Hildegard von Bingen (1098 - 1179)
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Erste
deutsche Mystikerin, die Benediktinerin war..
Hildegards visionäres
Talent meldete sich in dem schwachen und kränklichen Kind bereits im 5. Lebensjahr zu Wort. Im Alter zwischen acht und neun begann ihre
Ausbildung bei der Klausnerin Jutta von Sponheim (1090-1136), deren Klause sich nahe der Benediktiner-Abtei Disibodenberg bei Kreuznach befand. Aus der Klause entstand eine Nonnengemeinschaft, die nach Juttas Tod zunächst von Hildegard geleitet
wurde. 1147/1150 löste Hildegard die Zugehörigkeit zur Abtei Disibodental und gründete auf dem Rupertsberg ein eigenständiges Benediktinerinnenkloster.
In ihrem dreiundvierzigsten Jahr befahl ihr eine »himmlische
Stimme« aus einem »sehr großen
Glanz« ihr visionären Erlebnisse niederzuschreiben. Hildegard wirkte mit ihren
mystischen, prophetisch gehaltenen Schriften (insbesondere »Sci vias« = »Wisse die Wege«) ihrem Briefwechsel
und auf Reisen für die Reform des kirchlichen Lebens in Deutschland.
Sie verfasste eine Naturbeschreibung, die auch Volksheilmittel und Behandlungsmethoden beschreibt. - Heilige (Tag: 17.9.) |
Inhaltsverzeichnis
Berufungsvision
Der Menschensohn
Die Kirche ist
die Braut Christi
Schau
der Trinität; Rettung des Menschen aus Liebe
Hildegards Demut
und der Lichtkreis göttlicher Macht
1
Berufungsvision
Und siehe! Im dreiundvierzigsten Jahre meines Lebenslaufes schaute ich ein himmlisches
Gesicht. Zitternd und mit großer Furcht spannte sich ihm mein Geist entgegen.
Ich sah einen
sehr großen Glanz. Eine himmlische
Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir: »Gebrechlicher
Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und
hörst! Doch weil du schüchtern bist zum Reden, einfältig zur
Auslegung und ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sage und beschreibe es
nicht nach der Redeweise der Menschen, nicht nach der Erkenntnis menschlicher
Erfindung noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der Gabe
heraus, die dir in himmlischen Gesichten zuteil wird: wie du es in den Wundern
Gottes siehst und hörst. So tu es kund wie der Zuhörer, der die
Worte seines Meisters erlauscht und sie ganz, wie der Meister es meint und will,
wie er es zeigt und vorschreibt, weitergibt. So tu auch du, o Mensch! Sage,
was du siehst und hörst, und schreibe es, nicht wie es dir noch irgendeinem
andern Menschen gefällt, sondern schreibe es nach dem Willen dessen, der
alles weiß, alles sieht, alles ordnet in den verborgenen Tiefen seiner
geheimen Ratschlüsse.«
Und wieder hörte ich die Stimme vom Himmel zu mir sagen; »So tue
denn diese Wunder kund! Und schreibe sie, also belehrt, und sprich;
Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, des
Gottessohnes, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam ein
feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte
mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die
jedoch nicht brannte sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt,
auf den sie ihre Strahlen legt. Nun erschloß sich mir plötzlich der
Sinn der Schriften, des Psalters, des Evangeliums und der übrigen katholischen
Bücher des Alten und Neuen Testamentes. Doch den Wortsinn ihrer Texte,
die Regeln der Silbenteilung und der [grammatischen] Fälle
und Zeiten erlernte ich dadurch nicht.
Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Gesichte
erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Innern seit meinem Kindesalter, das heißt,
seit meinem fünften Lebensjahre, so wie auch heute noch. Doch tat
ich es keinem Menschen kund, außer einigen wenigen, die wie ich im Ordensstande
lebten. Ich deckte alles mit Schweigen zu bis zu der Zeit, da Gott es durch
seine Gnade offenbaren wollte.
Die Gesichte, die ich schaue, empfange ich nicht in traumhaften
Zuständen, nicht im Schlafe oder in Geistesgestörtheit, nicht mit
den Augen des Körpers oder den Ohren des äußeren Menschen und
nicht an abgelegenen Orten, sondern wachend, besonnen und mit klarem Geiste,
mit den Augen und Ohren des inneren Menschen, an allgemein zugänglichen
Orten, so wie Gott es will. Wie das geschieht, ist für den mir Fleisch
umkleideten Menschen schwer zu verstehen.
Als ich die Mädchenjahre überschritten hatte und zu dem erwähnten
gereiften Alter gekommen war, hörte ich eine Stimme vom Himmel sagen: »Ich
bin das lebendige Licht,
das alles Dunkel durchleuchtet. Den Menschen, den ich erwählt‘
und den ich, wie es mir gefiel, machtvoll erschüttert habe, stellte ich
in große Wunder hinein, mehr noch als die Menschen der alten Zeiten, die
viele Geheimnisse in mir schauten. Doch warf ich ihn zur Erde nieder, damit
er sich nicht in Geistesaufgeblasenheit erhebe. Die Welt hatte keine Freude
und kein Ergötzen an ihm und fand ihn ungeschickt für weltliche Geschäfte,
denn ich habe ihn von trotziger Verwegenheit befreit. Furcht erfüllt ihn,
und er zittert in seinen Mühen. Er leidet Schmerzen in seinem Marke und
in den Adern seines Fleisches. Sinn und Gefühl sind ihm beengt, und schweres
Leiden duldet er in seinem Körper, so daß keine Sicherheit in ihm
wohnt, er sich vielmehr in allem als schuldig erachtet. Die Ritzen seines Herzens
habe ich umzäunt, damit sein Geist sich nicht in Stolz und Ehrsucht erhebe,
sondern aus all dem mehr Furcht und Schmerz als Freude und Lust schöpfe.
So sann er denn aus Liebe zu mir in seiner Seele nach, wo er den fände, der ihm helfend entgegenkomme. Und er fand einen
und liebte ihn in der Erkenntnis, daß er ein treuer Mensch sei, der gleich
ihm sich um den Auftrag Gottes mühe. Und er hielt ihn fest. Gemeinsam arbeiteten
sie im hochstrebenden Eifer, meine verborgenen Wunder kundzutun.
Er aber [der von mir Erwählte] erhob sich
nicht über sich selbst, sondern neigte sich in der Selbsterhöhung
der Demut und in der Zielstrebigkeit guten Wollens seufzend dem zu, den er gefunden.
Du also, o Mensch, der du all dies nicht in der Unruhe der Täuschung, sondern
in der Reinheit der Einfalt empfängst, hast den Auftrag, das Verborgene
zu offenbaren.
Schreibe, was du siehst und hörst!«
All dieses sah und hörte ich, und dennoch — ich weigerte mich zu
schreiben. Nicht aus Hartnäckigkeit, sondern aus dem Empfinden meiner Unfähigkeit,
wegen der Zweifelsucht, des Achselzuckens und des mannigfachen Geredes der Menschen,
bis Gottes Geißel mich auf das Krankenlager warf. Da endlich legte ich,
bezwungen durch die vielen Leiden, Hand ans Schreiben. Ein adeliges Mädchen
von guten Sitten und der Mann, den ich, wie oben gesagt, heimlich gesucht und
gefunden hatte, waren meine Zeugen. Als ich nun zu schreiben begann und alsbald,
wie anfangs berichtet, die Gabe tiefsinnender Schriftauslegung in mir wirksam
fühlte, kam ich wieder zu Kräften und stand von meiner Krankheit auf.
