Unruhe deiner törichten Seele deinen Geist zernichten, weil du Dinge zu wissen begehrst, deren Erkenntnis dem menschlichen, in Sünde empfangenen Fleische vorenthalten ist. Hebe doch deinen Finger und berühre die Wolken! Was dann? Du kannst es nicht. So auch das nicht, daß du erfassest, was du nicht wissen sollst. Die Gräslein können den Acker nicht begreifen, aus dem sie sprießen. Denn sie haben nicht Sinn und Verstand und kennen weder ihr eigenes Wesen noch die Wirkung ihres Samens. Und doch umgeben sie den Acker mit der Anmut der Fruchtbarkeit. Mücke und Ameise und die übrigen kleineren Tiere verlangen nicht, über ihresgleichen zu herrschen oder Kraft und Sinn des Löwen und der anderen großen Tiere zu verstehen. Wieviel weniger kannst du erkennen, was im Wissen Gottes ist! Was hast du getan, oder wo warst du, als Himmel und Erde erschaffen wurden? Der sie geschaffen hat, bedurfte dabei deiner Hilfe nicht. So auch jetzt. Was erforschest du das Gericht Gottes? Wenn dich der heilbringende Regen vom Himmel berührt, so zeige mir, wie du auf dem Acker deines Herzens arbeitest, und wie du ihn bebaust! Gefällt mir deine Arbeit, so gebe ich dir die beste Frucht, und deiner Mühe wird der Lohn der Fruchtbarkeit entsprechen. Gewähre ich der Erde Frucht ohne Mühe? So auch dir, o Mensch, nicht ohne Schweiß. Ihn fordere ich von dir. Denn durch mich hast du in dir, wodurch du arbeiten kannst. Übe dich daher sorgsam in der Arbeit, und du wirst Frucht erzielen. Und wenn du Frucht bringst, wirst du den Lohn davontragen.

Viele suchen mich mit hingegebenem, reinem und einfältigem Herzen und halten mich fest, wenn sie mich gefunden haben. Viele aber wollen ihr Spiel mit mir treiben. Ohne Anstrengung der Seele und des Denkens wollen sie an mich herantreten. Sie überlegen nicht, daß sie mich zuerst anrufen und das Sinnen ihres Leibes erwägen sollten. Sie wollen mich nur in Besitz nehmen. Wie ein aus schwerem Schlafe Erwachender stürzen sie sich in der plötzlichen Aufwallung des Truges und der Täuschung auf den Weg der Heiligkeit, so wie sie ihn sich selber ausdenken. Sie nehmen mein Joch auf sich, die einen durch die Abschüttelung weltlicher Geschäfte, die andern durch Enthaltsamkeit im Fleische, wieder andere durch züchtige Jungfräulichkeit. Sie bilden sich ein, alles zu können, was sie vorhaben.

Sie wollen nicht zusehen, wer und was sie sind, oder was sie leisten können, noch sich zum Bewußtsein bringen, wer sie gebildet hat und wer ihr Gott ist. Gott soll ihr Diener sein, der all ihr Begehren ausführen muß. Solcher Anmaßung gebe ich meine Gnade nicht. Ich will nicht einen leeren Acker besäen in einem Menschen, der in solch eitlem Beginnen sich mit mir vereinigen will, als wenn er wie ein Fremdling mich nicht kännte. Sein Fuß wird häufig straucheln. Einem solchen sage ich: O Mensch, warum hast du nicht den Acker deiner Seele besichtigt und die unnützen Kräuter, Dornen und Disteln ausgerissen? Mich hättest du anrufen und über dich selbst nachdenken sollen, bevor du, ohne Selbsterkenntnis, wie ein Trunkener und Wahnsinniger zu mir kamst, denn kein Werk des Lichtes vermagst du ohne meine Hilfe zu vollbringen. Wenn du mich so in Überstürzung, gleichsam im Schlafe, gesucht hast, wird Überdruß in meinem Dienste dich erfassen. Du wirst dich des früheren Schlafes erinnern, in dem du in deinen Gewohnheitssünden darniederlagst, und ungeheilt, des Guten unkundig, ohne Hilfe und Tröstung des Heiligen Geistes zu deinen alten Freveln zurückkehren. Und wen hattest du dir dabei zum Führer und Helfer gesucht? Deine eigene lug- und trugvolle Seele, die dich töricht in die Trockenheit führte, ohne die grünende Lebensfrische und die Beherzigung der Selbsterkenntnis. Vergessen hatte sie, daß du nichts Gutes ohne mich tun kannst. Und was hast du dann? Wahrhaftig! Elend und leer wirst du stürzen vor mir und vor allem Volke. Wie unnützer Staub wirst du zertreten. Denn was ist dir möglich wider mich? Nichts. Aber was vermagst du mit mir? Die lichtesten Werke, die da heller glänzen als der Glanz der Sonne und süßer sind als Honig und Milch für den, der danach verlangt. Denn wenn du mich mit dem innersten Erkennen deiner Seele suchst, wie du in der Taufe durch den Glauben belehrt worden bist, tue ich dir dann nicht alles, was du begehrst?

