Adolf von Harnack (1851 – 1930)
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Inhaltsverzeichnis
Das
Schweigen der Evangelien über die Entwicklung Jesu
Die Verkündigung Jesu
Das Reich Gottes und sein Kommen
Gott der Vater und der unendliche
Wert der Menschenseele
Die bessere Gerechtigkeit und das
Gebot der Liebe
Das Schweigen der Evangelien über
die Entwicklung Jesu
Unsere Evangelien erzählen uns bekanntlich keine Entwicklungsgeschichte
Jesu; sie berichten nur von seiner öffentlichen Wirksamkeit. Zwei Evangelien
enthalten allerdings eine Vorgeschichte (Geburtsgeschichte),
aber wir dürfen sie unbeachtet lassen; denn selbst wenn sie Glaubwürdigeres
enthielte, als sie wirklich enthält, wäre sie für unsere Zwecke
so gut wie bedentungslos. Die Evangelisten selbst nämlich weisen niemals
auf sie zurück oder lassen Jesum selbst sich auf jene Vorgänge zurückbeziehen.
Im Gegenteil — sie erzählen, daß die Mutter und Geschwister
Jesu von seinem Auftreten völlig überrascht gewesen seien und sich
nicht in dasselbe zu finden vermocht haben. Auch Paulus schweigt, so daß
wir gewiß sein können, daß er die älteste Überlieferung
die Geburtsgeschichten nicht gekannt hat.
Wir wissen nichts von der Geschichte Jesu in den ersten dreißig Jahren
seines Lebens. Ist das nicht eine schreckliche Ungewißheit? Was
bleibt uns, wenn wir unsere Aufgabe mit dem Eingeständnis beginnen müssen,
daß wir kein Leben Jesu zu schreiben vermögen? Wie können wir
aber die Geschichte eines Mannes schreiben, von dessen Entwicklung wir gar nichts
wissen, und von dessen Leben uns nur ein oder zwei Jahre bekannt sind? Nun,
so gewiß unsere Quellen für eine »Biographie«
nicht ausreichen, so inhaltsreich sind sie doch in anderer Beziehung, und auch
ihr Schweigen über die ersten dreißig Jahre lehrt uns etwas. Inhaltsreich
sind sie, weil sie uns über drei wichtige Punkte Aufschluß geben;
denn sie bieten uns erstlich ein anschauliches Bild
von der Predigt Jesu, sowohl in Hinsicht der Grundzüge als der Anwendung
im einzelnen; sie berichten zweitens den Ausgang seines Lebens im Dienste seines
Berufs, und sie schildern uns drittens den Eindruck, den er auf seine Jünger
gemacht hat und den sie fortgeplanzt haben.
Das sind in der Tat drei bedeutende, ja es sind die entscheidenden Punkte. Weil
wir hier klar sehen, ist es möglich ein Charakterbild Jesu zu zeichnen
oder — bescheidener gesprochen: der Versuch ist nicht aussichtslos zu
erkennen, was er gewollt hat, wie er gewesen ist und was er uns bedeutet.
Was aber jene dreißig Jahre des Schweigens betrifft, so entnehmen wir
unseren Evangelien, daß Jesus nicht für nötig befunden hat,
seinen Jüngern darüber etwas mitzuteilen. Aber negativ vermögen
wir hier doch manches zu sagen. Erstlich, es ist sehr unwahrscheinlich, daß
er durch die Schulen der Rabbinen gegangen ist; nirgendwo spricht er wie einer,
der sich technisch-theologische Bildung und die Kunst gelehrter Exegese angeeignet
hat. Wie deutlich erkennt man dagegen aus den Briefen des Apostels
Paulus, daß er zu den Füßen theologischer Lehrer gesessen!
Bei Jesus finden wir nichts hiervon, es machte
daher Aufsehen, daß er überhaupt in den Schulen auftrat und lehrte.
In der heiligen Schrift lebte und webte er, aber nicht wie ein berufsmäßiger
Lehrer.