Nur mit Mühe brachte ich in zehn Jahren dieses Werk zustande und vollendete
es.
In den Tagen des Erzbischofes Heinrich von Mainz, des Römischen Königs
Konrad und des Abtes Kuno von Disibodenberg, unter dem Papste Eugenius sind
diese Gesichte und Worte an mich ergangen. Und ich sagte und schrieb dies nicht
nach der Erfindung meines Herzens oder irgendeines Menschen, sondern wie ich
es in Himmelskundgebungen sah, hörte und empfing durch die verborgenen
Geheimnisse Gottes.
Und wiederum hörte ich die Stimme vom Himmel. Sie sprach:
»So rufe denn und schreibe also:«
2
Der Menschensohn
Und danach sah ich am höchsten Punkte des Ostwinkels im Gebäude, wo
die beiden Mauerteile, die leuchtende und die steinerne Mauer, zusammenstießen,
sieben blendendweiße Marmorstufen. Sie schlossen sich schilddachartig
an jenen großen Stein, über dem, auf dem Throne sitzend, der früher
erwähnte Leuchtende erschien. Ein Sitz war auf diesen Stufen errichtet.
Darauf saß ein jugendlicher Mann. Sein Antlitz war männlich, edel,
aber bleich. Schattenhaft schwarzes Haar wallte bis auf seine Schultern herab,
und eine purpurne Tunika umkleidete ihn. Er wurde mir vom Haupte bis zur Mitte
des Leibes sichtbar. Ein Schatten entzog den unteren Teil meinen Blicken. Dieser
Mann schaute in die Welt und rief den Menschen, die darin waren, mit mächtiger
Stimme zu:
»Ihr törichten Menschen, ihr welket dahin in Lauheit und Schande.
Nicht ein Auge wollet ihr öffnen, um zu sehen, was ihr in der
Vorzüglichkeit eures Geistes seid, sondern immerdar brennet ihr, das Böse
zu tun, nach dem die Begier eures Fleisches geht. Ein gutes Gewissen und den
rechten Geistesblick verschmäht ihr, als wenn ihr die Erkenntnis des Guten
und Bösen nicht hättet, noch die Ehre, daß ihr das Böse
zu meiden und das Gute zu vollbringen wisset. Höret mich, den Menschensohn,
der ich zu euch spreche:
O Mensch, sieh zu, was du warst, als du noch ungestaltet im Schoße deiner
Mutter lagst. Ohne Bewußtsein und Kraft warst du, als du das Leben empfingest.
Doch da wurde dir Geist und Bewegung und Empfindsamkeit gegeben, auf daß
du lebendig dich regtest und durch die Regung [deiner Kräfte] nutzbarer
Frucht innewürdest. Die Erkenntnis des
Guten und Bösen
und die Fähigkeit zu wirken wurde dir zuteil. Du kannst dich also nicht
entschuldigen, als besäßest du nicht die Fülle aller Güter.
Darum, wenn die Eingebung von oben dich ermuntert, so liebe Gott in Wahrheit
und Gerechtigkeit, und widerstehe dir selbst in dem Begehren und der Ergötzung
der Ungerechtigkeit. Du sollst dich selber kreuzigen und so mein Leiden verehren.
Denn wenn du in diesen Gluten wider dich selber streitest, trägst du mein
Kreuz an deinem Leibe, da du die unerlaubten Begierden fliehst, obgleich das
Sündigen dich ergötzt.
Und woher kommt dir die so große Macht, das Böse zu meiden und das
Gute zu tun? Von der Erkenntnis des Guten und Bösen, kraft deren du einsiehst,
daß du ein Mensch und mir verantwortlich bist. Aber du verachtest das
Gute und vollbringst das Böse, in Fleischesbegierden brennend. Denn das
Gute dünkt dich schwer, das Böse aber regt sich leicht in dir. Und
weil das so ist, willst du dich nicht in Zucht nehmen, sondern möchtest
frei sündigen. Was habe ich getan, als ich am Kreuze in Fleischesschwachheit
litt, als ich erbebte und geängstigt war, ich, der Menschensohn? Darum
fordere ich von dir — ich fordere es wider dich — das Martyrium,
das du durch die Lust deines Fleisches erduldest und durch die anderen Leidenschaften
und unerlaubten Begierden, die meinem Willen zuwider sind, und durch Versuchungen,
die daraus entspringen. Du kannst dich nicht entschuldigen, als wenn du es nicht
wüßtest, wann du das Gute und wann du das Böse tust. Nicht verwerfe
ich das Band der keuschen gesetzlichen Verbindung, die nach göttlichem
Ratschluß zur vervielfältigenden Zeugung der Söhne Adams eingesetzt
ist. Sie soll in wahrem Verlangen nach Nachkommenschaft und nicht in trügerischer
Fleischeslust von denen vollzogen werden, denen es ohne Unrecht erlaubt ist,
wie es ihnen das göttliche Gesetz gebietet [...].
Du sollst das Gute, das du von mir hast, wider dich selbst lieben. Himmlisch
bist du dem Geiste, irdisch
dem Fleische nach. Also mußt du das, was himmlisch ist, lieben und das,
was irdisch ist, niedertreten. Wirkst du das Himmlische, so werde ich dir den
ewigen Lohn reichen. Willst du aber im Willen deines Fleisches Frevelhaftes
vollbringen, so zeige ich dir mein Leiden und die Pein, die ich um deinetwillen
ertragen habe, damit du aus Liebe zu meinen Schmerzen dir selbst in deinen rebellischen
Begierden widerstehest. Viel Erkenntnis hast du in dir, viel Verständnis
wird deshalb von dir gefordert werden. Großes hast du empfangen, Großes
muß von dir zurückverlangt werden.
Aber in all diesem hin ich dein Haupt und deine Hilfe. Denn wenn du, vom himmlischen
Anstoß berührt, zu mir rufst, wirst du Antwort von mir vernehmen.
Wenn du an die Pforte klopfest, wird dir aufgetan werden. In dem Geiste durchdringender
Erkenntnis, der dich durchströmt, hast du alles in dir, was dir von Nutzen
ist. Und weil dies in dir ist, darum werden meine Augen mit schärfstem
Blicke zuschauen, was sie in dir finden. Von deinem Gewissen fordere ich die
Wunden und den Schmerz deines Herzens, mit denen du dir Gewalt antun sollst,
wenn du dich mit deinem Willen zur Sünde hingezogen fühlst, und solche
Glut in dir entbrennt, daß du ganz aufgelöst, kaum zu atmen vermagst.
Siehe, dann schaue ich auf dich. Und du? Was sollst du
tun? Wenn du in diesem Mühen mit verwundetem Herzen und tränenfeuchten
Augen, von der Furcht vor meinem Gerichte erschüttert, mich anrufst, und
wenn du in diesem Rufen verharrst, daß ich dir zu Hilfe eilen möge
wider die Verkehrtheit deines Fleisches und wider die Kämpfe der bösen
Geister, dann werde ich alles tun, was du begehrst, und meine Wohnstätte
werde ich in dir aufschlagen.