Doch suchen mich viele nach ihrem Fall mit Seufzen und Schmerzen, die mich hätten suchen sollen, ehe sie fielen. Ihnen reiche ich die Hand und sage: Warum hast du mich nicht vor dem Fall gesucht? Wo war ich? Und wann habt ihr nach mir gesucht? Habe ich euch etwa zurückgestoßen, da ihr mich suchtet? Und ich sage: O Mensch, wenn du an der Brücke eines tiefen Gewässers ständest und aus törichter Aufgeblasenheit, dich selbst vergessend [...], stolz in deinem Innern sprächest: >Ich will an der Brücke vorbei und übers Wasser gehen<, wäre das klug gehandelt? Und wenn du wirklich in Anmaßung und Torheit so tätest, würdest du dann nicht in demselben Geschöpf, das dir unterworfen und zu deinem Nutzen erschaffen ist, deinen Geist aushauchen? Aber davor hütest du dich aus augenblicklicher, spürbarer Furcht vor dem Wasser. Oder wenn du einen sehr großen, umgehauenen Baum stürzen sähest, würdest du nicht fliehen, um nicht zermalmt zu werden? Wenn du Löwen oder Bären dir entgegenkommen sähest, würdest du nicht, von Schrecken gepackt, in die Erde kriechen, wenn du könntest? Die Verletzung des Körpers fliehst du. Warum vermeidest du nicht in der Furcht vor deinem Schöpfer den entsetzlichen ewigen Tod der Seele? Hast du jemals gesehen oder gehört, daß einer mir widerstehen konnte? Wer nicht mit mir ist, wird aufgelöst, und auf wen ich falle, den zerschmettere ich. Was warst du, als Himmel und Erde erschaffen wurden? Diese lassen ihre Kräfte nach dem ihnen eingesenkten Gesetze wirken. Du aber, der du nach dem Ratschlusse Gottes gebildet und von seiner Erleuchtung berührt bist, du übertrittst seine Gebote. O großer Wahn! Wegen des Geschöpfes, das dir unterworfen ist, verschmähst du deinen Gott. Du springst hinweg über Erde und Himmel, die deinen Schöpfer fürchten und ihm gehorchen. [...] Du kennst ihn nicht und willst ihn nicht kennen. Darum wird dich, wenn du nicht Buße tust, die Hölle in gerechtem Gerichte verschlingen wie den, den du nachahmst. Wegen seiner Verhärtung wurde er aus dem Himmel verstoßen.

Trotz allem aber: wenn du gefallen bist, so suche mich in gläubigem Hilferuf, und ich werde dich aufrichten und emporziehen [...].«

3 Die Kirche ist die Braut Christi
Und danach sah ich, daß die bisher geschaute Frauengestalt wie ein Lichtglanz urschnell aus dem ewigen Ratschluß hervortrat — während der Sohn Gottes am Kreuze hing — und ihm durch göttliche Macht zugeführt wurde. Überströmt von seinem Blute, das hoch aufsprudelnd aus seiner Seite floß, wurde sie ihm durch den Willen des himmlischen Vaters in seliger Vermählung angetraut und empfing als kostbare Hochzeitsgabe sein Fleisch und Blut.

Und ich hörte, wie die Stimme vom Himmel zu ihm sprach: »Diese, mein Sohn, sei dir Braut zur Wiederherstellung meines Volkes! Sie soll ihm Mutter sein. Den Seelen schenke sie das Leben durch die erlösende Wiedergeburt aus dem Geiste und dem Wasser.« Da erstarkte die Gestalt zur Fülle ihrer Kräfte, und nun erschien eine Art Altar, zu dem sie häufig hinzutrat. Immer wieder schaute sie mit tiefer Ehrfurcht auf ihre Brautgabe und zeigte sie in Demut dem himmlischen Vater und seinen Engeln. Da sah ich, als nun ein Priester, mit den heiligen Gewändern bekleidet, zur Feier der göttlichen Geheimnisse an den Altar trat, wie plötzlich heller Lichtglanz vom Himmel kam. Engel folgten ihm, und das Licht umflutete den Altar. Das blieb so, bis sich nach Vollendung des heiligen Opfers der Priester entfernte. Nachdem das Evangelium des Friedens verlesen und die Opfergabe für die Konsekration auf dem Altar bereitgelegt war, sang der Priester den Lobpreis des allmächtigen Gottes: »Sanctus, sanctus, sanctus, Dominus, Deus Sahaoth!« und begann das unaussprechliche Mysterium. In diesem Augenblick öffnete sich der Himmel. Ein feuriges Blitzen von unbeschreiblich lichter Klarheit fiel auf die Opfergaben nieder und durchströmte sie ganz mit seiner Herrlichkeit, wie die Sonne den Gegenstand, den sie bestrahlt, mit ihrem Lichte durchdringt. Und der blitzende Schein trug die Opfergabe in unsichtbare Höhen bis in das Innerste des Himmels empor und ließ sie wieder auf den Altar hernieder, ähnlich wie ein Mensch beim Atmen die Luft einzieht und sie wieder aushaucht. Obgleich nun die Opfergaben für das Auge der Menschen noch das Aussehen von Brot und Wein hatten, waren sie doch in wahres Fleisch und wahres Blut umgewandelt. Deshalb erschienen auch sogleich vor meinen Augen wie in einem Spiegel die Sinnbilder der Geburt, des Leidens, des Begräbnisses, der Auferstehung und Himmelfahrt unseres Erlösers, des eingeborenen Sohnes Gottes, wie sich all dieses während seines irdischen Lebens zugetragen hat. Aber als der Priester das Lied von dem unschuldigen Lamme: »Agnus Dei, qui tollis peccata mundi«, sang und sich zum Empfang der heiligen Kommunion anschickte, zog sich das feurige Blitzen zurück. Der Himmel schloß sich, doch hörte ich aus seinem Innern eine Stimme: »Esset und trinket den Leib und das Blut meines Sohnes, auf daß die Sünde Evas getilgt werde und ihr in euer rechtmäßiges Erbe eingehet.«

