Johann Friedrich Herbart (1776 - 1841)

  Deutscher Philosoph und Pädagoge. Seine systematische Erziehungs- und Unterrichtstheorie, durch die er zu einem Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik wurde, orientiert den Weg der Erziehung an der Psychologie, das Ziel an der Ethik.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Der Finger Gottes in der Natur
Die teleologische Weltansicht ist keineswegs die gemeine, natürliche, gewöhnliche; sie ist ganz und gar nicht dem menschlichen Geiste angeboren: vielmehr ist sie spät gewonnen
(in der Schule des Sokrates), und geht nur gar zu leicht wieder verloren. ... Das Bessere verdankt man der Aufmerksamkeit einer kleinen Anzahl seltener Männer auf diejenigen Naturgegenstände, die das gerade Gegenteil zutage legen; man verdankt es überdies dem Christentum, welches die Gemüter umstimmte, und dadurch die falsche Naturansicht schwächte, — ohne doch eigentlich in der sichtbaren Welt das Zweckmäßige nachzuweisen, da es vielmehr die Betrachtung von der Natur ganz ab, und über dieselbe hinaus lenkte.

Ist aber der Idealismus überhaupt widerlegt: so muss die bekannte Betrachtung ihre vorige Stärke wieder erlangen, nach welcher man in der zweckmäßigen Einrichtung den
Finger Gottes in der Natur erkennt.

Die Voraussetzung, dass das Zweckmäßige nicht bloß treffe zum Zweck, sondern ausgehe vom Zweck, welcher zuvor gedacht, gewollt, und ausgeführt wurde von einem wirksamen Geiste: mag man im Zusammenhange strenger Spekulation immerhin eine Hypothese nennen, zum Unterschiede von der Demonstration. Wie stark aber diese Hypothese den Glauben zu tragen vermöge: das beweist eine andere Anwendung derselben unwidersprechlich. Woher wissen wir, daß Menschen, nicht bloß menschliche Gestalten, uns umgeben? Wir erklären uns ihre zweckmäßigen Handlungen aus vorausgesetztem Denken, Wollen und Handeln. Niemand kann sagen, er habe dieses Vorausgesetzte wahrgenommen; niemand kann leugnen, dass er es hinzudenkt, es hineinträgt in die Wahrnehmung.


Aber freilich, nicht in jede Wahrnehmung menschlicher Gestalten wird das Gleiche hineingedacht. Wir unterscheiden den Wahnsinnigen vom Verständigen, und beide vom Kinde; wir beurteilen das Maß und die Art des Verstandes nach den Handlungen. Demnach ist wirklich das Gegebene die Grundlage dieser Vorstellungsart, und es wird dem Idealismus nie gelingen, auch nur zum Schein dieselbe durch Gesetze unseres Denkens (wozu Fichte Versuche machte) zu erklären.

So gewiss nun unsere Überzeugung feststeht, daß den Erscheinungen menschlichen Handelns auch menschliche Absicht, menschliches Wissen und Wollen vorangeht; ebenso gewiss muss es erlaubt sein, die teleologische Naturbetrachtung zur Stütze des religiösen Glaubens zu machen, welcher übrigens viel älter ist, und viel tiefere Wurzeln im menschlichen Gemüte hat, als alle Philosophie.

Freilich kann auf diese Weise nicht ein wissenschaftliches Lehrgebäude der natürlichen Theologie zustande kommen, welches als Erkenntnis betrachtet sich dem vergleichen ließe, was Naturphilosophie und Psychologie durch ihre, in der Tat ins Unendliche sich erstreckenden, möglichen Fortschritte zu werden bestimmt sind. Allein die Anmaßungen solcher Systeme, die von Gott als von einem bekannten, in scharfen Begriffen aufzufassenden Gegenstande reden, sind keine Flügel, wodurch wir uns zu einem Wissen erheben könnten, für welches uns nun einmal die Data fehlen, — und vielleicht weislich versagt sind.