Nun also, mein Sohn, siehe zu, mit wieviel Mühe und Schweiß auf dem
Felde gearbeitet wird, bevor man den Samen hineinsenkt. Aber wenn die Aussaat
geschehen ist, bringt der Acker seine Frucht. Beachte und erwäge es. Verweigere
ich nicht der Erde, ohne den Schweiß der Arbeit Frucht zu tragen? Wenn
es mir gefällt, wird sie mit Frucht so überströmend erfüllt,
daß die Menschen reiches, überreiches Genügen haben. Und ein
anderes Mal, wenn ich es so will, ist der Ertrag so kärglich, daß
die Menschen vor Hunger fast nicht leben können oder manchmal sogar der
Schwäche erliegen. So ist es nach meiner Anordnung um die Menschen bestellt.
Dem, der willig und guten Herzens den Samen meines Wortes aufnimmt, verleihe
ich als gutem Acker die großen Gaben des Heiligen Geistes in reichlicher
Fülle. Der aber, der bald sich meinem Worte öffnet, bald ihm die Aufnahme
verweigert, ist wie ein Acker, der einmal grünt und das andere Mal brachliegt.
Doch wird ein solcher Mensch nicht ganz verlorengehen, weil er etwas grünende
Lebenskraft in sich hat, wenn er auch in seiner Seele Hunger leidet. Aber sterben,
ganz und gar, wird der, dem jede Bereitschaft für meine Ermahnung fehlt,
der weder durch die Anregung des Heiligen Geistes
noch durch die Belehrung der Menschen sein Herz zum Guten erwecken will. Darüber
wunderst du dich, o Mensch, und willst wissen, warum dies so geschieht. Aber
wie du mit sterblichem Blick die Gottheit
nicht anzuschauen vermagst, so
kannst du auch ihre Geheimnisse nicht mit sterblichem Sinn erfassen,
oder nur insoweit, als es dir durch Gottes Zulassung möglich ist.
Du aber verweilst mit zweifelnder
Seele bald hier, bald dort. Wie die Glut des brennenden
Herdfeuers das Wasser auflöst, so wird die Unruhe deiner törichten
Seele deinen Geist zernichten, weil du Dinge zu wissen begehrst, deren Erkenntnis
dem menschlichen, in Sünde empfangenen Fleische vorenthalten ist.
Hebe doch deinen Finger und berühre die Wolken! Was dann? Du kannst es
nicht. So auch das nicht, daß du erfassest, was du nicht wissen sollst.
Die Gräslein können den Acker nicht begreifen, aus dem sie sprießen.
Denn sie haben nicht Sinn und Verstand und kennen weder ihr eigenes Wesen noch
die Wirkung ihres Samens. Und doch umgeben sie den Acker mit der Anmut der Fruchtbarkeit.
Mücke und Ameise und die übrigen kleineren Tiere verlangen nicht,
über ihresgleichen zu herrschen oder Kraft und Sinn des Löwen und
der anderen großen Tiere zu verstehen. Wieviel weniger kannst du erkennen,
was im Wissen Gottes ist! Was hast du getan, oder wo warst du, als Himmel und
Erde erschaffen wurden? Der sie geschaffen hat, bedurfte dabei deiner Hilfe
nicht. So auch jetzt. Was erforschest du das Gericht Gottes? Wenn dich der heilbringende
Regen vom Himmel berührt, so zeige mir, wie du auf dem Acker deines Herzens
arbeitest, und wie du ihn bebaust! Gefällt mir deine Arbeit, so gebe ich
dir die beste Frucht, und deiner Mühe wird der Lohn der Fruchtbarkeit entsprechen.
Gewähre ich der Erde Frucht ohne Mühe? So auch dir, o Mensch, nicht
ohne Schweiß. Ihn fordere ich von dir. Denn durch mich hast du in dir,
wodurch du arbeiten kannst. Übe dich daher sorgsam in der Arbeit, und du
wirst Frucht erzielen. Und wenn du Frucht bringst, wirst du den Lohn davontragen.
Viele suchen mich mit hingegebenem, reinem und einfältigem Herzen und halten
mich fest, wenn sie mich gefunden haben. Viele aber wollen ihr Spiel mit mir
treiben. Ohne Anstrengung der Seele und des Denkens wollen sie an mich herantreten.
Sie überlegen nicht, daß sie mich zuerst anrufen und das Sinnen ihres
Leibes erwägen sollten. Sie wollen mich nur in Besitz nehmen. Wie ein aus
schwerem Schlafe Erwachender stürzen sie sich in der plötzlichen Aufwallung
des Truges und der Täuschung auf den Weg der Heiligkeit, so wie sie ihn
sich selber ausdenken. Sie nehmen mein Joch auf sich, die einen durch die Abschüttelung
weltlicher Geschäfte, die andern durch Enthaltsamkeit im Fleische, wieder
andere durch züchtige Jungfräulichkeit. Sie
bilden sich ein, alles zu können, was sie vorhaben.
Sie wollen nicht zusehen, wer und was sie sind, oder was
sie leisten können, noch sich zum Bewußtsein bringen, wer
sie gebildet hat und wer ihr Gott ist. Gott
soll ihr Diener sein, der all ihr Begehren ausführen muß. Solcher
Anmaßung gebe ich meine Gnade nicht. Ich will nicht einen leeren Acker
besäen in einem Menschen, der in solch eitlem Beginnen sich mit mir vereinigen
will, als wenn er wie ein Fremdling mich nicht kännte. Sein Fuß wird
häufig straucheln. Einem solchen sage ich: O Mensch,
warum hast du nicht den Acker deiner Seele besichtigt und die unnützen
Kräuter, Dornen und Disteln ausgerissen? Mich hättest du anrufen und
über dich selbst nachdenken sollen, bevor du, ohne Selbsterkenntnis, wie
ein Trunkener und Wahnsinniger zu mir kamst, denn kein Werk des Lichtes vermagst
du ohne meine Hilfe zu vollbringen. Wenn du mich so in Überstürzung,
gleichsam im Schlafe, gesucht hast, wird Überdruß in meinem Dienste
dich erfassen. Du wirst dich des früheren Schlafes erinnern, in dem du
in deinen Gewohnheitssünden darniederlagst, und ungeheilt, des Guten unkundig,
ohne Hilfe und Tröstung des Heiligen Geistes zu deinen alten Freveln zurückkehren.
Und wen hattest du dir dabei zum Führer und Helfer gesucht? Deine eigene
lug- und trugvolle Seele, die dich töricht in die Trockenheit führte,
ohne die grünende Lebensfrische und die Beherzigung der Selbsterkenntnis.
Vergessen hatte sie, daß du nichts Gutes ohne mich tun kannst. Und was
hast du dann? Wahrhaftig! Elend und leer wirst du stürzen vor mir und vor
allem Volke. Wie unnützer Staub wirst du zertreten. Denn was ist dir möglich
wider mich? Nichts. Aber was vermagst du mit mir? Die lichtesten Werke, die
da heller glänzen als der Glanz der Sonne und süßer sind als
Honig und Milch für den, der danach verlangt. Denn wenn du mich mit dem
innersten Erkennen deiner Seele suchst, wie du in der Taufe durch den Glauben
belehrt worden bist, tue ich dir dann nicht alles, was du begehrst?
Doch suchen mich viele nach ihrem Fall mit Seufzen und Schmerzen, die mich hätten
suchen sollen, ehe sie fielen. Ihnen reiche ich die Hand und sage: Warum hast
du mich nicht vor dem Fall gesucht? Wo war ich? Und wann habt ihr nach mir gesucht?