Als nun auch die übrigen Menschen zum Priester hinzutraten, um das heilige Sakrament zu empfangen, gewahrte ich unter ihnen fünf verschiedene Gruppen. Einige hatten leuchtende Körper, ihre Seelen waren feurig. Bei anderen erschienen die Körper schattenhaft, die Seelen finster. Wieder andere waren struppig dem Leibe nach und starrten von vielfachem Schmutz menschlicher Befleckung der Seele nach. Die vierten waren rings von scharfen Dornen umgeben, und ihre Seelen schienen mit Aussatz behaftet. Die letzten endlich waren blutigen Leibes, und ihre Seelen gaben üblen Geruch wie ein verwesender Leichnam. Von all diesen wurden beim Empfang des Sakramentes die einen wie mit feurigem Glanz übergossen, die anderen wie von einer dunklen Wolke in Finsternis gehüllt. Als sich nach Vollendung des heiligen Geheimnisses der Priester vom Altar entfernte, zog sich auch der helle Lichtglanz, der den Altar bis dahin umstrahlt hatte, wieder nach oben in die Verborgenheit des Himmels zurück.

Und wiederum hörte ich, wie eine Stimme von den Höhen des Himmels herab zu mir sprach:

»Als Christus Jesus, der wahre Sohn Gottes, am Leidensholze hing, wurde ihm die Kirche in der Verborgenheit der himmlischen Geheimnisse vermählt, und sie empfing als Hochzeitsgabe sein purpurfarbenes Blut. Darauf deutet sie selber hin; denn immer wieder tritt sie zum Altare hinzu, bittet um ihre Hochzeitsgabe und beobachtet mit größter Aufmerksamkeit, wie innig die Andacht sei, mit der ihre Kinder zum Empfang der göttlichen Geheimnisse hinzutreten.

Deshalb siehst du, wie die Gestalt gleich einem Lichtglanz schnell aus dem ewigen Ratschlusse hervorgeht und durch göttliche Macht dem Sohne Gottes zugeführt wird, der am Kreuze hängt. Als er, das unschuldige Lamm, zum Heile der Menschen auf dem Altare des Kreuzes erhöht war, ging plötzlich aus dem abgrundtiefen Geheimnis des göttlichen Ratschlusses die Kirche hervor. Strahlend in der reinen Weiße des Glaubens und aller Tugenden erschien sie im Himmel und wurde durch die höchste Majestät dem eingeborenen Sohne Gottes zugeführt. Was bedeutet dies? Als aus der Seitenwunde des Herrn das Blut floß, wurde die Erlösung der Seelen geboren. Die Herrlichkeit, deren der Teufel und seine Anhänger verlustig gegangen waren, wurde Erbteil der Menschen. Denn als mein eingeborener Sohn in der Zeit den Kreuzestod auf sich nahm, entriß er der Hölle ihre Beute und führte die gläubigen Seelen zum Himmel. Rasch begann sich nun in den Jüngern und denen, die ihnen aufrichtig folgten, der Glaube zu mehren und zu kräftigen, und so wurden sie Erben des himmlischen Reiches.

Daher erscheint die Gestalt ganz überströmt von seinem Blute, das, hoch aufsprudelnd, aus seiner Seite fließt, und wird ihm durch den Willen des himmlischen Vaters in seliger Vermählung angetraut. Wie der Duft wohlriechender Kräuter emporsteigt und sich in der Höhe ausbreitet, so schwoll die Kraft des Leidens Christi mächtig an und erhob sich wunderbar zur Höhe der himmlischen Geheimnisse. Da wuchs durch sie die Kirche in [ihren Gliedern], den blendendweißen Erben des himmlischen Reiches, und wurde so dem eingeborenen Sohne Gottes nach der Bestimmung des himmlischen Vaters im Glauben vermählt. Wie die Braut sich dem Bräutigam im Dienste der Unterwürfigkeit und des Gehorsams hingibt und von ihm im Bunde der Liebe die Gabe der Fruchtbarkeit empfängt, wie sie die Kinder in das ihnen zustehende Erbe einführt, so ist die Kirche dem Sohne Gottes im Dienste der Demut und Liebe vereint. Sie empfängt von ihm die Kraft zur Wiedergeburt aus dem Geiste und dem Wasser zur Erlösung der Seelen und zur Wiederherstellung des Lebens. Sie geleitet ihre Kinder zur himmlischen Heimat.

