Johann
Wilhelm Herrmann (1846 – 1922)
Deutscher Philosoph und Theologe,
der in Halle bei Tholuck studierte und durch entscheidende
Anregungen von Kant und Schleiermacher
geprägt wurde. Herrmann wurde ein Anhänger Ritschls und betrachtet wie dieser die Religion als ein Bedürfnis, das von wissenschaftlicher
Erkenntnis und Metaphysik unabhängig ist. Der Glaube beruht nach seiner
Ansicht auf Werturteilen mit besonderer Geltungskraft, die auf höchste
Bedürfnisse und Ziele der Persönlichkeit bezogen sind, denen sie entsprechen.
Siehe auch Wikipedia
Inhaltsverzeichnis
Der Verkehr mit Gott
, Vagabund und
Rentier
Der
Verkehr mit Gott
In der christlichen Gemeinde werden wir nicht nur mit
dem äußeren Gefüge der Lebensschicksale und des geschichtlichen
Werkes Jesu bekannt gemacht, sondern wir werden vor ihn selbst geführt
und erhalten ein Bild seines inneren Lebens. Dabei sind wir freilich
erst recht von andern Menschen abhängig. Denn das Bild des innern Lebens
Jesu konnte nur von den Menschen bewahrt werden, die die befreiende Wirkung
dieser Tatsache an sich erfuhren. Andern blieb die Persönlichkeit Jesu
verborgen. Sie konnte sich nur denen offenbaren, die durch
sie gehoben wurden. Nur in seiner Gemeinde konnte sich daher ein Bild
seines innern Lebens erhalten. Aber auch das Verständnis dieses Bildes
wird uns nur dadurch erschlossen, dass wir mit Menschen zusammentreffen,
an denen es seine Wirkung getan hat. Wir bedürfen des Verkehrs mit Christen,
damit uns an dem in der Gemeinde erhaltenen Bilde Jesu das innere Leben hervortrete,
das ihm zugrunde liegt.
Erst indem wir seine Wirkungen sehen, gehen uns die Augen für seine Wirklichkeit
auf, an der wir dann auch dasselbe erleben können. Wir würden also
das Wichtigste in der geschichtlichen Erscheinung Jesu nicht erfassen, wenn
die Gemeinde es uns nicht vermittelte. Das neutestamentliche
Zeugnis von Jesus ist in seiner Gemeinde entstanden und wird von seiner Gemeinde
durch das Leben, das sich aus diesem ihrem Besitze entwickelt, ausgelegt. Etwas Ähnliches findet bei jeder Persönlichkeit statt. Man muss in
dem Lebensbereiche stehen, den sie geschaffen oder auf den sie eingewirkt hat,
um ihr inneres Leben verstehen zu können. Wir sind also bei der Erfassung
des Wichtigsten in der Geschichte nicht nur von der Überlieferung abhängig,
sondern immer auch von den Menschen, deren gegenwärtiges Leben uns die
Überlieferung auslegt.
Wer das empfunden hat, kann der historischen Kritik an den neutestamentlichen
Schriften getrosten Herzens freien Raum lassen. Denn wenn uns eine solche Arbeit
Widersprüche und Unvollkommenheiten der Erzählung aufdeckt, so wird
uns dadurch zugleich die Kraft der Persönlichkeit
Jesu aufgedeckt, die durch das alles die klaren Züge dessen nicht
verwischen ließ, was sie der Menschheit zu geben hatte, ihres inneren
Lebens. Wie sich uns auch die Überlieferung darbieten mag, ob historisch-kritisch
bearbeitet oder nicht, es soll und kann immer das gleiche stattfinden, dass wir in ihr das innere Leben Jesu sehen lernen.
Die historische Arbeit am Neuen Testament kann uns dem, worauf es für die
Begründung des Glaubens ankommt, schlechterdings nicht näherbringen.
Erst aus der Freude daran und an dem Staunen darüber, dass so etwas
wie dies persönliche Leben in der Welt wirklich ist, kann sich christliche
Religion entwickeln. Wir mögen uns noch so sehr von Jugend auf in eine
wohlgefügte Summe christlicher Lehren eingewöhnt haben,
christliche Religion ist das doch nicht. Denn es wird uns dadurch wohl
ein Verkehr mit Gott als Aufgabe gestellt, aber nicht gewährt. Dies, worauf
alles ankommt, geschieht erst, wenn Gott selbst mit uns in Verkehr tritt, so
dass wir uns sagen können, wir merken an unleugbaren Tatsachen sein
Wirken auf uns und fühlen seine Nähe.
Für den Menschen, der sich Gott unterwerfen soll,
ist natürlich das Wichtigste, dass ihm Gottes Wirklichkeit etwas zweifellos
Gewisses wird. Jesus aber begründet in uns durch die Tatsache seines
persönlichen Lebens eine jedem Zweifel überlegene
Gewissheit von Gott. Die Person Jesu, wenn sie uns einmal durch
ihre Schönheit angezogen und durch ihre Hoheit niedergebeugt hat, bleibt
uns auch in den tiefsten Zweifeln gegenwärtig als etwas Unvergleichliches,
als die wertvollste Tatsache der Geschichte und als der wertvollste Inhalt unseres
eigenen Lebens.
Wenn wir dann dem Zuge zu ihm hin folgen und in
tiefer Ehrfurcht erfahren müssen, wie seine Kraft
und Reinheit uns unsre Wissensschwäche und Unlauterkeit vor die
Seele stellt, dann schlägt der gewaltige Anspruch,
den er erhebt, bei uns ein. Wir fassen dann Vertrauen zu seiner unbezwinglichen
Zuversicht, er könne die Menschen, die ihm nicht den Rücken kehren,
emporheben und selig machen. In diesem Vertrauen zu seiner Person und seiner
Sache ist der Gedanke einer Macht über alle Dinge enthalten, die dafür
sorgen muss, dass der Jesus, der in der Welt untergegangen ist, den
Sieg über die Welt behält. Der Gedanke einer
solchen Macht haftet ebenso fest in uns wie der uns überwältigende
Eindruck der Person Jesu.
Es ist das der Anfang des Bewusstseins von einem
lebendigen Gott, der einzige reelle Anfang einer inneren Unterwerfung unter
ihn. Sobald in dem Vertrauen zu Jesus dieser Gedanke entsteht, verbindet
er sich aber mit der Erfahrung, die wir an der uns gegenwärtigen Tatsache
des inneren Lebens Jesu gemacht haben.
Die Erschütterung, in die uns die Lebendigkeit des Guten in seiner Person
versetzte, das Gericht über uns, das wir dabei erfuhren, erscheint uns
sofort als eine Machtwirkung des Gottes, dessen wir nun bewusst geworden
sind. Das ist für den, der diese einfachen Erfahrungen macht, ein unzerbrechlicher
Zusammenhang.
Ebenso wirklich und lebendig, wie der Mensch Jesus in
seiner wunderbaren Hoheit, ist ihm der Gott, an den er um Jesu willen glaubt.
Und wie gewinnt der Gottesgedanke für uns den Inhalt, den wir als die Macht über
alle Dinge denken? Offenbar nur aus der Person Jesu. Wir kommen auf den
Gedanken einer solchen Macht über alle Dinge, weil wir Jesu die Ehre lassen
müssen, dass er recht behalten muss gegenüber der Welt.
Die Macht über alle Dinge deren wir uns auf solche Weise bewusst werden,
kann durch nichts anderes sich bewegen lassen als durch den Sinn, aus dem das
Lebenswerk Jesu gekommen ist.
Als diese Macht, die mit Jesus ist, gibt sich uns Gott
zu erkennen. Dann aber müssen wir sagen, dass das Dasein Jesu
in unserer Welt die Tatsache ist, durch die Gott uns so berührt, dssß
er den Verkehr mit uns eröffnet. Wir erleben dabei freilich auch, dass
uns der Abstand Jesu von uns vor die Seele tritt, und zwar um so mehr, je mehr
wir die Kraft seiner Gestalt empfinden, als vor der wir die Wirklichkeit Gottes
nicht verleugnen können. Aber deshalb ist es doch nicht
nur der Gott Jesu Christi, den wir erkennen, sondern unser Gott.