Habe ich euch etwa zurückgestoßen, da ihr mich suchtet? Und ich sage:
O Mensch, wenn du an der Brücke eines tiefen Gewässers ständest
und aus törichter Aufgeblasenheit, dich selbst vergessend [...], stolz
in deinem Innern sprächest: >Ich will an der Brücke vorbei und
übers Wasser gehen<, wäre das klug gehandelt? Und wenn du wirklich
in Anmaßung und Torheit so tätest, würdest du dann nicht in
demselben Geschöpf, das dir unterworfen und zu deinem Nutzen erschaffen
ist, deinen Geist aushauchen? Aber davor hütest du dich aus augenblicklicher,
spürbarer Furcht vor dem Wasser. Oder wenn du einen sehr großen,
umgehauenen Baum stürzen sähest, würdest du nicht fliehen, um
nicht zermalmt zu werden? Wenn du Löwen oder Bären dir entgegenkommen
sähest, würdest du nicht, von Schrecken gepackt, in die Erde kriechen,
wenn du könntest? Die Verletzung des Körpers fliehst du. Warum vermeidest
du nicht in der Furcht vor deinem Schöpfer den entsetzlichen ewigen Tod
der Seele? Hast du jemals gesehen oder gehört, daß einer mir widerstehen
konnte? Wer nicht mit mir ist, wird aufgelöst, und auf wen ich falle, den
zerschmettere ich. Was warst du, als Himmel und Erde erschaffen wurden? Diese
lassen ihre Kräfte nach dem ihnen eingesenkten Gesetze wirken. Du aber,
der du nach dem Ratschlusse Gottes gebildet und von seiner Erleuchtung berührt
bist, du übertrittst seine Gebote. O großer Wahn! Wegen des Geschöpfes,
das dir unterworfen ist, verschmähst du deinen Gott. Du springst hinweg
über Erde und Himmel, die deinen Schöpfer fürchten und ihm gehorchen.
[...] Du kennst ihn nicht und willst ihn nicht kennen. Darum wird dich, wenn
du nicht Buße tust, die Hölle in gerechtem Gerichte verschlingen
wie den, den du nachahmst. Wegen seiner Verhärtung wurde er aus dem Himmel
verstoßen.
Trotz allem aber: wenn du gefallen bist, so suche mich in gläubigem Hilferuf,
und ich werde dich aufrichten und emporziehen [...].«
3
Die Kirche ist die Braut Christi
Und danach sah ich, daß die bisher geschaute Frauengestalt wie ein Lichtglanz
urschnell aus dem ewigen Ratschluß hervortrat — während der
Sohn Gottes am Kreuze hing — und ihm durch göttliche Macht zugeführt
wurde. Überströmt von seinem Blute, das hoch aufsprudelnd aus seiner
Seite floß, wurde sie ihm durch den Willen des himmlischen Vaters in seliger
Vermählung angetraut und empfing als kostbare Hochzeitsgabe sein Fleisch
und Blut.
Und ich hörte, wie die Stimme vom Himmel zu ihm sprach:
»Diese, mein Sohn, sei dir Braut zur Wiederherstellung meines Volkes!
Sie soll ihm Mutter sein. Den Seelen schenke sie das Leben durch die erlösende
Wiedergeburt aus dem Geiste und dem Wasser.« Da erstarkte die Gestalt
zur Fülle ihrer Kräfte, und nun erschien eine Art Altar, zu dem sie
häufig hinzutrat. Immer wieder schaute sie mit tiefer Ehrfurcht auf ihre
Brautgabe und zeigte sie in Demut dem himmlischen Vater und seinen Engeln. Da
sah ich, als nun ein Priester, mit den heiligen Gewändern bekleidet, zur
Feier der göttlichen Geheimnisse an den Altar trat, wie plötzlich
heller Lichtglanz vom Himmel kam. Engel folgten ihm, und das Licht umflutete
den Altar. Das blieb so, bis sich nach Vollendung des heiligen Opfers der Priester
entfernte. Nachdem das Evangelium des Friedens verlesen und die Opfergabe für
die Konsekration auf dem Altar bereitgelegt war, sang der Priester den Lobpreis
des allmächtigen Gottes: »Sanctus, sanctus,
sanctus, Dominus, Deus Sahaoth!« und begann das unaussprechliche
Mysterium. In diesem Augenblick öffnete sich der Himmel. Ein feuriges Blitzen
von unbeschreiblich lichter Klarheit fiel auf die Opfergaben nieder und durchströmte
sie ganz mit seiner Herrlichkeit, wie die Sonne den Gegenstand, den sie bestrahlt,
mit ihrem Lichte durchdringt. Und der blitzende Schein trug die Opfergabe in
unsichtbare Höhen bis in das Innerste des Himmels empor und ließ
sie wieder auf den Altar hernieder, ähnlich wie ein Mensch beim Atmen die
Luft einzieht und sie wieder aushaucht. Obgleich nun die Opfergaben für
das Auge der Menschen noch das Aussehen von Brot und Wein hatten, waren sie
doch in wahres Fleisch und wahres Blut umgewandelt. Deshalb erschienen auch
sogleich vor meinen Augen wie in einem Spiegel die Sinnbilder der Geburt, des
Leidens, des Begräbnisses, der Auferstehung und Himmelfahrt unseres Erlösers,
des eingeborenen Sohnes Gottes, wie sich all dieses während seines irdischen
Lebens zugetragen hat. Aber als der Priester das Lied von dem unschuldigen Lamme:
»Agnus Dei, qui tollis peccata mundi«,
sang und sich zum Empfang der heiligen Kommunion anschickte, zog sich das feurige
Blitzen zurück. Der Himmel schloß sich, doch hörte ich aus seinem
Innern eine Stimme: »Esset und trinket den Leib
und das Blut meines Sohnes, auf daß die Sünde Evas getilgt werde
und ihr in euer rechtmäßiges Erbe eingehet.«
Als nun auch die übrigen Menschen zum Priester hinzutraten,
um das heilige Sakrament zu empfangen, gewahrte ich unter ihnen fünf verschiedene
Gruppen. Einige hatten leuchtende Körper, ihre Seelen waren feurig. Bei
anderen erschienen die Körper schattenhaft, die Seelen finster. Wieder
andere waren struppig dem Leibe nach und starrten von vielfachem Schmutz menschlicher
Befleckung der Seele nach. Die vierten waren rings von scharfen Dornen umgeben,
und ihre Seelen schienen mit Aussatz behaftet. Die letzten endlich waren blutigen
Leibes, und ihre Seelen gaben üblen Geruch wie ein verwesender Leichnam.
Von all diesen wurden beim Empfang des Sakramentes die einen wie mit feurigem
Glanz übergossen, die anderen wie von einer dunklen Wolke in Finsternis
gehüllt. Als sich nach Vollendung des heiligen Geheimnisses der Priester
vom Altar entfernte, zog sich auch der helle Lichtglanz, der den Altar bis dahin
umstrahlt hatte, wieder nach oben in die Verborgenheit des Himmels zurück.