Deshalb empfängt sie auch als kostbare Hochzeitsgabe sein heiliges Fleisch und Blut. Denn der eingeborene Sohn Gottes reicht den Gläubigen, die zugleich die Kirche und die Kinder der Kirche sind, in [verborgen] leuchtender Herrlichkeit sein Fleisch und Blut, auf daß sie durch ihn das Leben besitzen in der heiligen Stadt Gottes. Er hat seinen Leib und sein Blut für die Heiligung der Gläubigen dahingegeben, wie der himmlische Vater ihn zur Erlösung der Völker dem Leiden überliefert hat. In ihm besiegte Gott die alte Schlange durch Demut und Gerechtigkeit, da er sie durch seine Macht und Kraft nicht überwinden wollte. [...]

Wenn zwei Kämpfer einander gegenüber ständen, von denen der eine dem andern an Kraft überlegen wäre, so würde gewiß der Stärkere den Schwächeren seine ganze Macht fühlen lassen. Er würde ihn beschämen und niederringen und ihm in keinem Stücke nachgeben. Nicht so handelt Gott. Dem Werke der Bosheit setzte er die höchste Güte entgegen. Er sandte seinen Sohn in die Welt. Dieser führte im Fleische durch tiefste Demut das verlorene Schaf zur himmlischen Hürde zurück. Das Blut, das seinem Leibe entströmte, wurde alsbald nach Öffnung der Wunden im Himmel sichtbar und flehte um die Rettung der Seelen. Und die Schöpfung tat kund, daß durch sein Leiden und seinen Tod der Untergang des Menschen vernichtet und das Leben erstanden ist. Denn er, der selber das Leben ist, opferte sich zur Erlösung des Menschengeschlechtes im Todesleiden auf dem Altar des Kreuzes. Zugleich erwählte er sich, wie du durch die Stimme aus den himmlischen Geheimnissen in wahrhaftiger Kundgebung vernommen hast, als Braut die Kirche, damit sie zur Wiederherstellung des Heiles die Mutter aller Gläubigen werde. Ohne Makel, in geistiger Neugeburt, sendet sie ihre Kinder zum Himmel. [...]«

4 Schau der Trinität; Rettung des Menschen aus Liebe
Alsdann sah ich ein überhelles Licht und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die durch und durch im sanften Rot funkelnder Lohe brannte. Das helle Licht durchflutete ganz die funkelnde Lohe und die funkelnde Lohe ganz das helle Licht. Und [beide], das helle Licht und die funkelnde Lohe durchfluteten ganz die Menschengestalt, [alle drei] als ein Licht wesend in einer Kraft und Macht.

Wiederum hörte ich, wie dieses lebendige Licht zu mir sprach:

»Das ist der Sinn der Geheimnisse Gottes, daß klar erschaut und erkannt werde, welches die Fülle sei, die ohne Ursprung ist, der nichts abgeht, deren mächtigster Kraft alle Rinnsale der Starken entquillen. Denn wenn der Herr eigener Lebenskraft leer wäre, was wäre dann sein Werk? In Wahrheit, es wäre eitel. Nun aber erkennt man im vollkommenen Werke, wer sein Erbauer ist.

Deshalb siehst du ein überhelles Licht. Makellos, ohne Abstrich und Minderung und Täuschung sinnbildet es den Vater. Und darin eine saphirblaue Menschengestalt. Makellos, ohne Härte des Neides und der Bosheit, zeichnet sie den Sohn, der seiner Gottheit nach vor aller Zeit aus dem Vater gezeugt, seiner Menschheit nach in der Zeit zur Welt geboren wurde. Seine Gestalt brennt durch und durch im sanften Rot funkelnder Lohe. Makellos, ohne Dürre finsterer Sterblichkeit, weist sie auf den Heiligen Geist, von dem der Eingeborene Gottes, dem Fleische nach empfangen und aus der Jungfrau in der Zeit geboren, der Welt das Licht der wahren Herrlichkeit ergoß.

Daß aber das helle Licht ganz die funkelnde Lohe und die funkelnde Lohe ganz das helle Licht, und daß [beide,] das helle Licht und die funkelnde Lohe ganz die Menschengestalt durchfluten, [alle drei] als ein Licht wesend in einer Kraft und Macht, das bedeutet, daß der Vater, die gerechteste Gerechtigkeit, nicht ohne den Sohn und den Heiligen Geist, daß der Heilige Geist, der Herzensentzünder, nicht ohne den Vater und den Sohn, und daß der Sohn, die Fülle aller Fruchtbarkeit, nicht ohne den Vater und den Heiligen Geist ist. Untrennbar sind sie in der Majestät der Gottheit, denn der Vater ist nicht ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Vater, noch Vater und Sohn ohne den Heiligen Geist, noch der Heilige Geist ohne den Vater und Sohn. Und diese drei Personen sind Ein Gott in der einen und ungeteilten hochherrlichen Gottheit. Untrennbar lebt die Eine Gottheit in diesen drei Personen, denn die Gottheit kann nicht gespalten werden. Immerdar bleibt sie unverletzlich, ohne jede Veränderlichkeit.