Ferner, zu den Essenern, einem merkwürdigen jüdischen Mönchsorden,
kann er keine Beziehung gehabt haben. Hätte er ja welche besessen, so wäre
er einer jener Schüler gewesen, die die Abhängigkeit von ihren Meistern
dadurch bewähren, daß sie das Gegenteil von dem verteidigen und tun,
was sie gelernt haben. Die Essener hielten auf gesetzliche Reinheit bis zum
Äußersten und schlossen sich strenge nicht nur gegen die Unreinen,
sondern auch gegen die Laxeren ab. Ihre peinliche Absonderung, das Wohnen in
bestimmten Ortschaften, ihre täglichen zahlreichen Waschungen lassen sich
von hier aus verstehen. Bei Jesus finden wir den vollen Gegensatz zu dieser
Lebensweise: er sucht die Sünder auf und ißt mit ihnen. Schon dieser
fundamentale Unterschied macht es sicher, daß er den Essenern ganz fern
gestanden hat. In den Zielen und Mitteln ist er von ihnen geschieden. Wenn er
in manchen Einzelanweisungen an seine Jünger mit ihnen zusammenzutreffen
scheint, so sind das zufällige Berührungen; denn die Motive waren
völlig andere.
Weiter, wenn nicht alles trügt, liegen hinter der uns offenbaren Zeit des
Lebens Jesu keine gewaltigen Krisen und Stürme, kein Bruch mit seiner Vergangenheit.
Nirgendwo in seinen Sprüchen und Reden, mag er drohen und strafen oder
freundlich locken und rufen, mag er von seinem Verhältnis zum Vater oder
zur Welt sprechen, bemerkt man überstandene innere Umwälzungen oder
die Narben eines furchtbaren Kampfes. Wie selbstverständlich, als könnte
es nicht anders sein, strömt alles bei ihm hervor — so bricht der
Quell aus den Tiefen der Erde, klar und ungehemmt. Nun zeige man uns den Menschen,
der mit dreißig Jahren so sprechen kann, wenn er heiße Kämpfe
hinter sich hat, Seelenkämpfe, in denen er ausschließlich das verbrannt
hat, was er einst angebetet, und das angebetet, was er verbrannt hat! Man zeige
uns den Menschen, der mit seiner Vergangenheit gebrochen hat, um dann auch die
anderen zur Buße zu rufen, der aber dabei von seiner eigenen Buße
niemals spricht! Diese Beobachtung schließt es aus, daß sein Leben
in inneren Kontrasten verlaufen ist, mag es auch an tiefen Bewegungen, an Versuchungen
und Zweifeln nicht gefehlt haben.
Endlich noch eines, — das Lebensbild und die Reden Jesu zeigen kein Verhältnis
zum Griechentum. Fast muß man sich darüber wundern; denn Galiläa
war voll von Griechen,, und griechisch wurde damals in vielen seiner Städte
gesprochen, etwa wie heute in Finnland schwedisch. Griechische Lehrer und Philosophen
gab es daselbst, und es ist kaum denkbar, daß Jesus ihrer Sprache ganz
unkundig gewesen ist. Aber daß er irgendwie von ihnen beeinflußt
worden, daß die Gedanken Platos oder der Stoa, sei es auch nur in irgend
welcher populären Umbildung, an ihn gekommen sind, läßt sich
schlechterdings nicht behaupten. Freilich, wenn der religiöse Individualismus,
Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott, wenn der Subjektivismus, wenn die
volle Selbstverantwortlichkeit des einzelnen, wenn die Loslösung des Religiösen
von dem Politischen — wenn das alles nur griechisch ist, dann steht auch
Jesus in dem Zusammenhang der griechischen Entwicklung, dann hat auch er reine
griechische Luft geatmet und aus den Quellen der Griechen getrunken. Aber es
läßt sich nicht nachweisen, daß nur auf dieser Linie, nur im
Volke der Hellenen, diese Entwicklung stattgefunden hat; das Gegenteil läßt
sich vielmehr zeigen: auch andere Nationen sind zu ähnlichen Erkenntnissen
und Stimmungen fortgeschritten — fortgeschritten allerdings in der Regel
erst, nachdem Alexander der Große die Schlagbäume
und Zäune, welche die Völker trennten, niedergerissen hatte. Das griechische
Element ist gewiß in der Mehrzahl der Fälle der befreiende und fördernde
Faktor auch für sie gewesen. Aber ich glaube nicht, daß der Psalmist,
der die Worte gesprochen hat: »Herr, wenn ich nur
Dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde« — je etwas
von Sokrates oder von Plato
gehört hat.