Es wäre überdies noch zu beweisen, dass der Religion durch den Mangel eines solchen Wissens etwas Wesentliches abgehe; daß sie etwas gewinnen würde, wenn Gott i
n scharfen spekulativen Umrissen, deutlich dem strengen und wahrheitsliebenden Forscher, vor uns stünde.

— Religion beruht auf Demut, und dankbarer Verehrung. Die Demut wird begünstigt durch das Wissen des Nicht-Wissens. Die Dankbarkeit kann nicht größer sein, als gegen den Urheber der Bedingungen unseres vernünftigen Daseins. Die Verehrung kann nicht höher hinaufschauen, als zu dem Unermesslich-Erhabenen. Vielleicht wird man sagen, es fehle noch das Vertrauen auf die absolute Allmacht, die freilich zu ihrer Festsetzung ein strenges Dogma erfordert. Allein eben hier ist eine Erinnerung auf jeden Fall sehr notwendig. Nämlich auch die Allmacht kann nicht den viereckigen Zirkel erschaffen; sie ist der geometrischen Notwendigkeit unterworfen. In ihren Zweckbegriffen muss sie daher ungleich mehreres bloß zulassen, indem sie anderes eigentlich wählt und beschließt. Der Mensch aber unterscheidet nur schwach das Erwählte vom Zugelassenen, er muss sich hier immer mit unbestimmten Begriffen begnügen; und darf nie sein Vertrauen dahin ausdehnen, irgendwelche Ereignisse mit Sicherheit zu erwarten. — Gerade wegen der Unbestimmtheit aber, welche überhaupt bei diesem erhabensten aller Gegenstände die Spekulation übrig läßt, darf immerhin der Sitte, der Gewöhnung, der Tradition, ja selbst der Phantasie, einige Freiheit gestattet werden. Und vor allem müssen die praktischen Ideen benutzt werden, um die Lehre von Gott insofern mit festen Strichen zu bezeichnen, als dieses nötig ist zur Unterscheidung des vortrefflichsten der Wesen von dem bloß mächtigen, ursprünglichen Ersten, dem an sich praktisch ganz gleichgültigen Urgrunde der Dinge. Hierzu muss nun die metaphysische Spekulation mancherlei Dienste leisten. Sie muss Spinozismus und Idealismus entkräften, welche das außerweltliche Wesen, und dessen aus sich herausgehendes1uns, den Gegenüberstehenden, gewidmetes Wohlwollen hinwegnehmen. Die göttliche Wohltat darf nicht erscheinen als ein Nepotismus, der nur die Seinigen, die Angehörigen erhebt; denn die Liebe, welche als Selbstliebe in sich zurückläuft, verliert ihre Würde. Es genügt nicht zur Religion, dass die Welt als ein großes Kultursystem dargestellt werde, worin der Allein-Reale nur sich selbst vervollkommne. Sondern es fördert die Religion, dass derjenige, der als Vater für die Menschen gesorgt hat, jetzt im tiefsten Schweigen die Menschheit sich selbst überlässt, als ob er keinen Teil an ihr habe; ohne Spur aller solchen Empfindung, welche der menschlichen Sympathie, vollends dem Egoismus gleichen könnte.

Sind diese Bemerkungen gegründet (welche zum Teil Beleuchtung von seiten der praktischen Philosophie erfordern), so folgt allerdings, dass nicht jedes metaphysische System der Religion gleich gute Dienste leisten könne.

Dennoch ist nicht zu verkennen, dass von jeher das religiöse Bedürfnis edler Menschen die Systeme mehr benutzt, als sich ihnen unterworfen hat. Jeder metaphysischen Ansicht läßt sich eine Seite abgewinnen, wodurch sie den Glanz der erhabensten Idee auf eine eigentümliche Weise zurückstrahle. Die Furcht vor den Neuerungen in Systemen darf daher niemals groß werden; viel wichtiger und gegründeter ist auch in religiöser Hinsicht die Sorge, daß nicht die Forschung ihre Spannung verliere, eine bequeme Vorstellungsart sich als die beste geltend mache, — daß nicht Dummheit die Köpfe verfinstern, und eigennütziger Trug die Gewissen nach Gefallen binden und lösen möge?