Aber der Vater wird offenbar durch den Sohn, der Sohn durch den Ursprung der Geschöpfe und der Heilige Geist durch die Menschwerdung des Sohnes. Wieso das? Der Vater ist es, der den Sohn zeugte vor aller Zeit. Der Sohn ist es, durch den alles vom Vater gemacht wurde am Anfang der Zeit. Der Heilige Geist ist es, der in Gestalt einer Taube erschien bei der Taufe des Gottessohnes gegen Ende der Zeiten.

Deshalb vergesse der Mensch niemals, mich, den Einen Gott, in diesen drei Personen anzurufen. Denn dazu habe ich sie dem Menschen geoffenbart, damit er um so glühender in der Liebe zu mir entbrenne, da ich aus Liebe zu ihm meinen eigenen Sohn in die Welt sandte, wie mein geliebter Jünger Johannes bezeugt, da er spricht:

>Dadurch hat sich die Liebe Gottes an uns erwiesen, daß Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin besteht die Liebe: nicht als hätten wir Gott geliebt, sondern er hat uns zuerst geliebt und seinen Sohn gesandt als Sühneopfer für unsere Sünden< [1. Joh. 4,9 f]. Was heißt das? Ein anderes Heil erblühte uns in dieser Liebe Gottes als das, das wir bei unserem ersten Ursprung empfangen hatten, da wir Erben der Unschuld und Heiligkeit waren; denn nun neigte der himmlische Vater seine Liebe uns Gefährdeten und Straffälligen zu. Er sandte sein eingeborenes Wort unter die Söhne der Menschen in vollkommener Heiligkeit. Er sandte es durch göttliche Kraft in die Finsternis der Jahrhunderte, damit es in ihr alles Gute wirke. Durch seine Sanftmut führte es die zum Leben zurück, die in Sündenschmutz darniederlagen und [aus sich] die verlorene Heiligkeit nicht wiederzuerlangen vermochten. Denn durch das Wort, das der Lebensquell selber ist, kam die umarmende Mutterliebe Gottes hernieder. Sie nährte uns zum Leben. Sie steht uns bei in der Gefahr. Sie ist das tiefste, mildeste Erbarmen, das uns den Weg der Umkehr zeigt. Voll Mitleid gedachte Gott seines großen Werkes, seiner kostbarsten Perle, des Menschen, den er aus Erdenlehm gebildet, und dem er den Atem des Lebens eingehaucht hatte. Er erbaute das Leben in wirksamer Buße, die nie zuschanden wird. Denn die listige Schlange hatte den Menschen durch stolze Einflüsterung betrogen. Dafür wurde sie von Gott gestürzt durch die Buße, deren innerstes Wesen Demut ist. Sie kennt und übt der Teufel nicht. Er hat den geraden Weg nicht zu ersteigen gewußt.

So ist die Rettung der Liebe nicht von uns ausgegangen, die wir unwissend und unfähig waren, Gott zu unserem Heile zu lieben. Er vielmehr, der Schöpfer und Herr aller Dinge, hat sein Volk so sehr geliebt, daß er, um es zu retten, seinen Sohn sandte, das Haupt und den Erlöser der Gläubigen. Dieser wusch und trocknete unsere Wunden. Aus ihm träufelte die süßeste Fülle, aus der alle Güter der Erlösung fließen.

Deshalb erkenne auch du, Mensch, daß kein Widerstreit von Veränderlichkeit Gott je berührt. Denn der Vater ist Vater, der Sohn ist Sohn, der Heilige Geist ist Heiliger Geist: Drei Personen, unteilbar lebend in der Einheit der Einen Gottheit.

Drei Kräfte sind im Steine, drei in der Flamme und drei im Worte. Im Steine sind feuchte Grüne, tastbare Geschlossenheit, funkelndes Feuer. Die feuchte Grüne, damit er sich nicht auflöse und zerfalle, die tastbare Geschlossenheit, damit er Wohnung und Verteidigung biete, das funkelnde Feuer, damit er erwärmt und gehärtet werde zu seiner Dauerhaftigkeit. Die feuchte Grüne sinnbildet den Vater, der nie verdorrt und nie zergeht. Die tastbare Geschlossenheit deutet auf den Sohn, den man, da er aus der Jungfrau geboren war, berühren und betasten konnte. Das funkelnde Feuer ist das Bild des Heiligen Geistes, der die Herzen der Gläubigen entzündet und erleuchtet. Manchmal zieht der Mensch sich durch die Feuchtigkeit der Steine eine Krankheit zu. So leidet auch der Schiffbruch an seinem Glauben, der in unstetem Grübeln verwegen den Vater anzuschauen versucht. In der tastbaren Geschlossenheit der Steine richten sich die Menschen ihre Wohnungen zum Schutz gegen ihre Feinde ein. So ist der Sohn Gottes der wahre Eckstein, die Zufluchtsstätte des gläubigen Volkes vor den bösen Geistern. Wie endlich das funkelnde Feuer die Finsternis erhellt und das, worauf es herabfällt, in Brand setzt, so muß vor dem Heiligen Geiste der Unglaube weichen und die rote Glut aller Gottlosigkeit zerrinnen. Wie nun diese drei Kräfte in dem einen Steine sind, so ist die wahre Dreiheit in der wahren Einheit.