Und wiederum hörte ich, wie eine Stimme von den Höhen des Himmels
herab zu mir sprach:
»Als Christus Jesus, der wahre Sohn Gottes, am Leidensholze hing, wurde
ihm die Kirche in der Verborgenheit der himmlischen Geheimnisse vermählt,
und sie empfing als Hochzeitsgabe sein purpurfarbenes Blut. Darauf deutet sie
selber hin; denn immer wieder tritt sie zum Altare hinzu, bittet um ihre Hochzeitsgabe
und beobachtet mit größter Aufmerksamkeit, wie innig die Andacht
sei, mit der ihre Kinder zum Empfang der göttlichen Geheimnisse hinzutreten.
Deshalb siehst du, wie die Gestalt gleich einem Lichtglanz schnell aus dem ewigen
Ratschlusse hervorgeht und durch göttliche Macht dem Sohne Gottes zugeführt
wird, der am Kreuze hängt. Als er, das unschuldige Lamm, zum Heile der
Menschen auf dem Altare des Kreuzes erhöht war, ging plötzlich aus
dem abgrundtiefen Geheimnis des göttlichen Ratschlusses die Kirche hervor.
Strahlend in der reinen Weiße des Glaubens und aller Tugenden erschien
sie im Himmel und wurde durch die höchste Majestät dem eingeborenen
Sohne Gottes zugeführt. Was bedeutet dies? Als aus der Seitenwunde des
Herrn das Blut floß, wurde die Erlösung der Seelen geboren. Die Herrlichkeit,
deren der Teufel und seine Anhänger verlustig gegangen waren, wurde Erbteil
der Menschen. Denn als mein eingeborener Sohn in der Zeit den Kreuzestod auf
sich nahm, entriß er der Hölle ihre Beute und führte die gläubigen
Seelen zum Himmel. Rasch begann sich nun in den Jüngern und denen, die
ihnen aufrichtig folgten, der Glaube zu mehren und zu kräftigen, und so
wurden sie Erben des himmlischen Reiches.
Daher erscheint die Gestalt ganz überströmt von seinem Blute, das,
hoch aufsprudelnd, aus seiner Seite fließt, und wird ihm durch den Willen
des himmlischen Vaters in seliger Vermählung angetraut. Wie der Duft wohlriechender
Kräuter emporsteigt und sich in der Höhe ausbreitet, so schwoll die
Kraft des Leidens Christi mächtig an und erhob sich wunderbar zur Höhe
der himmlischen Geheimnisse. Da wuchs durch sie die Kirche in
[ihren Gliedern], den blendendweißen Erben des himmlischen Reiches,
und wurde so dem eingeborenen Sohne Gottes nach der Bestimmung des himmlischen
Vaters im Glauben vermählt. Wie die Braut sich dem Bräutigam im Dienste
der Unterwürfigkeit und des Gehorsams hingibt und von ihm im Bunde der
Liebe die Gabe der Fruchtbarkeit empfängt, wie sie die Kinder in das ihnen
zustehende Erbe einführt, so ist die Kirche dem Sohne Gottes im Dienste
der Demut und Liebe vereint. Sie empfängt von ihm
die Kraft zur Wiedergeburt aus dem Geiste und dem Wasser zur Erlösung der
Seelen und zur Wiederherstellung des Lebens. Sie geleitet ihre Kinder
zur himmlischen Heimat.
Deshalb empfängt sie auch als kostbare Hochzeitsgabe sein heiliges Fleisch
und Blut. Denn der eingeborene Sohn Gottes reicht den Gläubigen, die zugleich
die Kirche und die Kinder der Kirche sind, in [verborgen]
leuchtender Herrlichkeit sein Fleisch und Blut, auf daß sie durch
ihn das Leben besitzen in der heiligen Stadt Gottes. Er hat seinen Leib und
sein Blut für die Heiligung der Gläubigen dahingegeben, wie der himmlische
Vater ihn zur Erlösung der Völker dem Leiden überliefert hat.
In ihm besiegte Gott
die alte Schlange durch Demut und Gerechtigkeit, da er sie durch seine Macht
und Kraft nicht überwinden wollte. [...]
Wenn zwei Kämpfer einander gegenüber ständen, von denen der eine
dem andern an Kraft überlegen wäre, so würde gewiß der
Stärkere den Schwächeren seine ganze Macht fühlen lassen. Er
würde ihn beschämen und niederringen und ihm in keinem Stücke
nachgeben. Nicht so handelt Gott.
Dem Werke der Bosheit setzte er die höchste Güte entgegen. Er sandte
seinen Sohn in die Welt. Dieser führte im Fleische durch tiefste Demut
das verlorene Schaf zur himmlischen Hürde zurück.
Das Blut, das seinem Leibe entströmte, wurde alsbald nach Öffnung
der Wunden im Himmel sichtbar und flehte um die Rettung der Seelen. Und
die Schöpfung tat
kund, daß durch sein Leiden und seinen
Tod der Untergang des Menschen vernichtet und das Leben erstanden ist. Denn
er, der selber das Leben ist, opferte sich zur Erlösung
des Menschengeschlechtes im Todesleiden auf dem Altar des Kreuzes. Zugleich
erwählte er sich, wie du durch die Stimme aus den himmlischen Geheimnissen
in wahrhaftiger Kundgebung vernommen hast, als Braut die Kirche, damit sie zur
Wiederherstellung des Heiles die Mutter aller Gläubigen werde. Ohne
Makel, in geistiger Neugeburt, sendet sie ihre Kinder
zum Himmel. [...]«
4
Schau der Trinität; Rettung des Menschen aus Liebe
Alsdann sah ich ein überhelles Licht und darin
eine saphirblaue Menschengestalt, die durch und
durch im sanften Rot funkelnder Lohe brannte. Das
helle Licht durchflutete ganz die funkelnde Lohe
und die funkelnde Lohe ganz das helle
Licht. Und [beide], das helle
Licht und die funkelnde Lohe durchfluteten
ganz die Menschengestalt, [alle drei] als
ein Licht wesend
in einer Kraft und
Macht.
Wiederum hörte ich, wie dieses lebendige Licht zu mir sprach:
»Das ist der Sinn der Geheimnisse Gottes, daß
klar erschaut und erkannt werde, welches die Fülle sei, die ohne Ursprung
ist, der nichts abgeht, deren mächtigster Kraft alle Rinnsale der Starken
entquillen. Denn wenn der Herr eigener Lebenskraft leer wäre, was
wäre dann sein Werk? In Wahrheit, es wäre eitel. Nun aber erkennt
man im vollkommenen Werke, wer sein Erbauer ist.
Deshalb siehst du ein überhelles Licht. Makellos, ohne Abstrich und Minderung
und Täuschung sinnbildet es den Vater. Und darin eine saphirblaue Menschengestalt.
Makellos, ohne Härte des Neides und der Bosheit, zeichnet sie den Sohn,
der seiner Gottheit nach vor aller Zeit aus dem Vater gezeugt, seiner Menschheit
nach in der Zeit zur Welt geboren wurde. Seine Gestalt brennt durch und durch
im sanften Rot funkelnder Lohe. Makellos, ohne Dürre finsterer Sterblichkeit,
weist sie auf den Heiligen Geist, von dem der Eingeborene Gottes, dem Fleische
nach empfangen und aus der Jungfrau in der Zeit geboren, der Welt das Licht
der wahren Herrlichkeit ergoß.