Anmerkung. [Diesen Paragraphen, welcher deutlich und bestimmt angibt, wie der religiöse Glaube nicht bloß auf dem von Kant entwickelten praktischen Bedürfnisse, sondern auch auf dem Gegebenen, auf der Naturbetrachtung, als eine theoretisch notwendige Ergänzung unseres Wissens, nach meiner Überzeugung beruht: finde ich in keinem Punkte abzuändern weder nötig noch möglich; obgleich ich mit größter Wahrscheinlichkeit voraussehe, daß demselben bei Gelegenheit der gegenwärtigen zweiten Auflage die nämlichen gehässigen Deutungen bevorstehen, wie bei der ersten. »Es trete hier ein Deus ex machina auf, dessen unvorbereitetes Erscheinen mit dem übrigen nicht zusammenhänge.« Dieser Bericht ist der Sache gerade so angemessen, wie ein Zerrbild seinem Original ähnlich sieht.]

Freilich reicht [nach den Ansichten des Verfassers] das Wissen um vieles weiter, als diejenigen zugeben wollen, die nicht Lust haben, sich um die Notwendigkeit einer Ergänzung der Sinnenwelt durch das übersinnliche Reale, ernstlich zu bekümmern. Freilich müßten sie, um dieses einzusehen, die bisherigen Systeme nicht so unverdient als unübertreffliche Beweise von dem Höchsten, was die Spekulation erreichen könne, loben und preisen, sondern die mannigfaltigen Schwächen derselben sorgfältig durchsuchen, um wahrzunehmen, wie weit alle bisherige Spekulation noch hinter dem, was sie leisten kann, zurückgeblieben, und aus welchen Ursachen dies Zurückbleiben entstanden ist. Freilich müßten sie nicht so voreilig sein in ihrem Schlusse, weil die bisherigen Versuche auf dem Wege bekannter
logischer Vorschriften nicht weit geführt haben, so gebe es auch über die Logik hinaus gar keine Hilfsmittel des theoretischen Denkens mehr; alle Beziehung der Erscheinungen auf das Reale sei aufgehoben, und könne nur durch eine Art von Wunderglauben wieder hergestellt werden.

Wären sie aber imstande, die Aussicht auf die, in der Tat unermeßlichen Erweiterungen, welche dem spekulativen Wissen noch bevorstehen, sich zu eröffnen: dann erst würden sie auch die Erhabenheit des Gegensatzes empfinden zwischen dem, was das Wissen erreichen, und nicht erreichen kann; zwischen dem ins Unendliche hinaus mehr und mehr Erklärbaren, und dem stets auf gleiche Weise Unerklärlichen; — und sie würden nicht verlangen, dass man die Erscheinung des letzteren
vorbereiten solle in einer Abhandlung über das erstere; sie würden vielmehr fühlen, daß die Darstellung sich dem Gegenstande um so besser anschließe, je neuer, fremder, unerwarteter dem Wissen, dasjenige eintrete, was über das Wissen hinausgeht.

Aus theoretischen Gründen muss der Wahnsinn ebenso begreiflich werden wie die Vernunft; die Krankheit wie die Gesundheit, die Unordnung wie die Ordnung. Das Verkehrteste ist ebenso natürlich wie das Rechte, die Perturbationen [Störungen in den Bewegungen eines Sternes] ebenso natürlich wie die regelmäßigen Bahnen und Perioden. Warum nun ist das Bessere die Regel, das Schlimmere die Ausnahme? Meint man, die Ausnahmen zerstören sich selbst? Man blicke [doch nur] dahin, wo die Vorsehung keine Vorkehrungen getroffen hat; man betrachte die Staaten und deren Geschichte! Hat etwa in ihnen die Unmöglichkeit oder doch die Gebrechlichkeit der Unordnung, zu ähnlicher Ordnung geführt, wie im Planetensystem, oder wie in dem Bau der organisierten Leiber? Das geschieht nur da, und nur insoweit, als die schwache menschliche Kunst das fortsetzt, was die unermeßlich höhere Kunst anfing und bereitete.