Auch die Flamme hat in dem einen Brand drei Kräfte. So ist der eine Gott in drei Personen. Die Flamme brennt in glänzendem Lichte, in purpurnem Hauch und in feuriger Glut. Durch das glänzende Licht leuchtet sie, durch den purpurnen Hauch flammt sie, durch die feurige Glut wärmt sie. In dem glänzenden Lichte betrachte den Vater, der aus Vaterliebe seine Herrlichkeit den Gläubigen ergießt. In dem purpurnen Hauch, der ihr innerlich eigen ist, und durch den sie ihre Kraft bezeugt, erkenne den Sohn, der aus der Jungfrau einen Leib annahm, an dem die Gottheit ihre Wunder kundtat. In der feurigen Glut schaue den Heiligen Geist, der die Geister der Gläubigen zündend durchströmt. Wo aber weder das glänzende Licht noch der purpurne Hauch noch die feurige Glut ist, da ist auch keine Flamme. So wird auch da, wo weder der Vater noch der Sohn noch der Heilige Geist in Ehrfurcht erkannt wird, Gott nicht geziemend verehrt. Wie also in der einen Flamme diese drei Kräfte erschaut werden, so die drei Personen in der Einheit der Gottheit.

Auch im Worte kann man drei Dinge unterscheiden, in denen die Dreiheit in der Einen Gottheit schaubar wird. Inwiefern? Im Worte sind Schall, Prägung und Hauch. Der Schall bewirkt, daß das Wort gehört wird, die Prägung, daß es verstanden wird, der Hauch trägt es seinem Ziele zu. Im Schalle erkenne den Vater, der mit unsagbarer Macht alles weithin offenbart, in der Prägung den Sohn, der wundersam aus dem Vater gezeugt ist, im Hauche den Heiligen Geist, der milde in ihnen brennt. Wo aber kein Schall gehört wird, da kommt keine Prägung zustande, noch kann der Hauch seine Schwingen erheben, es wird also auch kein Wort verstanden. So sind der Vater, der Sohn und der Heilige Geist nicht voneinander getrennt, einmütig wirken sie ihr Werk. Wie also die drei Dinge in dem einen Worte sind, so ist die hocherhabene Dreifaltigkeit in der hocherhabenen Einheit. [...]

So erkenne denn den Einen Gott in drei Personen, o Mensch. Du hältst in der Torheit deines Herzens Gott nicht für seinsmächtig genug, wahrhaft in drei Personen zu leben und willst ihm nur das schwache Sein in einer einzigen zuerkennen. Und doch ist [nur] Gott in drei Personen der wahre Gott, »der Erste und der Letzte« [Offb. 1,17].

Aber der Vater ist nicht ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Vater, noch der Vater und der Sohn ohne den Heiligen Geist, noch der Heilige Geist ohne Vater und Sohn, denn diese drei Personen sind untrennbar in der Einheit der Gottheit. «

5 Hildegards Demut und der Lichtkreis göttlicher Macht
Und ich, ein Mensch, von Menschen gezeugt und doch nicht würdig, Mensch zu heißen wegen der Übertretung des Gesetzes Gottes — ich sollte ja gerecht sein und bin doch ungerecht — außer, daß ich durch seine Gnade, die mich auch heilen wird, ein Geschöpf Gottes bin — ich schaute nach Osten, und siehe, dort erblickte ich etwas wie einen Stein von unausmeßbarer Breite und Höhe, eine einzige eisenfarbene Masse. Darüber eine glänzendweiße Wolke und darauf einen gerundeten Königsthron. Auf ihm saß einer — der Lebendige, leuchtend in wundersamer Herrlichkeit und solcher Lichtfülle, daß ich ihn unmöglich in voller Klarheit anzuschauen vermochte. Gleichsam im Herzen hatte er etwas wie schwarzen, schmutzigen Lehm, so breit wie das Herz eines erwachsenen Menschen, umgeben von Edelsteinen und Perlen.

Und von dem Leuchtenden, der auf dem Throne saß, ging — goldfarbig wie Morgenrot — ein großer [Licht-]Kreis aus, dessen Spannweite ich unmöglich begreifen konnte. Er kreiste vom Osten zum Norden und weiter zum Westen und zum Süden und kehrte dann zum Osten zurück, zu dem Leuchtenden, der auf dem Throne saß. Ohne Ende kreiste er. Hocherhaben war dieser Lichtkreis über der Erde, so hoch, daß ich seine Höhe nicht zu begreifen vermochte. Er entsandte einen Glanz, dessen Anblick furchtbar war, bald wie Stein oder Stahl, bald wie Feuer, und dieser Glanz floß in seiner allumfassenden Weite so hoch hinauf in des Himmels Höhe und so tief hinab in des Abgrunds Tiefe, daß ich seines Leuchtens keine Grenze erschauen konnte.