Daß aber das helle Licht ganz die funkelnde Lohe und die funkelnde Lohe
ganz das helle Licht, und daß [beide,] das helle Licht und die funkelnde
Lohe ganz die Menschengestalt durchfluten, [alle drei] als ein Licht
wesend in einer Kraft und Macht, das bedeutet, daß der Vater,
die gerechteste Gerechtigkeit, nicht ohne den Sohn und den Heiligen Geist, daß
der Heilige Geist, der Herzensentzünder, nicht ohne den Vater und den Sohn,
und daß der Sohn, die Fülle aller Fruchtbarkeit, nicht ohne den Vater
und den Heiligen Geist ist. Untrennbar sind sie in der Majestät der Gottheit,
denn der Vater ist nicht ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Vater, noch Vater
und Sohn ohne den Heiligen Geist, noch der Heilige Geist ohne den Vater und
Sohn. Und diese drei Personen sind Ein Gott in der einen und ungeteilten
hochherrlichen Gottheit. Untrennbar lebt die Eine Gottheit in diesen drei Personen,
denn die Gottheit kann nicht gespalten werden. Immerdar bleibt sie unverletzlich,
ohne jede Veränderlichkeit.
Aber der Vater wird offenbar durch den Sohn, der Sohn durch den Ursprung der
Geschöpfe und der Heilige Geist durch die Menschwerdung des Sohnes. Wieso
das? Der Vater ist es, der den Sohn zeugte vor aller Zeit. Der Sohn ist es,
durch den alles vom Vater gemacht wurde am Anfang der Zeit. Der Heilige Geist
ist es, der in Gestalt einer Taube erschien bei der Taufe des Gottessohnes gegen
Ende der Zeiten.
Deshalb vergesse der Mensch niemals, mich, den Einen Gott, in diesen drei Personen
anzurufen. Denn dazu habe ich sie dem Menschen geoffenbart, damit er um so glühender
in der Liebe zu mir entbrenne, da ich aus Liebe zu ihm meinen eigenen Sohn in
die Welt sandte, wie mein geliebter Jünger Johannes
bezeugt, da er spricht:
>Dadurch hat sich die Liebe Gottes an uns erwiesen, daß Gott seinen
eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin
besteht die Liebe: nicht als hätten wir Gott geliebt, sondern er hat uns
zuerst geliebt und seinen Sohn gesandt als Sühneopfer für unsere Sünden<
[1. Joh. 4,9 f]. Was heißt das? Ein anderes Heil erblühte uns in
dieser Liebe Gottes als das, das wir bei unserem ersten Ursprung empfangen hatten,
da wir Erben der Unschuld und Heiligkeit waren; denn nun neigte der himmlische
Vater seine Liebe uns Gefährdeten und Straffälligen zu. Er sandte
sein eingeborenes Wort unter die Söhne der Menschen in vollkommener Heiligkeit.
Er sandte es durch göttliche Kraft in die Finsternis der Jahrhunderte,
damit es in ihr alles Gute wirke. Durch seine Sanftmut führte es die zum
Leben zurück, die in Sündenschmutz darniederlagen und [aus sich] die
verlorene Heiligkeit nicht wiederzuerlangen vermochten. Denn durch das Wort,
das der Lebensquell selber ist, kam die umarmende Mutterliebe Gottes hernieder.
Sie nährte uns zum Leben. Sie steht uns bei in der Gefahr. Sie ist das
tiefste, mildeste Erbarmen, das uns den Weg der Umkehr zeigt. Voll Mitleid gedachte
Gott seines großen Werkes, seiner kostbarsten Perle, des Menschen, den
er aus Erdenlehm gebildet, und dem er den Atem des Lebens eingehaucht hatte.
Er erbaute das Leben in wirksamer Buße, die nie zuschanden wird. Denn
die listige Schlange hatte den Menschen durch stolze Einflüsterung betrogen.
Dafür wurde sie von Gott gestürzt durch die Buße, deren innerstes
Wesen Demut ist. Sie kennt und übt der Teufel nicht. Er hat den geraden
Weg nicht zu ersteigen gewußt.
So ist die Rettung der Liebe nicht von uns ausgegangen, die wir unwissend und
unfähig waren, Gott zu unserem Heile zu lieben. Er vielmehr, der Schöpfer
und Herr aller Dinge, hat sein Volk so sehr geliebt, daß er, um es zu
retten, seinen Sohn sandte, das Haupt und den Erlöser der Gläubigen.
Dieser wusch und trocknete unsere Wunden. Aus ihm träufelte die süßeste
Fülle, aus der alle Güter der Erlösung fließen.
Deshalb erkenne auch du, Mensch, daß kein Widerstreit von Veränderlichkeit
Gott je berührt. Denn der Vater ist Vater, der Sohn
ist Sohn, der Heilige Geist ist Heiliger Geist: Drei Personen, unteilbar lebend
in der Einheit der Einen Gottheit.
Drei Kräfte sind im Steine, drei in der Flamme und drei im Worte. Im Steine
sind feuchte Grüne, tastbare Geschlossenheit, funkelndes Feuer. Die feuchte
Grüne, damit er sich nicht auflöse und zerfalle, die tastbare Geschlossenheit,
damit er Wohnung und Verteidigung biete, das funkelnde Feuer, damit er erwärmt
und gehärtet werde zu seiner Dauerhaftigkeit. Die feuchte Grüne sinnbildet
den Vater, der nie verdorrt und nie zergeht. Die tastbare Geschlossenheit deutet
auf den Sohn, den man, da er aus der Jungfrau geboren war, berühren und
betasten konnte. Das funkelnde Feuer ist das Bild des Heiligen Geistes, der
die Herzen der Gläubigen entzündet und erleuchtet. Manchmal zieht
der Mensch sich durch die Feuchtigkeit der Steine eine Krankheit zu. So leidet
auch der Schiffbruch an seinem Glauben, der in unstetem Grübeln verwegen
den Vater anzuschauen versucht. In der tastbaren Geschlossenheit der Steine
richten sich die Menschen ihre Wohnungen zum Schutz gegen ihre Feinde ein. So
ist der Sohn Gottes der wahre Eckstein, die Zufluchtsstätte des gläubigen
Volkes vor den bösen Geistern. Wie endlich das funkelnde Feuer die Finsternis
erhellt und das, worauf es herabfällt, in Brand setzt, so muß vor
dem Heiligen Geiste der Unglaube weichen und die rote Glut aller Gottlosigkeit
zerrinnen. Wie nun diese drei Kräfte in dem einen Steine sind, so ist die
wahre Dreiheit in der wahren Einheit.
Auch die Flamme hat in dem einen Brand drei Kräfte. So ist der eine Gott
in drei Personen. Die Flamme brennt in glänzendem Lichte, in purpurnem
Hauch und in feuriger Glut. Durch das glänzende Licht leuchtet sie, durch
den purpurnen Hauch flammt sie, durch die feurige Glut wärmt sie. In dem
glänzenden Lichte betrachte den Vater, der aus Vaterliebe seine Herrlichkeit
den Gläubigen ergießt. In dem purpurnen Hauch, der ihr innerlich
eigen ist, und durch den sie ihre Kraft bezeugt, erkenne den Sohn, der aus der
Jungfrau einen Leib annahm, an dem die Gottheit ihre Wunder kundtat. In der
feurigen Glut schaue den Heiligen Geist, der die Geister der Gläubigen
zündend durchströmt. Wo aber weder das glänzende Licht noch der
purpurne Hauch noch die feurige Glut ist, da ist auch keine Flamme. So wird
auch da, wo weder der Vater noch der Sohn noch der Heilige Geist in Ehrfurcht
erkannt wird, Gott nicht geziemend verehrt. Wie also in der einen Flamme diese
drei Kräfte erschaut werden, so die drei Personen in der Einheit der Gottheit.