[Betrachtungen dieser Art können sich durch die falsche Weisheit dieser Zeit nicht durcharbeiten; früher waren sie bekannt genug, und wiederkehren werden sie, sobald ihnen Platz gemacht ist.]

Zwar dem ehrwürdigen Kant ist es nicht zu verargen, dass er der Teleologie
[Lehre von der Zielgerichtetheit, Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit] den Platz beengt hat. Das war die ganz unvermeidliche Folge seiner Ansichten von den Formen der Erfahrung, die wir,— so glaubte er,— in uns tragen, und dann in die Natur hineinschauen, während wir uns einbilden, sie in ihr zu finden. Aber diejenigen, welche von der Kantischen Lehre abgewichen, welche zum Realismus zurückgekehrt sind, sie sollten sich erinnern, daß keine andere Hinweisung auf Gott den, noch unbefangenen, gesunden Verstand so willig findet, so leicht zu frommen Empfindungen stimmt, als die teleologische. Zwar kann auch sie nicht aufgegebene Arbeit vollführen. Aber wie viele Fragen sie auch aufregt, die sie unbeantwortet lässt: nichts destoweniger behalten solche Betrachtungen, wie die über den Bau des Auges, des Herzens, usw. eine wohltätige Gewalt, die selbst wider Willen denjenigen ergreift, der es seinen eingebildeten höheren Einsichten schuldig zu sein glaubt, sich ihrer zu erwehren. In der Tat ist die kleinste Spur des Schönen und Schicklichen in der Natur, mehr wert, als alle inneren Anschauungen, die sich von Schwärmereien nicht unterscheiden lassen. Dass die Menschen es aushalten können, über die Grundlehren der Religion zu disputieren, verdanken sie den bald freundlichen, bald drohenden und schmerzlichen Eindrücken, wodurch die Gottheit mit ihnen redet, und sie aus ihren Träumen aufweckt.

Den grundlosen Besorgnissen über Verminderung des Glaubens durch fortschreitendes Wissen hat ein Mann sich hingegeben, der zu den Vortrefflichsten unserer Zeit gehörte. Jacobi, derselbe, der den Begriff des Realen wiederherstellen half, derselbe, der den Kausalbegriff von Zeitbedingungen frei dachte, während Kant selbst ihn damit vermengte, — eben dieser Jacobi, der den Glauben an die Vorsehung aufs lebendigste in sich besaß, befürchtete, die Welt werde ihn verlieren, und überließ sich dem Eindrucke einer Weissagung Lichtenbergs
: »unsere Welt wird noch so fein werden, da
ss es ebenso lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben, als heutzutage Gespenster.« Dieser Einfall eines der witzigsten Köpfe konnte dem Mathematiker und Physiker Lichtenberg schwerlich ernst sein; er kannte dazu die Pendelschwingungen viel zu gut, die, nach entgegengesetzten Seiten ausschweifend, im Gebiete des Geistigen ebenso abwechseln, als in der Körperwelt. Und von Jacobi hätte man erwarten dürfen, dass ihm das ganz unwandelbare, in der menschlichen Natur liegende, Bedürfnis der Religion, — worüber er mit Kant übereinstimmte — bekannt genug sei, um eine solche Weissagung gerade für ein Traumgesicht zu erklären. Anstatt aber mit fester Zuversicht das Heilige als unverlierbar zu betrachten, entzweite er Wissen und Glauben, oder, wie er es nannte, Verstand und Vernunft, in einem Grade, wie schwerlich irgendeiner vor ihm.
Aus: Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie
Meiner Philosophische Bibliothek Band 453 (S.297-298)