Darauf sah ich, wie aus dem Geheimnis des auf dem Throne Sitzenden ein großer Stern in lichtem Glanz und strahlender Schönheit hervorging. Ihm folgten zahlreiche sprühende Funken, die alle mit ihm zum Süden zogen. Doch schauten sie den auf dem Throne Sitzenden mit einem Blicke an, als kennten sie ihn nicht. Plötzlich kehrten sie sich von ihm ab und steuerten dem Norden zu, hinweg aus seinem Anblick. Im gleichen Augenblick erloschen sie und wurden schwarz wie schwarze Kohle. Und sofort fuhr ein Wirbelwind von ihnen aus, der sie vom Süden verjagte, zum Norden hin, hinter den, der auf dem Throne saß. Sie stürzten in den Abgrund, und nicht einen von ihnen sah ich wieder.

Doch schaute ich, wie bei ihrem Erlöschen sofort der lichte Glanz, der ihnen entzogen war, zu dem zurückkehrte, der auf dem Throne saß.
Und nun hörte ich, wie der auf dem Throne Sitzende zu mir sprach: «Schreibe, was du siehst und hörst!«

Da antwortete ich aus dem innersten Erkennen meines Schauens: »Ich bitte dich, Herr, gib mir Verstehen, daß ich diese Geheimnisse in Worte fassen kann. Verlaß mich nicht, sondern gib mir Kraft aus der Morgenröte deiner Gerechtigkeit, in der dein Sohn sich offenbarte. Gib du mir ein und laß mich erkennen, wie ich den göttlichen, den ewigen Ratschluß kundtun soll, kraft dessen du wolltest, daß dein Sohn Fleisch annehme und Mensch werde in der Zeit. Denn dies war dein Wille vor jeglicher Schöpfung in deiner unverrückbaren Schau und im Feuer der Taube - deines Geistes —, daß dein Sohn als strahlende Sonne wundersam im Frühlicht der Jungfräulichkeit aufgehe, sich wahrhaft mit der Menschennatur umkleide und Menschengestalt annehme um des Menschen willen«.

Und wiederum hörte ich, wie er sprach: »Wie schön sind deine Augen, wenn du Gottestaten kündest, und wenn in ihnen die Morgenröte des göttlichen Ratschlusses aufleuchtet!«

Ich hinwider antwortete: »Wie Asche und Aschenkot bin ich vor mir im tiefen Grunde meiner Seele und wie verwehender Staub. Zitternd verweile ich im Schatten wie unter schützenden Flügeln. Vertilg mich nicht als einen Fremdling aus dem Lande der Lebendigen! Denn schwer mühe ich mich ab mit dieser Schau. Und wegen der Geringheit meiner unbeholfenen Einsicht, die mein Anteil im Fleische ist, stelle ich mich an den geringsten, niedrigsten Platz, weil ich nicht wert bin, Mensch zu heißen. Groß ist meine Furcht, und ich wage nicht, deine Geheimnisse kundzutun. O Vater, voll Güte und Milde, belehre mich, was dein Wille ist und was ich reden soll. Vater, Schauererregender, Liebreichster, der du voll bist jeglicher Gnade, verlaß mich nicht, sondern bewahre mich in deiner Barmherzigkeit!«

Und wiederum hörte ich, wie die Stimme sprach: »Rede, wie du belehrt worden bist. Ich will, daß du redest, obgleich du Asche bist. Rede, enthülle das Brot, das der Sohn Gottes ist! Leben in feuriger Liebe ist er. Er erweckt jeden, der in der Seele oder im Leibe tot ist. Er löst die Sünden in lichte Herrlichkeit auf, er, der selbst das erstehende Leben der Heiligkeit im Menschen ist. [. . .]

Schreibe über die wahre Erkenntnis des Schöpfers kraft seiner Güte also:

Gott hat alles erschaffen und den Menschen zu jener Herrlichkeit berufen, aus der der verlorene Engel mir seinem Anhang verstoßen wurde. Ihn muß jedes seiner Geschöpfe mit höchster Ehre und tiefster Furcht umfangen. Denn die Gerechtigkeit verlangt, daß dem Schöpfer von seinem Geschöpfe jegliche Ehre gezollt und er, dem alles untertan ist, mit treuestem Glauben angebetet werde.


Darauf deutet der Stein, den du siehst, mit untrüglicher Sicherheit. Er stellt in geheimnisvollem Bilde die Größe der Gottesfurcht dar, die in reinster Zielrichtung in den Herzen der Gläubigen erstehen und beständig bleiben muß. Daß er dir als eine einzige Steinmasse von unausmeßbarer Breite und Höhe und eisenfarbig erscheint, das bedeutet, daß diese starke, gewaltige Größe der Gottesfurcht unerschütterlich festgehalten werden muß, denn jegliches Geschöpf muß Gott fürchten in voller Ungeteiltheit als den Einen und Wahren. Kein anderer ist außer ihm, und keiner ist ihm gleich. Von unausmeßbarer Breite ist der Stein, denn Gott ist unfaßlich in allem und über allem — und von unausmeßbarer Höhe, denn seine heilige Gottheit kann keiner begreifen, nicht einmal berühren mit seinem Verstand, so hoch er ihn auch emporrecken mag. Gott ist höher als alles. Die Eisenfarbe des Felsens aber besagt, daß die Gottesfurcht dem Menschengeiste eine harte Last ist. Schwer liegt sie auf auf der Armseligkeit der zerbröckelnden Asche, und immer wieder lehnt das menschliche Geschöpf sich wider Gott auf.