Auch im Worte kann man drei Dinge unterscheiden, in denen die Dreiheit in der
Einen Gottheit schaubar wird. Inwiefern? Im Worte sind Schall, Prägung
und Hauch. Der Schall bewirkt, daß das Wort gehört wird, die Prägung,
daß es verstanden wird, der Hauch trägt es seinem Ziele zu. Im Schalle
erkenne den Vater, der mit unsagbarer Macht alles weithin offenbart, in der
Prägung den Sohn, der wundersam aus dem Vater gezeugt ist, im Hauche den
Heiligen Geist, der milde in ihnen brennt. Wo aber kein Schall gehört wird,
da kommt keine Prägung zustande, noch kann der Hauch seine Schwingen erheben,
es wird also auch kein Wort verstanden. So sind der Vater, der Sohn und der
Heilige Geist nicht voneinander getrennt, einmütig wirken sie ihr Werk.
Wie also die drei Dinge in dem einen Worte sind, so ist die hocherhabene Dreifaltigkeit
in der hocherhabenen Einheit. [...]
So erkenne denn den Einen Gott in drei Personen, o Mensch.
Du hältst in der Torheit deines Herzens Gott nicht
für seinsmächtig genug, wahrhaft in drei Personen zu leben und willst
ihm nur das schwache Sein in einer einzigen zuerkennen. Und doch ist
[nur] Gott in drei Personen der wahre Gott,
»der Erste und der Letzte« [Offb.
1,17].
Aber der Vater ist nicht ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Vater, noch der
Vater und der Sohn ohne den Heiligen Geist, noch der Heilige Geist ohne Vater
und Sohn, denn diese drei Personen sind untrennbar in der Einheit der Gottheit.
«
5
Hildegards Demut und der Lichtkreis göttlicher Macht
Und ich, ein Mensch, von Menschen gezeugt und doch nicht würdig, Mensch
zu heißen wegen der Übertretung des Gesetzes Gottes — ich sollte
ja gerecht sein und bin doch ungerecht — außer, daß ich durch
seine Gnade, die mich auch heilen wird, ein Geschöpf Gottes bin —
ich schaute nach Osten, und siehe, dort erblickte ich etwas wie einen Stein
von unausmeßbarer Breite und Höhe, eine einzige eisenfarbene Masse.
Darüber eine glänzendweiße Wolke und darauf einen gerundeten
Königsthron. Auf ihm saß einer — der Lebendige, leuchtend in
wundersamer Herrlichkeit und solcher Lichtfülle, daß ich ihn unmöglich
in voller Klarheit anzuschauen vermochte. Gleichsam im Herzen hatte er etwas
wie schwarzen, schmutzigen Lehm, so breit wie das Herz eines erwachsenen Menschen,
umgeben von Edelsteinen und Perlen.
Und von dem Leuchtenden, der auf dem Throne saß, ging — goldfarbig
wie Morgenrot — ein großer [Licht-]Kreis aus, dessen Spannweite
ich unmöglich begreifen konnte. Er kreiste vom Osten zum Norden und weiter
zum Westen und zum Süden und kehrte dann zum Osten zurück, zu dem
Leuchtenden, der auf dem Throne saß. Ohne Ende kreiste er. Hocherhaben
war dieser Lichtkreis über der Erde, so hoch, daß ich seine Höhe
nicht zu begreifen vermochte. Er entsandte einen Glanz, dessen Anblick furchtbar
war, bald wie Stein oder Stahl, bald wie Feuer, und dieser Glanz floß
in seiner allumfassenden Weite so hoch hinauf in des Himmels Höhe und so
tief hinab in des Abgrunds Tiefe, daß ich seines Leuchtens keine Grenze
erschauen konnte.
Darauf sah ich, wie aus dem Geheimnis des auf dem Throne Sitzenden ein großer
Stern in lichtem Glanz und strahlender Schönheit hervorging. Ihm folgten
zahlreiche sprühende Funken, die alle mit ihm zum Süden zogen. Doch
schauten sie den auf dem Throne Sitzenden mit einem Blicke an, als kennten sie
ihn nicht. Plötzlich kehrten sie sich von ihm ab und steuerten dem Norden
zu, hinweg aus seinem Anblick. Im gleichen Augenblick erloschen sie und wurden
schwarz wie schwarze Kohle. Und sofort fuhr ein Wirbelwind von ihnen aus, der
sie vom Süden verjagte, zum Norden hin, hinter den, der auf dem Throne
saß. Sie stürzten in den Abgrund, und nicht einen von ihnen sah ich
wieder.
Doch schaute ich, wie bei ihrem Erlöschen sofort der lichte Glanz, der
ihnen entzogen war, zu dem zurückkehrte, der auf dem Throne saß.
Und nun hörte ich, wie der auf dem Throne Sitzende zu mir sprach: «Schreibe,
was du siehst und hörst!«
Da antwortete ich aus dem innersten Erkennen meines Schauens: »Ich
bitte dich, Herr, gib mir Verstehen, daß ich diese Geheimnisse in Worte
fassen kann. Verlaß mich nicht, sondern gib mir Kraft aus der Morgenröte
deiner Gerechtigkeit, in der dein Sohn sich offenbarte. Gib du mir ein und laß
mich erkennen, wie ich den göttlichen, den ewigen Ratschluß kundtun
soll, kraft dessen du wolltest, daß dein Sohn Fleisch annehme und Mensch
werde in der Zeit. Denn dies war dein Wille vor jeglicher Schöpfung in
deiner unverrückbaren Schau und im Feuer der Taube - deines Geistes —,
daß dein Sohn als strahlende Sonne wundersam im Frühlicht der Jungfräulichkeit
aufgehe, sich wahrhaft mit der Menschennatur umkleide und Menschengestalt annehme
um des Menschen willen«.
Und wiederum hörte ich, wie er sprach: »Wie
schön sind deine Augen, wenn du Gottestaten kündest, und wenn in ihnen
die Morgenröte des göttlichen Ratschlusses aufleuchtet!«
Ich hinwider antwortete: »Wie Asche und Aschenkot
bin ich vor mir im tiefen Grunde meiner Seele und wie verwehender Staub. Zitternd
verweile ich im Schatten wie unter schützenden Flügeln. Vertilg mich
nicht als einen Fremdling aus dem Lande der Lebendigen! Denn schwer mühe
ich mich ab mit dieser Schau. Und wegen der Geringheit meiner unbeholfenen Einsicht,
die mein Anteil im Fleische ist, stelle ich mich an den geringsten, niedrigsten
Platz, weil ich nicht wert bin, Mensch zu heißen. Groß ist meine
Furcht, und ich wage nicht, deine Geheimnisse kundzutun. O Vater, voll Güte
und Milde, belehre mich, was dein Wille ist und was ich reden soll. Vater, Schauererregender,
Liebreichster, der du voll bist jeglicher Gnade, verlaß mich nicht, sondern
bewahre mich in deiner Barmherzigkeit!«
Und wiederum hörte ich, wie die Stimme sprach: »Rede,
wie du belehrt worden bist. Ich will, daß du redest, obgleich du Asche
bist. Rede, enthülle das Brot, das der Sohn Gottes ist! Leben in feuriger
Liebe ist er. Er erweckt jeden, der in der Seele oder im Leibe tot ist. Er löst
die Sünden in lichte Herrlichkeit auf, er, der selbst das erstehende Leben
der Heiligkeit im Menschen ist. [. . .]