Gott tritt mit uns so in Verkehr, dass er uns damit
zugleich die Sünden vergibt. Ohne dies aber würde uns eine
freie Gewissheit von Gottes Wirklichkeit doch versagt bleiben. Gott
kann uns nur gewiss werden, wenn seine Offenbarung den Anspruch der sittlichen
Forderung an unser Dasein bestätigt. Das tut der Gott, der uns durch Jesus
nahe kommt, indem er der sittlichen Not abhilft, für die uns gerade Jesus
durch die Freiheit und Fülle seiner Liebe die Augen öffnet. Wenn wir nicht von dem in Jesus uns zugewendeten Gott
ergriffen sind, so werden wir gänzlich unglücklich gemacht durch die
sittlichen Gedanken, die Jesus uns klar macht, von denen wir nicht loskommen,
weil sie uns als ewige Wahrheit verständlich werden und an denen wir erst
das Leben des von der Natur unterschiedenen Geistes verstehen lernen.
Hat er uns einmal das Vertrauen abgewonnen, dass seine Sache Gottes
Sache ist, so schöpfen wir aus seiner Anteilnahme an den Menschen,
die jede Probe bestanden hat, die Zuversicht, dassin unserm Leben das
Gute eine Wirklichkeit und eine Macht hat. Das unantastbare Recht des sittlichen
Gesetzes steht uns auch ohnedies fest, sobald uns das Gesetz so gezeigt und
ausgelegt ist, wie es Jesus tut. Aber dass diese
Erkenntnis auch uns zu einem höheren Leben verhilft, oder dass wir
zu der seligen Freiheit eines sittlichen Lebens kommen können, dessen würden
wir nicht gewiss sein, wenn nicht unser Dasein in der Welt ein sicheres
Zeichen davon trüge, dass es dem Guten schließlich doch nicht
fremd ist. Jesus Christus ist dies Zeichen.
Infolge einer solchen Befriedigung unseres sittlichen Bedürfnisses wird
der Eindruck, dass wir in Christus mit Gott zu tun haben, zu einer strahlenden
Erkenntnis. Denn das ist der wahrhaftige Gott, der uns
ein Leben im Ewigen verschafft, indem er uns zu der Freude am Guten bringt. Gott verkehrt also durch die Erscheinung Jesu so mit uns, dass wir seiner
vollkommen gewiss werden. Der Zweifel, ob uns wirklich Gott durch Jesus
nahe komme, wird in dem Christen durch die Erfahrung getilgt, dass es ihm
Freude macht, sich unter das Notwendige zu beugen und für andere sich zu
opfern, sobald er diesen Menschen als die Kundgebung Gottes an ihn versteht.
Wir erfahren den Verkehr Gottes mit uns so, dass dadurch zugleich unsere
sittliche Befreiung bewirkt wird. Ohne dies hätten wir nicht die Gewissheit
des Glaubens, die in jedem wirklich Gläubigen vorhanden und wirksam ist.
Die Entstehung des Glaubens als des Bewusstseins,
dass Gott mit uns verkehre, lässt sich nicht erzwingen. Sie
bleibt das subjektive und unübertragbare Erlebnis des Menschen, der zum
Glauben kommt. Denn dass jemand Vertrauen zu einer Person fasst, bleibt
seine Sache. Einem andern, in dem das Vertrauen sich nicht regt, lässt
sich nicht andemonstrieren, dass er es fassen müsse. Um zu Jesus das
die Seele befreiende Vertrauen fassen zu können, muss man sich ihm
zuwenden und ihn auf sich wirken lassen. Davor aber scheuen wir uns alle. Denn
wir merken, dass der Eindruck seiner Person die Schleier zerreisst,
die unsere Verlorenheit bedecken. Dass trotzdem einige diese Scheu überwinden
und der Erscheinung des Heiligen, durch die sie sich gerichtet fühlen,
standhalten, das bleibt das Geheimnis ihres persönlichen Lebens.
Es sind zwei objektive Gründe, auf die das Bewusstsein des Christen,
dass Gott mit ihm verkehre, sich selbst stützt.
Erstens die geschichtliche Tatsache der Person Jesu. Diese Tatsache haben
wir als einen Bestandteil unserer eigenen Wirklichkeit erfasst und haben
ihre Gewalt empfunden.
Zweitens die Tatsache, dass die sittliche Forderung uns selbst beansprucht. Wir sehen in ihr nicht nur ein hohes Ideal, das uns selbst nichts angeht,
sondern wir fühlen uns selbst durch sie verpflichtet. Damit erfassen wir
eine innerhalb des geschichtlichen Lebens geltende objektive Tatsache.
Andere objektive Gründe für die Wahrheit der christlichen Religion
gibt es nicht.
Vagabund
und Rentier
Ein Mensch, der sein Pfund vergräbt und die ihm verliehenen
Kräfte verderben lässt, kann kein Christ sein. Das ist
die Erscheinung, die in unserer Zeit vor allem als Häresie gebrandmarkt
werden müsste. Wenn ein Arbeitsloser bettelt, so kann das bittere
Not sein. Es müsste daher einem Christen ins Herz schneiden, wenn
er einen solchen notleidenden Bruder durch das bekannte Schild von der Schwelle
verjagt. In einem solchen Falle ist das Almosen am Platze, wenn es mit dem Versuche
verbunden ist, das Erreichen einer Arbeitsgelegenheit zu erleichtern. Dagegen
nehmen wir durch das einem Vagabunden gereichte Almosen teil an seiner Schuld
und nähren die Bettelei. Gegenüber diesen verwilderten Kindern
unseres Volkes müssen wir auf einen Zwang zur Arbeit dringen, der die Erziehung
zur Arbeitswilligkeit und Arbeitsfähigkeit einleitet. Dass bei uns
und an anderen Orten evangelische Christen angefangen haben, Stätten solcher
Erziehung als christliche Werke zu schaffen, ist eine der Erscheinungen der
Gegenwart, an denen unser Glaube sich aufrichten kann. Sie helfen damit nicht
bloß den Vagabunden, sondern schlaffen Christen an vielen Orten durch
Beschämung und aufmunterndes Beispiel.
Durch eigene Schuld ohne einen Beruf sind aber auch Rentiers, die nur sich selbst
leben und genießen wollen. Sie unterscheiden sich durch ihren Besitz von
den Vagabunden, an kindischer Gesinnung sind sie ihnen gleich. Für die
Gesellschaft, wie der Christ sie gegenwärtig verlangen muss, ist trotzdem
die Zeit, auch bei diesen Menschen auf den Zwang zur Arbeit zu dringen, noch
nicht gekommen. Sie sind schädliche Bestandteile der Gesellschaft, denn
sie vergiften die Atmosphäre des öffentlichen Lebens. Aber das Bewusstsein
davon ist in der Masse der Gesellschaft noch zu wenig geklärt. Da sie die
Ordnung nicht äußerlich sichtbar stören, sondern zum Schutze
des Rechts beitragen, auch wohl gelegentlich zu gutmütiger Hilfeleistung
bereit sind, so würde ein ihnen auferlegter Arbeitszwang jetzt noch den
Eindruck eines Rechtsbruchs, einer unrechtmäßigen Beschränkung
der individuellen Freiheit machen.
Unsere Aufgabe kann zunächst nur sein, die öffentliche
Meinung zu dem Bewusstsein von der Unerträglichkeit solcher Existenzen
in einer sittlich geordneten Gesellschaft emporzutreiben. Auf eine Maßregel
aber können wir gegenüber den Erwachsenen, die beruflos genießen
wollen, jetzt schon hinwirken. Es kann in der Gesetzgebung in anderer Weise
zum Ausdruck kommen, dass die Gesellschaft Arbeitsgemeinschaft sein will.
Ohne sie in ihrem unsittlichen Treiben zu hindern, kann die Gesellschaft solche
Menschen fühlen lassen, dass sie ehrlos sind. Das kann auf die zarteste
und eindringlichste Weise im persönlichen Verkehr geschehen. Aber vor allem
könnte durch die Gesetzgebung eine sehr wirksame Maßregel durchgesetzt
werden. Ist die Gesellschaft Arbeitsgemeinschaft, so steht jedem Arbeiter der
Anteil an ihrer Leitung zu, den er wenigstens in seinem Wahlrecht besitzt. Aber
der Mensch, der aus Trägheit nicht arbeiten will, darf dieses Recht nicht
beanspruchen. Indem es ihm entzogen wird, soll er selbst einsehen lernen, dass er sich ehrlos macht. S.267ff.
Enthalten in: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben
von Wolfgang Philipp, Band VIII der Reihe »Klassiker des Protestantismus«,
Carl Schünemann Verlag Bremen