Genug, aus dem Schweigen über die dreißig ersten Jahre Jesu und aus
dem, was die Evangelien von der Zeit seiner Berufswirksamkeit nicht
berichten, läßt sich Wichtiges lernen.
Er lebte in der Religion, und sie war ihm Atmen in der Furcht Gottes; sein ganzes
Leben, all sein Fühlen und Denken, war in das Verhältnis zu Gott aufgenommen,
und doch — er hat nicht gesprochen wie ein Schwärmer und Fanatiker,
der nur einen rotglühenden Punkt
sieht und dem die Welt und alles, was in ihr ist, deshalb verschwindet. Er hat
seine Predigten gesprochen und in die Welt geschaut mit dem frischen und hellen
Auge für das große und kleine Leben, das ihn umgab. Er verkündigte,
daß der Gewinn der ganzen Welt nichts bedeute, wenn die Seele Schaden
nähme, und er ist doch herzlich und teilnehmend geblieben für alles
Lebendige. Das ist das Erstaunlichste und Größte! Seine Rede, gewöhnlich
in Gleichnisse und Sprüche gefaßt, zeigt alle Grade menschlicher
Rede und die ganze Stufenleiter der Affekte. Die härtesten Töne leidenschaftlicher
Anklage und zornigen Gerichts, ja selbst die Ironie, verschmäht er nicht;
aber sie müssen doch die Ausnahme gebildet haben. Eine stille, gleichmäßige
Sammlung, alles auf ein Ziel gerichtet,
beherrscht ihn. In der Ekstase spricht er niemals, und den Ton aufgeregter Prophetenrede
findet man selten. Mit der größten Mission betraut, bleibt sein Auge
und Ohr für jeden Eindruck des Lebens um ihn offen — ein Beweis intensiver
Ruhe und geschlossener Sicherheit.
»Trauern und Weinen, Lachen und Hüpfen, Reichtum und Armut, Hunger
und Durst, Gesundheit und Krankheit, Kinderspiel und Politik, Sammeln und Zerstreuen,
Abreise vom Haus, Herberge und Heimkehr, Hochzeit und Totentrauer, der Luxusbau
der Lebenden und das Grabmal des Toten, der Säemann und der Schnitter auf
dem Felde, der Winzer in den Reben, die müßigen Arbeiter auf den
Märkten, der suchende Hirt auf dem Felde, der Perlen handelnde Kaufmann
auf der See und wieder daheim, die Sorge des Weibes um Weizenmehl und Sauerteig
oder um eine verlorene Drachme, die Klage der Witwe vor dem mürrischen
Amtmann, die irdische Speise und ihr Vergehen, das geistige Verhältnis
von Lehrer und Schüler; hier Königsglanz und Herrschsucht der Machthaber,
dort Kindesunschuld und Dienerfleiß — all diese Bilder beleben seine
Reden und machen sie anschaulich auch für Kinder am Geist.«
Sie sagen mehr als nur dies, daß er in Bildern und Gleichnissen
gesprochen hat. Sie zeigen eine innere Freiheit und Heiterkeit der Seele inmitten
der höchsten Anspannung, wie sie kein Prophet vor ihm besessen hat. Sein
Auge weilt freundlich auf den Blumen und Kindern, auf der Lilie des Feldes -
Salomo in aller seiner Pracht ist nicht also bekleidet gewesen - auf den Vögeln
unter dem Himmel und den Sperlingen auf dem Dach. Das Überweltliche, in
dem er lebte, zerstörte ihm diese Welt nicht; nein, alles in ihr bezog
er auf den Gott, den er kannte, und sah es in ihm geschützt und bewährt:
„Euer Vater im Himmel ernährt sie.“
Die Gleichnisrede ist ihm die vertrauteste. Unmerklich aber gehen Gleichnis
und Teilnahme ineinander über. Er, der nicht hatte, da er sein Haupt hinlegte,
spricht doch nicht wie einer, der mit allem gebrochen hat, nicht wie ein heroischer
Büßer, nicht wie ein ekstatischer Prophet, sondern wie ein Mann,
der Ruhe und Friede hat für seine Seele, und der andere zu erquicken vermag.
Er schlägt die gewaltigsten Töne an; er stellt den Menschen vor eine
unerbittliche Entscheidung; er läßt ihm keinen Ausweg, und wiederum
— das Erschütterndste ist ihm wie selbstverständlich, und er
spricht es wie das Selbstverständlichste aus; er kleidet es in die Sprache,
in der eine Mutter zu ihrem Kinde spricht. S.18-23
Aus: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums.
Neuausgabe mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann Evangelische Verlagsanstalt
Berlin
Die Verkündigung
Jesu
Überschauen wir aber die Predigt Jesu, so können wir drei Kreise aus
ihr gestalten. Jeder Kreis ist so geartet, daß er die ganze
Verkündigung enthält; in jedem kann sie daher vollständig zur
Darstellung gebracht werden:
Erstlich, das Reich Gottes und sein Kommen,
Zweitens, Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele,
Drittens, die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der
Liebe.
Die Größe und Kraft der Predigt Jesu ist darin beschlossen, daß
sie so einfach und wiederum so reich ist — so einfach, daß sie sich
in jedem Hauptgedanken, den er angeschlagen, erschöpft, und so reich, daß
jeder dieser Gedanken unerschöpflich erscheint und wir die Sprüche
und Gleichnisse niemals auslernen. Aber darüber hinaus — hinter jedem
Spruch steht er selbst. Durch die Jahrhunderte hindurch reden sie zu uns mit
der Frische der Gegenwart. Hier bewahrheitet sich das tiefe Wort wirklich:
»Sprich, daß ich dich sehe.« S.31
Aus: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Neuausgabe mit einem Geleitwort
von Rudolf BultmannEvangelische Verlagsanstalt Berlin
Das
Reich Gottes und sein Kommen
Wer wissen will, was das Reich Gottes und das Kommen dieses Reiches in der Verkündigung
Jesu bedeuten, der muß seine Gleichnisse lesen und überdenken Da
wird ihm aufgehen, um was es sich handelt Das Reich Gottes kommt, indem es zu
den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele
hält, und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist
Gottesherrschaft, gewiß — aber es ist die
Herrschaft des heiligen Gottes in den Herzen, es ist
Gott selbst mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren,
weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze
äußerliche Zukunftshoffnung. Nehmen Sie welches Gleichnis Sie wollen,
vom Säemann, von der köstlichen Perle, vom Schatz im Acker —
das Wort Gottes, Er selbst ist das Reich, und nicht um Engel und Teufel, nicht
um Throne und Fürstentümer handelt es sich, sondern um Gott und die
Seele, um die Seele und ihren Gott. S.34
Aus: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Neuausgabe mit einem Geleitwort
von Rudolf Bultmann Evangelische Verlagsanstalt Berlin
Gott
der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele
Unmittelbar und deutlich läßt sich für unser heutiges Vorstellen
und Empfinden die Predigt Christi in dem Kreise der Gedanken erfassen, der durch
Gott den Vater und durch die
Verkündigung vom unendlichen Wert der Menschenseele bezeichnet ist.
Hier kommen die Elemente zum Ausdruck, die ich als die ruhenden und die Ruhe
gebenden in der Verkündigung Jesu bezeichnen möchte, und die zusammengehalten
sind durch den Gedanken der Gotteskindschaft. Ich nenne sie die ruhenden im
Unterschied von den impulsiven und zündenden Elementen, obgleich gerade
ihnen eine besonders mächtige Kraft innewohnt. Indem man aber die ganze
Verkündigung Jesu auf diese beiden Stücke zurückführen kann
Gott als der Vater, und die menschliche Seele so geadelt, daß sie sich
mit ihm zusammenzuschließen vermag und zusammenschließt —,
zeigt es sich, daß das Evangelium überhaupt keine positive Religion
ist wie die anderen, es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, daß
es also die Religion selbst ist. Es ist erhaben über allen Gegensätzen
und Spannungen von Diesseits und Jenseits, Vernunft und Ekstase, Arbeit und
Weltflucht, Jüdischem und Griechischem. In allen kann es regieren, und
in keinem irdischen Element ist es eingeschlossen oder notwendig mit ihm behaftet.
S.38f. [...]
Erst durch Jesus Christus ist der Wert jeder einzelnen
Menschenseele in die Erscheinung getreten, und das kann niemand mehr ungeschehen
machen. Man mag zu ihm selbst stehen, wie man will, die Anerkennung, daß
er in der Geschichte die Menschheit auf diese Höhe gestellt hat, kann ihm
niemand versagen.
Eine Umwertung der Werte liegt dieser höchsten
Wertschätzung zu Grunde. Dem, der sich seiner Güter rühmt, ruft
er zu: ,,Du Narr!“ Allen aber hält er
vor: ,,Nur wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.“
Er kann sogar sagen: ,,Nur wer seine Seele haßt,
wird sie bewahren.“ Das ist die Umwertung
der Werte, die vor ihm manche geahnt, deren Wahrheit sie wie durch einen
Schleier geschaut, deren erlösende Kraft — ein beseligendes Geheimnis
— sie vorempfunden haben. Er zuerst hat es ruhig, einfach und sicher ausgesprochen,
wie wenn das eine Wahrheit wäre, die man von den Sträuchern pflücken
kann. Das ist ja das Siegel seiner Eigenart, daß er das Tiefste und Entscheidende
in vollkommener Einfachheit ausgesprochen hat, als könne es nicht anders
sein, als sage er etwas Selbstverständliches, als rufe er nur zurück,
was alle wissen, weil es im Grunde ihrer Seele lebt.
In dem Gefüge: Gott der Vater, die Vorsehung, die
Kindschaft, der unendliche Wert der Menschenseele, spricht sich das ganze
Evangelium aus. Wir müssen uns aber klar machen, wie paradox dies alles
ist, ja, daß die Paradoxie der Religion erst hier zu ihrem vollen Ausdruck
kommt. Alles Religiöse — nicht nur die Religionen — ist, gemessen
an der sinnlichen Erfahrung und dem exakten Wissen, paradox; es wird hier ein
Element eingeführt und für das wichtigste erklärt, welches den
Sinnen gar nicht erscheint und dem Tatbestande der Dinge ins Gesicht schlägt.
Aber alle andern Religionen sind irgendwie mit dem Weltlichen so verflochten,
daß sie ein irdisch einleuchtendes Moment in sich tragen, bzw. dem geistigen
Zustand einer bestimmten Epoche stofflich verwandt sind. Was aber kann weniger
einleuchtend sein als die Rede: Eure Haare auf dem Haupte sind gezählet;
ihr habt einen überweltlichen Wert, ihr könnt euch in du Hände
eines Wesens befehlen, das niemand geschaut hat. Entweder ist das eine sinnlose
Rede, oder die Religion ist hier zu Ende geführt; sie ist nun nicht mehr
bloß eine Begleiterscheinung des sinnlichen Lebens, ein Koeffizient, eine
Verklärung bestimmter Teile desselben, sondern sie tritt hier auf mit dem
souveränen, Anspruch, daß erst sie und sie allein den Urgrund und
Sinn des Lebens enthüllt; sie unterwirft sich die gesamte bunte Welt der
Erscheinung und trotzt ihr, wenn sie sich als die allein wirkliche behaupten
will. Sie bringt nur eine Erfahrung, aber
läßt in ihr ein neues Weltbild entstehen: das Ewige tritt ein, das
Zeitliche wird Mittel zum Zweck, der Mensch gehört auf die Seite des
Ewigen. Dies ist jedenfalls Jesu Meinung gewesen; ihr irgend etwas abziehen,
heißt sie bereits zerstören. Indem er den Vorsehungsgedanken lückenlos
über Menschheit und Welt ausbreitet, indem er die Wurzeln jener in die
Ewigkeit zurückführt, indem er die Gotteskindschaft als Gabe und Aufgabe
verkündigt, hat er die tastenden und stammelnden Versuche der Religion
in Kraft gefaßt und zum Abschluß gebracht. Noch einmal sei es gesagt:
Man mag sich zu ihm, man mag sich zu seiner Botschaft stellen wie man will,
gewiß ist, daß sich von nun an der Wert unseres Geschlechts gesteigert
hat; Menschenleben, wir selbst sind einer dem andern teurer geworden. Wirkliche
Ehrfurcht vor dem Menschlichen ist, ob sie‘s weiß oder nicht, die
praktische Anerkennung Gottes als des Vaters.
S.42
Aus: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Neuausgabe mit einem Geleitwort
von Rudolf Bultmann Evangelische Verlagsanstalt Berlin
Die
bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe
Dies ist der dritte Kreis und das ganze Evangelium kann in diesen Ring gefaßt
werden; man kann es als eine ethische Botschaft darstellen, ohne es zu entwerten.
In seinem Volke fand Jesus eine reiche und tiefe Ethik vor. Es ist nicht richtig,
die pharisäische Moral lediglich nach kasuistischen und läppischen
Erscheinungen zu beurteilen, die sie aufweist. Durch die Verflechtung mit dem
Kultus und die Versteinerung im Ritual war die Moral der Heiligkeit gewiß
geradezu in ihr Gegenteil verwandelt, aber noch war nicht alles hart und tot
geworden, noch war in der Tiefe des Systems etwas Lebendiges vorhanden. Den
Fragenden konnte Jesus antworten: ,,Ihr habt das Gesetz, haltet es; ihr wißt
selbst am besten, was ihr zu tun habt, die Hauptsumme des Gesetzes ist, wie
ihr selbst sagt, die Gottes- und Nächstenliebe.“ Dennoch kann man
das Evangelium Jesu in einem ihm eigentümlichen Kreise ethischer Gedanken
zum Ausdruck bringen. Wir wollen uns das an vier Punkten klar machen.
Erstlich, Jesus löste mit scharfem Schnitte die Verbindung der Ethik mit
dem äußeren Kultus und den technisch-religiösen Übungen.
Er wollte von dem tendenziösen und eigensüchtigen Betriebe »guter
Werke« in Verflechtung mit dem gottesdienstlichen Ritual schlechterdings
nichts mehr wissen. Entrüsteten Spott hat er für diejenigen, die den
Nächsten, ja ihre Eltern, darben lassen, aber dafür an den Tempel
Geschenke schicken. Hier kennt er keinen Kompromiß. Die Liebe, die Barmherzigkeit
hat ihren Zweck in sich; sie wird entwertet und geschändet, wenn sie etwas
anderes als Dienst am Nächsten sein soll.
Zweitens, er geht überall in den sittlichen Fragen auf die Wurzel, d. h.
auf die Gesinnung zurück. Das, was er ,,bessere Gerechtigkeit« nennt,
ist lediglich von hier aus zu verstehen. Die ,,bessere“ Gerechtigkeit
ist die Gerechtigkeit. welche bestehen bleibt, auch wenn man den Maßstab
in die Tiefe des Herzens senkt. Wieder scheinbar etwas sehr Einfaches, Selbstverständliches.
Dennoch hat er diese Wahrheit in die scharfe Form gekleidet:»Zu
den Alten ist gesagt worden .... ich aber sage euch.« Also
war es doch ein Neues; also wußte er, daß es mit solcher Konsequenz
und Souveränität noch nicht ausgesprochen worden war. Einen großen
Teil der sogenannten Bergpredigt nimmt jene Verkündigung ein, in welcher
er die einzelnen großen Gebiete menschlicher Beziehungen und menschlicher
Verfehlungen durchgeht, um überall die Gesinnung
aufzudecken, die Werke nach ihr zu beurteilen und Himmel und Hölle
an sie zu knüpfen.
Drittens, er führt alles, was er aus der Verflechtung mit dem Eigensüchtigen
und Rituellen befreit und als das Sittliche erkannt hat, auf eine
Wurzel und auf ein Motiv zurück,
— die Liebe. Ein anderes kennt er nicht, und die Liebe ist selbst nur
eine, mag sie als Nächsten-, Samariter- oder Feindesliebe erscheinen. Sie
soll die Seele ganz erfüllen; sie ist das, was bleibt, wenn die Seele sich
selber stirbt. In diesem Sinne ist die Liebe bereits das neue Leben. Immer aber
ist es die Liebe, die da dient; nur in
dieser Funktion ist sie vorhanden und lebendig.
Viertens, wir haben, gesehen, Jesus hat das Sittliche herausgeführt aus
allen ihm fremden Verbindungen, selbst aus der Verknüpfung mit der öffentlichen
Religion. Die haben ihn also nicht mißverstanden, die da erklärten,
es handle sich im Evangelium um die gemeine Moral. Und doch — einen
entscheidenden Punkt gibt es, an welchem er die Religion und die
Moral zusammenbindet. Dieser Punkt will empfunden sein; er läßt sich
nicht leicht fassen. Im Hinblick auf die Seligpreisungen darf man ihn vielleicht
am besten als die Demut bezeichnen: Demut
und Liebe hat Jesus in eins gesetzt. Demut ist
keine einzelne Tugend, sondern sie ist reine Empfänglichkeit, Ausdruck
innerer Bedürftigkeit, Bitte um Gottes Gnade und Vergebung, also Aufgeschlossenheit
gegenüber Gott. Von dieser Demut, welche die Gottesliebe ist, die wir zu
leisten vermögen, meint Jesus — denken Sie an das Gleichnis vom Pharisäer
und Zöllner —, daß sie die stetige Stimmung des Guten ist und
daß aus ihr alles Gute quillt und wächst.
»Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern
Schuldigern«, das ist das Gebet, der Demut und der Liebe zugleich.
Also hat auch die Liebe zum Nächsten hier
ihren Quellpunkt; die Geistlich-Armen und die Hungernden und Dürstenden
sind auch die Friedfertigen und Barmherzigen.
In diesem Sinne ist Moral und Religion durch Jesus verknüpft worden; in
diesem Sinne kann man die Religion die Seele der Moral und die Moral den Körper
der Religion nennen. Von hier aus versteht man, wie Jesus Gottes- und Nächstenliebe
bis zur Identifizierung aneinanderrücken konnte: die Nächstenliebe
ist auf Erden die einzige Betätigung der in der Demut lebendigen Gottesliebe.
Indem Jesus seine Predigt von der besseren Gerechtigkeit
und den neuen Gebot der Liebe in diesen vier Hauptgedanken zum Ausdruck gebracht
hat, hat er den Kreis des Ethischen in einer Weise
umschrieben, wie ihn noch niemand vor ihm umschrieben hatte. Wenn sich uns aber
zu verdunkeln droht, was er gemeint hat, so wollen wir uns immer wieder in die
Seligpreisungen der Bergpredigt versenken. Sie enthalten seine
Ethik und seine Religion, in der Wurzel verbunden und von allem Äußerlichen
und Partikularen befreit. S.43-45
Aus: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums.
Neuausgabe mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann Evangelische Verlagsanstalt
Berlin