Schreibe über die wahre Erkenntnis des Schöpfers
kraft seiner Güte also:
Gott hat alles erschaffen und den Menschen zu jener Herrlichkeit berufen, aus
der der verlorene Engel mir seinem Anhang verstoßen wurde. Ihn muß
jedes seiner Geschöpfe mit höchster Ehre und tiefster Furcht umfangen.
Denn die Gerechtigkeit verlangt, daß dem Schöpfer von seinem Geschöpfe
jegliche Ehre gezollt und er, dem alles untertan ist, mit treuestem Glauben
angebetet werde.
Darauf deutet der Stein, den du siehst, mit untrüglicher Sicherheit. Er
stellt in geheimnisvollem Bilde die Größe der Gottesfurcht
dar, die in reinster Zielrichtung in den Herzen der Gläubigen erstehen
und beständig bleiben muß. Daß er dir als eine einzige Steinmasse
von unausmeßbarer Breite und Höhe und eisenfarbig erscheint, das
bedeutet, daß diese starke, gewaltige Größe
der Gottesfurcht unerschütterlich festgehalten werden muß, denn jegliches
Geschöpf muß Gott fürchten in voller Ungeteiltheit als den Einen
und Wahren. Kein anderer ist außer ihm, und keiner ist ihm gleich.
Von unausmeßbarer Breite ist der Stein, denn Gott ist unfaßlich
in allem und über allem — und von unausmeßbarer Höhe,
denn seine heilige Gottheit kann keiner begreifen, nicht einmal berühren
mit seinem Verstand, so hoch er ihn auch emporrecken mag. Gott ist höher
als alles. Die Eisenfarbe des Felsens aber besagt, daß die Gottesfurcht
dem Menschengeiste eine harte Last ist. Schwer liegt sie auf auf der Armseligkeit
der zerbröckelnden Asche, und immer wieder lehnt das menschliche Geschöpf
sich wider Gott auf.
Die glänzendweiße Wolke, die über dem Steine lagert, versinnbildet
die lichte Weisheit des menschlichen Geistes. Der gerundete Königsthron
ist der starke, grundlegende Glaube, der im christlichen Volke kreist. [. .
.] in ihm wird Gott gläubig erkannt. Denn wo die
Gottesfurcht Wurzel faßt, da darf die Weisheit des menschlichen Geistes
— der Wolke gleich — emporsteigen. Und dann wird mit Gottes
Hilfe auf ihr der Thron des Glaubens aufgerichtet, in dem Gott ruht. Der Menschenweisheit,
die in heiliger Furcht Gott naht, gibt er sich im Glauben zu erkennen. Denn
der Glaube berührt ihn wie der Thron seinen Herrn. In ihm bereitet Gott
sich seinen Sitz und herrscht, er, der Allerhöchste, über alles: Denn
er ist unbegreiflich in seiner Macht und Hoheit. Er thront
allein im reinen Glauben. Einer ist, an den alle glauben müssen —
Gott.
Darum durchleuchtet wunderbare Herrlichkeit den Lebendigen,
der auf dem Throne sitzt, und ist die Lichtfülle so groß, daß
du ihn unmöglich in voller Klarheit anzuschauen vermagst. Denn er
ist der Allherrscher, der Eine, Gott, leuchtend in Güte, wunderbar in seinen
Werken. Seine unermeßliche Herrlichkeit kann in ihrer geheimnisvollen
Tiefe kein Mensch vollkommen erschauen, es sei denn, soweit der Glaube ihn erkennt,
der ihn umfaßt und trägt. Doch wie der Thron seinen Herrn trägt
und umfängt und dennoch unter ihm bleibt und sich nicht über ihn erhebt,
so verlangt auch der Glaube nicht, in stolzer Anmaßung Gott zu schauen,
sondern er berührt ihn mit tiefinnerer Unterwürfigkeit.
Doch im Herzen des Lebendigen siehst du etwas wie schwarzen, schmutzigen Lehm,
so breit wie das menschliche Herz, rings umgeben von kostbaren Steinen und Perlen.
Das ist der Mensch, der schwache, hinfällige, elende Lehm. Ihn trägt
Gott durch die Liebe zu seinem menschgewordenen Sohne in seiner Brust, das heißt
im Geheimnis seiner Weisheit. Schwarz erscheint er wegen der Schwarze der Sünden
und schmutzig wegen der Befleckung des Fleisches. Durch seine Breite, die der
eines menschlichen Herzens gleicht, deutet er auf die Weite der tiefen und großen
Weisheit, mit der Gott den Menschen erschuf und dabei alle die erschaute, die
durch Buße das Heil ihrer Seele finden. Was immer für ein Laster
ihrer Schwäche Kämpfe bereiten mag, endlich gelangen sie doch zu ihm.
Und dann leuchten sie alle in vielfacher Zier — die Märtyrer und
Jungfrauen wie köstliches Edelgestein, die übrigen unschuldigen oder
büßenden Kinder der Erlösung wie Perlen — und umstrahlen
herrlich den Lehm. So große Kräfte leuchten
im menschlichen Leibe auf — Kräfte, die in
Gott sind und in ihm funkeln in lichter Klarheit. [...]
Darauf deutet der schmutzige Lehm, den du im Herzen des gütigen Vaters
siehst. Denn der Sohn Gottes, der aus dem Herzen des Vaters hervorgegangen ist,
kam in die Welt. Ihm hangen die Gläubigen an in hingebender Treue. Deshalb
erscheinen auch sie im Herzen des gütigen Vaters, auf daß kein Engel
noch irgendwelche Kreatur den Menschen verachte. Denn der Sohn des höchsten
Gottes nahm in der Fleischwerdung die Natur des Menschen in sich selber auf.
[. . .] Was vom Vater geliebt wird, das lieben auch die Engel im Sohne . . .
Mein Sohn aber ist Mensch. Er sammelt die unschuldigen
Schäflein, die aus der Schuld Adams gelöst sind durch die Unschuld
der Taufe, in der der alte Mensch mit seinen Werken stirbt. Und er hebt sie
durch seine Gnadenkräfte und sein Gesetz in seinen Schoß. Über
die höchsten Himmel trägt er sie empor, so daß sie seine Glieder
werden. Darum erscheint der Mensch im innersten Geheimnis der Gottheit in seiner
Natur. Keinem Engel und keinem anderen Geschöpf ward solches zuteil, denn
mein Eingeborener nahm zur Erlösung des Menschengeschlechtes aus jungfräulichem
Fleische die Menschennatur. Er trägt also die Schäflein in seinem
Herzen, Er trägt die Menschen in seinem Blute. [...] Und wenn du sie im
Schoße des Vaters erscheinen siehst, so bedeutet das, daß der Menschensohn
in seinen Gliedern ausgestaltet wird im Geheimnis des Vaters. Wenn
die Welt ihren Lauf vollendet, dann werden auch die Erwählten Christi als
seine Glieder vollendet sein [...]«
Aus: Mystische Texte des Mittelalters . Ausgewählt
und herausgegeben von Johanna Lanczkowski
Reclams Universalbibliothek Nr. 8456 (S. 51-77) © 1988 Philipp Reclam jun.,
Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis
des Reclam Verlages