Die glänzendweiße Wolke, die über dem Steine lagert, versinnbildet die lichte Weisheit des menschlichen Geistes. Der gerundete Königsthron ist der starke, grundlegende Glaube, der im christlichen Volke kreist. [. . .] in ihm wird Gott gläubig erkannt. Denn wo die Gottesfurcht Wurzel faßt, da darf die Weisheit des menschlichen Geistes — der Wolke gleich — emporsteigen. Und dann wird mit Gottes Hilfe auf ihr der Thron des Glaubens aufgerichtet, in dem Gott ruht. Der Menschenweisheit, die in heiliger Furcht Gott naht, gibt er sich im Glauben zu erkennen. Denn der Glaube berührt ihn wie der Thron seinen Herrn. In ihm bereitet Gott sich seinen Sitz und herrscht, er, der Allerhöchste, über alles: Denn er ist unbegreiflich in seiner Macht und Hoheit. Er thront allein im reinen Glauben. Einer ist, an den alle glauben müssen — Gott.

Darum durchleuchtet wunderbare Herrlichkeit den Lebendigen, der auf dem Throne sitzt, und ist die Lichtfülle so groß, daß du ihn unmöglich in voller Klarheit anzuschauen vermagst. Denn er ist der Allherrscher, der Eine, Gott, leuchtend in Güte, wunderbar in seinen Werken. Seine unermeßliche Herrlichkeit kann in ihrer geheimnisvollen Tiefe kein Mensch vollkommen erschauen, es sei denn, soweit der Glaube ihn erkennt, der ihn umfaßt und trägt. Doch wie der Thron seinen Herrn trägt und umfängt und dennoch unter ihm bleibt und sich nicht über ihn erhebt, so verlangt auch der Glaube nicht, in stolzer Anmaßung Gott zu schauen, sondern er berührt ihn mit tiefinnerer Unterwürfigkeit.

Doch im Herzen des Lebendigen siehst du etwas wie schwarzen, schmutzigen Lehm, so breit wie das menschliche Herz, rings umgeben von kostbaren Steinen und Perlen. Das ist der Mensch, der schwache, hinfällige, elende Lehm. Ihn trägt Gott durch die Liebe zu seinem menschgewordenen Sohne in seiner Brust, das heißt im Geheimnis seiner Weisheit. Schwarz erscheint er wegen der Schwarze der Sünden und schmutzig wegen der Befleckung des Fleisches. Durch seine Breite, die der eines menschlichen Herzens gleicht, deutet er auf die Weite der tiefen und großen Weisheit, mit der Gott den Menschen erschuf und dabei alle die erschaute, die durch Buße das Heil ihrer Seele finden. Was immer für ein Laster ihrer Schwäche Kämpfe bereiten mag, endlich gelangen sie doch zu ihm. Und dann leuchten sie alle in vielfacher Zier — die Märtyrer und Jungfrauen wie köstliches Edelgestein, die übrigen unschuldigen oder büßenden Kinder der Erlösung wie Perlen — und umstrahlen herrlich den Lehm. So große Kräfte leuchten im menschlichen Leibe auf — Kräfte, die in Gott sind und in ihm funkeln in lichter Klarheit. [...]

Darauf deutet der schmutzige Lehm, den du im Herzen des gütigen Vaters siehst. Denn der Sohn Gottes, der aus dem Herzen des Vaters hervorgegangen ist, kam in die Welt. Ihm hangen die Gläubigen an in hingebender Treue. Deshalb erscheinen auch sie im Herzen des gütigen Vaters, auf daß kein Engel noch irgendwelche Kreatur den Menschen verachte. Denn der Sohn des höchsten Gottes nahm in der Fleischwerdung die Natur des Menschen in sich selber auf. [. . .] Was vom Vater geliebt wird, das lieben auch die Engel im Sohne . . . Mein Sohn aber ist Mensch. Er sammelt die unschuldigen Schäflein, die aus der Schuld Adams gelöst sind durch die Unschuld der Taufe, in der der alte Mensch mit seinen Werken stirbt. Und er hebt sie durch seine Gnadenkräfte und sein Gesetz in seinen Schoß. Über die höchsten Himmel trägt er sie empor, so daß sie seine Glieder werden. Darum erscheint der Mensch im innersten Geheimnis der Gottheit in seiner Natur. Keinem Engel und keinem anderen Geschöpf ward solches zuteil, denn mein Eingeborener nahm zur Erlösung des Menschengeschlechtes aus jungfräulichem Fleische die Menschennatur. Er trägt also die Schäflein in seinem Herzen, Er trägt die Menschen in seinem Blute. [...] Und wenn du sie im Schoße des Vaters erscheinen siehst, so bedeutet das, daß der Menschensohn in seinen Gliedern ausgestaltet wird im Geheimnis des Vaters. Wenn die Welt ihren Lauf vollendet, dann werden auch die Erwählten Christi als seine Glieder vollendet sein [...]«
Aus: Mystische Texte des Mittelalters . Ausgewählt und herausgegeben von Johanna Lanczkowski
Reclams Universalbibliothek Nr. 8456 (S. 51-77) © 1988 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages