Hermann Gunkel (1862 - 1932)
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Deutscher
Theologe, der in Göttingen und Gießen evangelische Theologie studierte und durch seine grundlegenden Forschungen und kritischen Betrachtungen zur Geschichte des Alten und Neuen Testaments in religionsgeschichtlicher
Hinsicht Beachtung fand. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Das alte Testament
im Licht der modernen Forschung
Eine neue Zeit, so scheint es, steigt gegenwärtig in unserm Vaterlande
für die Religion
empor. Das deutsche Volk, dessen Geist nur zu lange von materie1len Interessen
beherrscht war, sehnt sich wieder nach Höherem und Edlerem. Da mag wohl
mancher wieder nach der Bibel greifen und es versuchen, die alten Eindrücke
seiner Kindheit, die er so lange vergessen hatte, wieder in sich zu erwecken.
Aber bald legt er das heilige Buch wieder fort. Denn es redet nicht mehr zu
ihm; es ist ihm zu fremdartig geworden. Es gibt wohl kein einziges Buch im Alten,
geschweige denn im Neuen Testamente, das der moderne Laie in der
Lutherschen Übersetzung von Anfang bis Ende mit vollem Verständnis
lesen könnte. Teils stört ihn die gewaltige, aber doch nun eben veraltete
Sprache Luthers; teils empfindet er dunkel
die Entfernung der Zeiten und die Fremdartigkeit des antiken Wesens. So kommt
es, dass die Bibel nach wie vor unter uns trotz ihrer ungeheuren Verbreitung
wenig gelesen und noch viel weniger verstanden wird.
Wirksam sind unter uns aus der
Bibel einzelne Sprüche, Abschnitte, besonders Erzählungen, aber nicht
ganze Schriften, geschweige denn das gesamte Buch. Was aber der Laie, auch der
gebildete Laie, gewöhnlich nicht weiß, das ist, dass es schon seit
lange auf dem Boden der evangelischen Kirche eine Wissenschaft
von der Bibel gibt, eine
Wissenschaft, die ein wirkliches Verständnis der Schrift, wie es die
Gegenwart bedarf, und wie es sich der Laie ersehnt, erobert hat, eine Wissenschaft,
die also nicht nur für die wenigen Gelehrten da sein sollte, sondern die
es mehr als irgend eine andre verdiente populär zu sein. Denn wenn die
Bibel wieder unter unsern Gebildeten gelesen werden und wirken soll, so ist
es nur auf dem Wege möglich, dass das wissenschaftliche Verständnis
der Bibel unter uns verbreitet wird. Dieses moderne, wissenschaftliche Verständnis
des Alten Testamentes in Kürze darzulegen, ist der Zweck der folgenden
Zeilen.
I .
Setzen wir ein bei dem Einfachsten und Äußerlichsten, bei der modernen
»Kritik«
der Abfassungsverhältnisse der alttestamentlichen Schriften. Beinahe
jedes Buch der Bibel ist uns zugleich mit einer bestimmten Tradition über
seinen literarischen Ursprung überliefert; und gerade diese Traditionen,
die zum großen Teil in den Überschriften der Bücher niedergelegt
sind, haben sich, begreiflicherweise, großer Beliebtheit erfreut: wer
wüsste nicht, dass die fünf ersten Bücher von Moses
geschrieben sind, dass David die Psalmen gedichtet
hat, und dass von Salomo die Sprüche stammen?
So heißt noch gegenwärtig die Schöpfungsgeschichte des ersten
biblischen Kapitels bei aller Welt »die
mosaische Schöpfungsgeschichte«,
und jedermann zitiert den Spruch, dass alles eitel ist, als Wort des weisen
Salomo.
Nun aber ist seit Erwachen des modernen Geistes, also etwa seit dem dreißigjährigen
Kriege, zuerst im Auslande, dann etwa seit anderthalb Jahrhunderten auch in
Deutschland, eine moderne Wissenschaft entstanden, die viele dieser Traditionen
bezweifelt, bestritten und umgestürzt und schließlich ein neues Gebäude
dafür an die Stelle gesetzt hat. Man hat dieser »kritischen«
Wissenschaft das Leben wahrlich nicht leicht gemacht. Noch in der Mitte des
verflossenen Jahrhunderts hat ein fanatischer Ansturm gegen die
»Kritik« stattgefunden, und noch sind die Stimmen nicht ganz
verstummt, die alle solche literarische Kritik an der Bibel als Unglauben verurteilen.
Woher die Leidenschaft dieser Bestreitungen?
Es ist ganz deutlich im letzten Grunde die Inspirationslehre, die Lehre von
der göttlichen Eingebung der heiligen Schrift, worum hier gekämpft
worden ist. Denn wenn die heilige Schrift wirklich in allen ihren Teilen »Gottes
Wort« ist, vom heiligen Geiste den Schriftstellern übernatürlich
eingegeben, so müssen alle ihre Angaben und auch ihre Überschriften
Wahrheit sein. Umso bedeutsamer ist demnach die Tatsache, die gegenwärtig
offenkundig vorliegt, dass die »Kritik« auf
der ganzen Linie gesiegt hat. Aufstellungen, um die man ein Jahrhundert lang
gekämpft hat, sind in der Gegenwart allgemein anerkannt. Und auch Theologen,
die von Freund und Feind »positiv«
oder »orthodox« genannt werden, haben
sich der Wucht der kritischen Gründe nicht verschließen können.
Denn diese so genannten »positiven«
Theologen denken vielfach sehr viel anders, als die positiven Laien denken,
und als diese denken, dass die Theologen dächten.
Die Hauptergebnisse der »Kritik«, in
denen gegenwärtig alle deutschen
wissenschaftlichen Theologen übereinstimmen, sind etwa folgende.
1. Die ersten fünf Bücher
stammen, so wie sie gegenwärtig vorliegen, nicht
von Moses, sondern sind im Laufe vieler Jahrhunderte
aus mancherlei »Quellenschriften« zusammengekommen.
2. die große Mehrzahl der
Psalmen kann nicht von David
herrühren.
3. Der zweite Teil des Buches Jesajas
(Jes. 40—66) ist nicht von dem alten Propheten
Jesajas, der in der Zeit des Beginns der assyrischen
Herrschaft über Kanaan (etwa 730) lebte,
geschrieben. sondern stammt aus dem Anfang des persischen Reiches (aus
der Zeit des Cyrus) und ist in unsern Handschriften
nur durch ein Versehen dem Buche des alten Jesajas
beigebunden worden.
4. Das Buch Daniel ist nicht,
wie man aus dem Buche selbst entnehmen könnte, zur Zeit des babylonischen
Exils geschrieben, sondern ist mehrere Jahrhunderte später unter griechischer
Herrschaft im Anfang der makkabäischen Periode verfasst worden.
Aber das sind nur wenige Einzelheiten! In Wirklichkeit handelt es sich um ein
gewaltiges Gebäude, das zum ewigen Ruhm deutscher Wissenschaft im letzten
Jahrhundert errichtet worden ist. In den letzten Jahrzehnten hat diese Wissenschaft
noch einmal eine große Umwälzung erlebt, die sich besonders an den
Namen Wellhausen knüpft. Dabei handelt es
sich um die Frage, aus welcher Zeit die »Quellenschriften«
der ersten fünf Bücher herrühren. Man hatte längst gelernt,
solche »Quellenschriften«, die einstmals
selbständig gewesen sind, in den fünf Büchern zu unterscheiden;
wie sich denn im Laufe der Untersuchung überhaupt herausgestellt hat, dass
sehr viele der alttestamentlichen Schriften nicht Werke eines
Mannes, sondern Sammlungen älterer, kleinerer Schriften sind. Nun unterscheidet
man unter den gesetzlichen Schriften des »Pentateuch«
(d. h. des Fünf-Rollen-Werkes) seit Alters
einen bestimmten Gesetzeskodex, der in der Mitte des Pentateuch
erhalten ist.
Diese, eben wegen ihrer gegenwärtigen Stellung die
»mittelpentateuchische« Gesetzgebung genannte Schrift, die
hauptsächlich die Gesetze der Stiftshütte enthält, hatte man
in einer älteren Phase der Kritik für die älteste gesetzliche
Schrift gehalten; das große Resultat Wellhausens
aber ist, dass diese Schrift in Wahrheit der spätesten Zeit, die hier überhaupt
in Betracht kommen kann, nämlich der Epoche des babylonischen Exils, angehört.
Dies Resultat, dem gegenwärtig fast alle alttestamentlichen Forscher zustimmen,
ist von außerordentlicher Bedeutung für den Aufriss der ganzen Geschichte.
Denn eben zugleich mit dieser neuen Ansetzung dieses Gesetzeskodex ist die Wahrheit
ans Licht getreten, dass das alte Israel gar nicht, wie man bisher stets angenommen
hatte, von Anfang an das Volk des Gesetzes gewesen, sondern dass es erst in
der nachexilischen Zeit, als sein Staat zerstört und sein Volkstum in stärkster
Gefahr war, unter die Herrschaft des Gesetzes geraten ist.
Es ist hier nicht der Ort, alle »kritischen«
Aufstellungen zu schildern und ihre Gründe anzugeben. Genug, das Bild der
Abfassungsverhältnisse der biblischen Bücher hat sich gegen früher
außerordentlich verschoben. Und schon das Zusammentreffen so vieler ehrlicher
und gewissenhafter Forscher in diesen Ergebnissen kann auch dem über die
Sache nicht unterrichteten Laien zeigen, dass es sich dabei nicht um müßige
Einfälle oder um Unglauben und Zweifelsucht, sondern um gute Gründe
und gewissenhafte Erwägungen handelt.
Um nur ein paar solche Gründe zu nennen, so enthält der Pentateuch
so viele offenkundige Widersprüche und innere Unmöglichkeiten, dass
er sicherlich nicht von einem Schriftsteller verfasst sein kann. Oder ein Psalm,
der den Tempel von Jerusalem voraussetzt, (z. B. Ps. 1;
23, 6), kann unmöglich David zum Dichter
haben, wissen wir doch, dass der Tempel erst von Salomo,
Davids Sohn, gebaut worden ist. Manche, ja vielleicht viele der kritischen Behauptungen
der gegenwärtigen Wissenschaft werden sich später vielleicht als irrig
erweisen; was aber gewisslich bleiben wird, das ist der kritische Geist, die
Überzeugung, dass wir Recht und Pflicht haben, der Überlieferung nicht
blindlings zu folgen, sondern »Kritik«
zu treiben. Das sicherste Ergebnis der Kritik aber ist und. bleibt, dass die
Inspirationslehre des 17. Jahrhunderts gefallen
ist. Wer seinen Glauben also darauf baut, dass die Schrift des Alten Testamentes
ein heiliger Buchstabe ist, unfehlbare göttliche
Wahrheit, der baut auf
Sand.
II.
Viel wichtiger aber als alle diese Fragen der Literarkritik und literarischen
Chronologie sind die Einwände,
die gegen die Glaubwürdigkeit
vieler biblischer Erzählungen erhoben worden sind. Denn solche Bedenken
richten sich nicht mehr nur gegen die literarische Form der Bücher, sondern
sie gehen den Inhalt selber an. Derartige Einwände sind gegenwärtig
auch unter den Laien verbreitet und betreffen vielfach die Wundererzählungen.
Ist es wirklich möglich, dass der Prophet Jonas
im Bauche eines Fisches gewesen ist? Sollte wirklich die Sonne auf Josuas
Geheiß stillgestanden haben? Und soll der Sonnenzeiger an der Sonnenuhr
zurückgegangen sein, als Jesajas das befahl?
Ja, soll wirklich Eisen auf Wasser geschwommen haben, wie die Elisageschichte
erzählt?
Unsere Vorfahren haben diese Erzählungen treuherzig geglaubt; vor anderthalb
Jahrhunderten, als die Kritik erwachte, hat man
sich dieser Wundergeschichten geschämt und sie durch allerlei Umdeutungen
zu beseitigen versucht; jetzt erkennt unsere Wissenschaft
unter dem Einfluss des allgemeinen historischen Sinnes an, dass man diese
Wunderberichte nicht umdeuten darf, aber zugleich versagt die naturwissenschaftlich
gebildete Zeit ihnen hartnäckig den Glauben.
Es ist nicht unsere Absicht, hier die gesamte Wunderfrage aufzurollen; handelt
es sich doch in diesem Zusammenhange um viel einfachere Erwägungen. Ein
eisernes Beil — dessen sind heutzutage alle gewiss
— schwimmt eben nicht auf Wasser und hat nie darauf geschwommen. Ja, es
scheint uns, gerade herausgesagt, mit einer höheren Gottesanschauung unverträglich,
anzunehmen, dass Gott so zuweilen am Weltbau geflickt
und die selbst geschaffenen Ordnungen durchbrochen habe. Ist es würdig,
von Gott zu glauben, dass er einmal giftige Gurken
gesund gemacht und Bären über die ungezogene Jugend von Bethel geschickt
hat? (2. Könige 2.)
Und sicherlich glaubt auch unter den so genannten »positiven«
Theologen von irgendwelcher wissenschaftlicher Bedeutung niemand mehr, dass
die Eselin Bileams
wirklich gesprochen habe. —
Bedenken andrer Art sind hinzugekommen, auch diese allgemein bekannt. Kain
nimmt sich ein Weib und baut sich eine Stadt, ehe noch Menschen auf Erden sind.
Alle Tierarten gehen in die Arche.
Abraham heiratet in seinem 137.
Jahre nach Saras Tode wieder und erzeugt
noch sechs Söhne, während er vierzig Jahre vorher nicht mehr an die
Möglichkeit eines Sohnes hat glauben können.
Der kleine Benjamin, den sein Vater nicht gern
von sich lassen will, bringt nach Ägypten schon zehn Söhne mit.
Im so genannten 1. Samuelisbuch wird erzählt,
dass sich Israel unter Samuels Leitung einen König
durchs Los gewählt habe; aber sollte ein Volkwirklich jemals eine so wichtige
Entscheidung dem Lose überlassen haben? —
Unsere Wissenschaft ist natürlich hei solchen
vereinzelten und elementaren Bedenken nicht stehen geblieben, sondern hat sie,
nach Art aller Wissenschaft, versucht, in ein
System zu bringen. Wie kommt es — so hat man sich gefragt
—, dass bestimmte Erzählungen der israelitischen Tradition wie etwa
die Erzählung von Bileams Eselin
so unglaubwürdig klingen, andere dagegen wie z. B. die Erzählung
von Absaloms Aufstand vollen Glauben verdienen,
ja uns mitten in das ganz realistisch angeschaute Volksleben Israels versetzen?
Dabei hat uns ein Mittel
gefördert, das die moderne geschichtliche Wissenschaft
auf allen Gebieten zu brauchen gelernt hat, und von dem in einem folgenden
Abschnitt weiter geredet werden soll, nämlich das Mittel der Vergleichung:
eine einzelne Erscheinung bleibt unverständlich; wird sie aber in den richtigen
Zusammenhang gesetzt und mit ähnlichen Erscheinungen verglichen, so wird
ihr Sinn oft ohne weiteres klar.
So hat man auch die Erzählungen der Bibel mit denen anderer Literaturen
verglichen und vielfache Ähnlichkeiten in der Form (bei
aller Verschiedenheit im Inhalt) gefunden. Auch andere Völker wissen
von der Weltschöpfung zu erzählen, von Urvätern, mit denen die
Gottheit verkehrt hat, von den Helden der Vergangenheit; haben wir doch seit
einigen Jahrzehnten babylonische Erzählungen im Urtext kennen lernen, die
gewissen biblischen Berichten — es handelt sich dabei besonders um die
Sintfluterzählung — in manchem recht ähnlich sind. Und ebenso
wie die biblischen so sind auch jene außerisraelitischen Erzählungen
vielfach von wunderbaren Zügen durchsetzt. Denken wir nur an Homer oder
an die Sagen und Legenden des Mittelalters. Damit aber war das Gesetz gefunden,
aus dem diese biblischen Erzählungen zu erklären sind. Sie sind Sagen,
und sind als Sagen zunächst ebenso aufzufassen wie die
Sagen aller anderer Völker.
Ehe ein Volk zu geschichtlichem Bewusstsein erwacht, ehe es lernt, die Tatsachen
der Wirklichkeit objektiv aufzufassen und nüchtern wiederzugeben, hat es
sich schon längst an allerlei Erzählungen ergötzt, in denen sich
zum Teil auch seine Vergangenheit widerspiegelt; solche altererbten Erzählungen
aber sind nicht strenge Geschichte, sondern sind volkstümlicher, poetischer
Natur, nicht eine genaue Wiedergabe des Geschehenen, sondern eine dichterische
Verklärung der Helden und Begebenheiten, nicht
eine Verschlechterung der Geschichte
und daher mit Verachtung beiseite zu schieben, sondern eine Idealisierung, die
das Volk unbewusst den großen Stoffen hat angedeihen lassen, und eben
darum als eine besonders holdselige Blüte des Volksgeistes mit Ehrfurcht
und Liebe zu schätzen Welches Deutschen Herz wird nicht warm, wenn er unserer
schönen Märchen und herrlichen Volkssagen gedenkt? Wem ist nicht Siegfried
und Kriemhild lieber als Chlodwig
und Pipin?
So soll auch die hebräische Sage nicht in unserer Achtung sinken, wenn
wir sie als Sage erkennen, sondern wir wollen sie eben deshalb mit besonderer
Liebe ans Herz schließen; wir wollen um so eifriger bestrebt sein, die
großen göttlichen Wahrheiten, die in dieser Form an gesprochen werden,
zu erkennen; gehören doch die hebräischen Sagen zu den schönsten
und tiefsten, die in der ganzen Weltliteratur existieren!
Auch eine Geschichtsschreibung hat es in Israel gegeben, deren bedeutsamstes
Dokument die schon oben zitierte Erzählung von Absaloms
Verschwörung ist, eine Geschichtsschreibung freilich, die noch vielfach
sagenhaft-poetische Elemente mit sich führt, also nach strengstem modernen
Maßstabe schwerlich »Geschichtsschreibung«
genannt werden dürfte, die aber in dem antiken Orient durch ihre
Kraft, die Dinge aufzufassen und lebensvoll zu schildern, einzigartig dasteht
und nur mit der Geschichtsschreibung der Griechen verglichen werden kann. Aber
auch das sind noch ganz elementare Beobachtungen. Wir sind dazu übergegangen,
die Hauptmerkmale festzusetzen, an denen sich Geschichte und Sage unterscheiden,
und haben so versucht, das Urteil, eine Erzählung sei Sage, aus einem unmittelbaren,
subjektiven in ein objektives, reflektiertes zu verwandeln.
Besondere Mühe ferner haben sich die Modernen gegeben, die verschiedenen
Phasen der israelitischen Geschichtsauffassung zu erkennen und festzustellen,
in welche dieser Perioden jedes einzelne erzählende Stück gehört.
Man hat gefunden, dass die erzählenden Bücher Sammelwerke sind, und
ferner, dass sie manche Überarbeitungen zu verschiedenen Zeiten erlitten
haben, so dass in ihrer gegenwärtigen Gestalt Stücke verschiedenster
Art und aus verschiedensten Zeiten oft dicht nebeneinander stehen: da lesen
wir etwa eine uralte sagenhafte Erzählung von wunderbarer volkstümlicher
Poesie, deren Grundzüge wir mit Vorsicht für unsere Geschichtsdarstellung
gebrauchen können; daneben eine ziemlich realistische Beschreibung
eines israelitischen Kriegszugs: ein Stück der alten Historie; daneben
aber eine späte Legende, in der sich die geschichtlichen Züge unter
dem Einfluss prophetischer oder priesterlicher Ideen, manchmal bis zur Unkenntlichkeit
verfärbt haben.
Alle diese Fragen müssen erst erledigt sein, ehe es zu dem Versuche, eine
eigene Geschichtsdarstellung zu geben, überhaupt
kommen kann. Fassen wir alles zusammen und vergleichen den Zustand der gegenwärtigen
Wissenschaft mit dem vor etwa 200 Jahren! Damals ein naives Zutrauen zu der
Geschichtlichkeit alles Berichteten; jetzt eine reich entwickelte geschichtliche
Kritik, die nach festen Grundsätzen
vorgeht und an Stelle der früher angenommenen Einförmigkeit eine sehr
komplizierte Geschichte der geschichtlichen Überlieferung gesetzt
hat. Nun ist zwar in diesen Dingen keineswegs eine völlige Übereinstimmung
erzielt worden; noch weichen die Forscher auch und gerade in den wichtigsten
Fragen, ob eine Person oder ein Ereignis für geschichtlich zu halten sei,
vielfach voneinander ab. Aber es gibt auch der allgemein anerkannten Resultate
genug. So wird schwerlich irgendeiner, der auf den Namen eines Forschers Anspruch
macht, bezweifeln, dass die Chronik als Geschichtsquelle tief unter den Königsbüchern
steht; und wenn sich auch hier von unsern gegenwärtigen Behauptungen später
manches als Irrtum herausstellen sollte: die kritischen Aufstellungen können
vergehen, die Kritik wird bleiben.
Die naive Annahme, dass alles dies, so wie es erzählt wird, auch wirklich
geschehen sei, ist unter den geschichtlich Denkenden ein für allemal vorüber.
Wer also seinen Glauben
darauf stützen möchte, dass im alten Israel bestimmte Ereignisse wahr
und wahrhaftig geschehen seien, der sehe sich zuvor den Boden an, auf den er
seine Gebäude errichtet. Ein Glaube, der über
Leben und Sterben aushalten soll, muss fester gegründet sein als auf historische
Berichte, die jedes neu aufgefundene Dokument umwerfen kann. Denn auch darüber
dürfen wir den Laien nicht im Unklaren lassen, dass es nicht Kleinigkeiten
sind, die von der modernen kritischen Forschung für sagenhaft oder mythisch
gehalten werden, sondern gerade diejenigen Züge, die von der bisherigen,
»heilsgeschichtlichen« Betrachtung
für die entscheidenden Hauptsachen angesehen werden. Welche Mühe hat
man sich gegeben, und geben sich — leider Gottes! — unverständige
Menschen noch jetzt, nachzuweisen, dass die Schöpfungsgeschichte
von 1. Mose 1 mit der modernen Naturwissenschaft
nicht im Streit sei!
Aber die historische Kritik tritt hinzu und zeigt,
dass 1. Mose 1 ein Mythus
ist! Die Einsetzung des Sabbats durch Gott selbst, ein solches Hauptstück
des jüdischen Glaubens, ein Mythus?
Jedermann weiß, dass nach der Lehre des Neuen Testaments und der gesamten
christlichen Dogmatik
die Paradieseserzählung eine der bedeutsamsten Geschichten, ja die entscheidende
Begebenheit des Alten Testamentes ist. Die ganze Heilsgeschichte
wird eingerahmt durch den Fall der Menschheit am Anfang und durch den Versöhnungstod
Christi am Schluss. Aber gerade diese, so überaus
bedeutsame Erzählung wird mit voller Entschiedenheit als Sage von allen,
die überhaupt in Betracht kommen, beurteilt. Dann die Gestalten der Patriarchen,
eine Figur von der Bedeutung Abrahams; niemand
kann wissen, ob diese Figuren je gelebt haben; und wenn es wirklich einen Mann
mit dem Namen Abraham gegeben haben sollte, so
ist doch gerade sein Glaube, um
dessentwillen Abraham dem Neuen Testamente bedeutsam
ist, sicherlich kein historisches Faktum: denn die Religion
solcher volkstümlichen Erzählungen ist immer diejenige, die
zur Zeit der Erzähler, nicht
aber zur Zeit der Begebenheiten geherrscht hat; nicht die alten Germanen, aber
die Dichter des Nibelungenliedes sind zur Messe gegangen.
Zusammenfassend darf man sagen, dass die Kritik
der Geschichte Israels den Heiligenschein in vielem
geraubt hat; gerade die¬jenigen Erzählungen, die wegen ihres religiösen
Wertes unserm Herzen nahe stehen, sind vielfach als Sage erwiesen; und was die
Kritik als geschichtlich stehen lässt, damit gerade vermag die Heilsgeschichte
wenig genug anzufangen. Was hilft es der religiösen Betrachtung, wenn in
der Urzeit einmal wirklich eine Wanderung der Vorfahren Israels von Babylonien
über Syrien nach Kanaan stattgefunden haben sollte, unseretwegen auch unter
einem Manne namens Abraham, wenn doch der Glaube
Abrahams nicht historisch ist? Es ist begreiflich, wenn Unkundige oder
Übelwollende unter dem Eindruck dieser Zerstörungen darüber klagen,
dass die Bibelkritik rein negativ sei; indes, man sollte nicht übersehen,
dass neben dem Zerstören des Alten das Aufbauen des Neuen seit lange betrieben
worden ist. Die überlieferte Chronologie der biblischen Schriften ist dahin;
aber eine neue ist gegeben und eine Literaturgeschichte Israels steigt empor;
die »Heilsgeschichte« in der alten
Auffassung ist gefallen, aber eine Geschichte des
wirklichen Israels ist an die Stelle getreten.
III.
Aber alles dies sind nur erst Außenwerke. Allem diesem gegenüber
kann sich der fromme Laie noch auf den Standpunkt zurückziehen, dass er
der Forschung überlasse, festzustellen, wann und wie die Schriften der
Bibel entstanden seien, wieviel von den Erzählungen historisch sei, wenn
ihm nur erlaubt bleibe, sich an diesen Schriften, an diesen Erzählungen
unbefangen zu erbauen. Aber auch diese Position ist ins Herz getroffen worden
durch das Aufkommen eines neuen, besseren Verständnisses des Alten Testamentes.
Unsere Vorfahren haben die Bibel unter der als selbstverständlich geltenden
Voraussetzung gelesen, dass sie jedem, der nur ehrlich suche, unmittelbar verständlich
und auf das Leben des gegenwärtigen Christen ohne weiteres anwendbar sei.
Unter dieser Voraussetzung hat sie Luther übersetzt
und dem deutschen Volke dargeboten; diese Eintragung der Person des frommen
Übersetzers in seinen Text gibt ihr den unnachahmlichen Klang; wenn
Luther schreibt: »aus der Tiefe rufe ich,
Herr, zu dir«, so fühlt man ihm ab, dass er dabei nicht an
einen beliebigen Psalmisten, der vor Zeiten gelebt hat, sondern an sich selbst
gedacht bat. Und die dogmatische Theorie jener Zeit rechtfertigte dies naive,
unmittelbare Bibelverständnis.
Die Inspirationslehre behauptete, dass alle Schriften
in völlig gleichmäßiger Weise eingegeben seien; da konnte es
keine Unterschiede zwischen den einzelnen Teilen geben; sondern alles verkündete
von Anfang bis Ende dieselbe große göttliche Wahrheit. Hier erhob
sich nicht das eine an Wahrheitserkenntnis über das andere, sondern alles
erschien wie auf einer Fläche aufgetragen. Auch das Alte Testament war
nach dieser Lehre schließlich ein christliches Buch und konnte demnach
ohne weiteres für die christliche Erbauung benutzt werden. Diese Überzeugung
aber von der Nähe des Alten Testamentes ist jetzt unwiederbringlich dahin.
Auch hier können wir mit elementaren Beobachtungen, die dem Laien geläufig
sind. beginnen. Es gibt im Alten Testament eine Fülle von Stellen, die
dem unverbildeten, reinen Empfinden in hohem Grade anstößig
sind. Jakob lügt
und betrügt und gewinnt sich so den
göttlichen Segen! Kein Wort des Tadels über
ihn wird in jener Geschichte laut. Abraham gibt
sein Weib, als die Fremden sie begehren, für seine Schwester aus, und der
Handel nimmt für ihn ein gutes Ende Ja, er bekommt als Preis für seine
vermeintliche Schwester noch Reichtümer, mit denen er dann unbehelligt
abziehen darf (1. Mose 12, 10ff.). Eine Variante
(1. Mose 20) erzählt, dass Gott ihm
sogar befohlen habe, für den fremden König, der in gutem Glauben Sara
an sich genommen hatte, Fürbitte er einzulegen, was unser Gerechtigkeitsgefühl
stark beleidigt: der Lügner betet für
den völlig Schuldlosen!
Es hat lange für fromm gegolten, solche besonders auffälligen Abweichungen
des Alten Testamentes von der christlichen Sittlichkeit durch allerlei Ausreden
zu beseitigen. Aber einem reinen Sinn sind solche Ausflüchte widerwärtig.
Schon Luther hat in seiner großartigen Unbefangenheit,
die ihn gelegentlich über die Schranken des eigenen Dogmas
erhob, seinen Widerwillen gegen das Buch Esther
ausgesprochen; mit vollem Recht: wer könnte die niedrige Denkart dieser
Schrift, die blindlings für das Judentum gegen die Heiden Partei nimmt,
mit Wohlgefallen betrachten, und wie kann uns, die wir Deutsche und Christen
sind, zugemutet werden, in einer solchen Erzählung Gottes
Wort zu sehen?
Bekannt sind auch die Fluch- und Rachepsalmen,
in denen die fromme Leidenschaft
Gottes und die eigene
Sache verwechselt und sich so von dem evangelischen Gebot der Feindesliebe weit
entfernt. An solchen Beispielen kann sich also auch der Laie klarmachen, dass
zwischen Altem und Neuem Testament eine große Kluft befestigt ist. Wenn
man aber so zu sehen gelernt hat und nun das Alte Testament betrachtet, so wird
man überall der Verschiedenheiten vom Neuen genug und übergenug erkennen.
In der Paradiesesgeschichte hat Gott,
so heißt es, unter den Menschen gewandelt, und die Menschen haben den
Schall seiner Schritte gehört; dem Noah hat
er gar die Tür der Arche verschlossen: welche für uns völlig
unfassbare Naivität der Vorstellung
von Gott!
Aber was sollen wir sagen, wenn es gar heißt, dass Jakob
mit einem göttlichen Wesen
Leib gegen Leib gerungen habe; zwar geht die fromme Rede, dass es ein Gebetskampf
gewesen sei; aber die Sage selbst weiß davon nichts, denn im Gebet verrenkt
man sich nicht die Hüfte.
Die göttlichen Wesen, die dem Lot
zu Sodom erscheinen, sind, so setzt die Erzählung deutlich voraus,
an die Nacht gebunden, nicht anders als die Götter der Heiden; darum drängen
sie den Lot so, denn ihr Werk muss noch vor Sonnenaufgang geschehen sein.
Das alte Israel hat seinem Gott Opfer dargebracht
und hat in alter Zeit geglaubt, dass Gott den süßen
Geruch rieche und sich dadurch in seinen Entschlüssen bestimmen ließe:
auch dies eine Vorstellung, in die wir uns kaum
hineindenken können. Besonders erregt unser beständiges Befremden
Gottes Verhältnis zu Israel, das er —
wie aus vielen Stellen hervorgeht — einseitig vor den Heiden bevorzugt;
kann man doch in Israel beten, dass Gott sein eigen Volk schonen und seinen
Grimm lieber auf die Heiden ergießen möge,
»die deinen Namen ja nicht anrufen !« (Ps.
79, 6). Was ferner die Sittlichkeit Israels betrifft, so erscheint uns
besonders die Schätzung der Frau anstößig, die nach israelitischem
Recht für Geld und Geldeswert .erworben, um nicht zu sagen gekauft wird.
Man kann sich den Abstand jener altisraelitischen Sittlichkeit von der modernen
am besten daran deutlich machen, dass damals die Ehe mit zwei Frauen ganz gewöhnlich
war, während unser Gesetz die Bigamie als ein Verbrechen bestraft. —
Fasst man dies und vieles andere zusammen, so ist es mit dem naiven Vertrauen
der Vorfahren aus, dass in den Schriften des Alten Testamentes die göttliche
Wahrheit selbst
rein und unverfälscht
zu uns spricht. An die Stelle des Empfindens der Nähe tritt zunächst
das der Fremdheit, und an die Stelle des Vertrauens die Kritik.
So wird es verständlich, dass unter diesem Eindruck das Urteil entsteht,
dass das Alte Testament demnach unter Christen überhaupt keine Stätte
mehr habe. Schon einmal ist die Versuchung, das Alte Testament wegzuwerfen,
an die christliche Kirche herangetreten, als in den ersten Jahrhunderten nach
ihrer Entstehung eine große Bewegung, die so genannte
»Gnosis«, diese Forderung erhob. Heutzutage erklingen diese
Stimmen aufs neue; gegenwärtig sind es gewöhnlich besonders stark
national empfindende Männer, deren »germanisches«
und »arisches« Ehrgefühl in den
»Semiten«, den »Juden«
die Quelle alles Unheils unseres Volkes sieht, und die es daher nicht ertragen
können, dass das heilige Buch der Juden unter
den Deutschen eine solche große
Bedeutung hat.
Man macht sich aber in diesen Kreisen nicht genügend klar, dass zwar Hunde
und Pferde, aber nicht die Menschen allein durch
die Abstammung bestimmt werden (wenngleich die Bedeutung
der Rasse anderseits auch von uns keineswegs gering geschätzt werden soll);
und dass jenes antike Israel von den Juden, die gegenwärtig unter
uns wohnen, durch eine gewaltige und überaus einflussreiche Geschichte,
ja vielfach vielleicht auch durch das Blut getrennt ist, so dass beide schließlich
ganz verschiedene Völker darstellen: keinen größeren Fehler
könnte man begehen, als wenn man die Schriften des Alten Testamentes ohne
weiteres aus der Art der modernen Juden deuten würde.
Besonders aber vergessen jene Männer, wie wertvolle Schätze es trotz
allem enthält und auch der Gegenwart darzureichen vermag. Um mit dem Geringeren
zu beginnen, so bietet es eine fast unübersehbare Fülle künstlerischer
Anregung; es gibt in unserm ganzen Kulturkreis kein Werk, aus dem die Kunst
der modernen Völker so viel Stoffe und Vorbilder genommen hätte. Es
sollte nicht nötig sein, einem Volk, das Herder
erzeugt hat, diese ästhetische Herrlichkeit des Alten Testamentes noch
einmal zu predigen. Aber nachdem noch unsere Klassiker am Alten Testament wie
an der Mutterbrust ihrer Kunst gesogen haben, ist es heutzutage unter Gelehrten
und Künstlern vom Alten Testament merkwürdig still geworden.
Unsere Gelehrten und manchmal auch diejenigen ersten Ranges zeigen nicht selten
eine sonderbare Unwissenheit über dies weltgeschichtliche Buch, und unsere
Ästhetiker gehen an den mancherlei wunderbaren Schöpfungen, die es
enthält, nur zu oft ohne Ahnung ihrer Schönheit vorüber. Ein
Goethe wusste noch, was das Alte Testament der Kunst bedeuten kann; die Modernen
haben es vergessen. Aber Kunst hin, Kunst her! Denn nicht die ästhetische
Form des Buches ist uns die Hauptsache, sondern der religiöse Inhalt. Wo
aber gibt es in allen Literaturen der modernen Völker ein Werk, diesem
ebenbürtig an Mannigfaltigkeit der religiösen Gestaltungen! Ist doch
dies Buch einem vielgestalteten Gebirge gleich: da sind Gipfel, die zum Himmel
emporragen, da der gewaltige Heros hoch über dem gemeinen Getriebe der
Menschen vor seinem Gott steht; da sind auch freundliche
Ebenen, in denen Gottes Brunnen rieseln und Gottes
Bäume wehen; und daneben schaurige Einsamkeiten und Klüfte,
in die sich der grübelnde Zweifler verliert.
In den Tälern ist der Blick durch die Berge beschränkt: die Religion
ist an das Volkstum gebunden, aber zuweilen öffnet sich die Aussicht,
und wir blicken hinaus auf die Welt der Völker und hören das Orakel,
dass auch sie sich einst zu dem wahren Gott bekehren sollen. Da verkünden
die Propheten in Donnerreden die hohen Wahrheiten der reinen Religion; da schreibt
Gottes Finger die ewigen Grundzüge der Sittlichkeit
auf die steinernen Tafeln; da erklingen Urworte frommen Sehnens, Glaubens, Schauens
in den Psalmen: Wie der Hirsch schreiet nach frischem
Wasser, so schreiet meine Seele, Gott, zu dir! Herr, du bist unsre Zuflucht
für und für! Schaff in mir, Gott, ein reines Herz!
Da verkündigt der Gesetzgeber Gottes Befehl an Israel: du
sollst Gott lieben von ganzem Herzen! Da zeigt der Weise die Ordnungen
des Höchsten im Menschenleben. Und auch des Grüblers Stimme schallt
dazwischen: o Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist eitel! Und alles dies, wie
mannigfaltig es ist, in wunderbarer Simplizität, die kein späteres
Geschlecht wieder erreicht hat. Dies eben ist der unvergleichliche Vorzug jener
Antike; wie einfach ist das Alte Testament, etwa gegenüber den schwierigen
und komplizierten Briefen des Paulus! Die mannigfaltigsten
Gedanken der Religion aber — und dies ist vielleicht in dem Diadem des
Alten Testamentes der strahlendste Edelstein — sind verkörpert in
seinen unvergleichlichen Erzählungen, gewaltigen und zarten, ernsten und
anmutigen: eine bunte Welt, die tiefsten Gedanken in kindlicher Form.
Was für ein Anschauungsstoff! Ja, eben wegen dieser Verbindung religiöser
Tiefe mit der Einfalt der Form sind auch alle Zeitalter immer wieder zum Alten
Testament wie zu einem Jungbrunnen zurückgekehrt. Jesus hat die Psalmen
und Propheten geliebt, und schon dadurch sind sie uns geheiligt; sein Wort am
Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
war eine Psalmstelle; und alle Männer des Neuen Testamentes haben im Alten
gelebt. Wer will das Neue Testament darum verstehen ohne das Alte? Und wie viele
Kirchenlieder sind aus Psalmen erwachsen! Diese Schätze der Frömmigkeit,
die alle Männer Gottes wohl gekannt haben, so rufen wir den Gegnern des
Alten Testamentes zu — sie wollt ihr unserer Gemeinde rauben? Nein, dessen
sind wir gewiss! Solange es Christen gibt, werden sie sich das Alte Testament
nicht nehmen lassen. Es wäre ein Sturz, nicht nur in der Religion, sondern
in der gesamten geistigen Kultur, wenn dies Unmögliche geschähe!
So werden wir also, wenn wir dies wunderbare Buch be¬trachten, von doppelter
Stimmung hin und her gerissen: wir erkennen darin köstliche Kleinodien,
und anderseits sehen wir darin so vieles, was wir beim besten Willen nicht bewundern
können. Parteiisch und unser unwürdig wäre es, wenn wir die eine
dieser beiden Seiten auf Kosten der andern übersehen würden. Wir können
uns nicht zu den blinden Verehrern, noch weniger freilich zu den blinden Verwerfern
des Buches rechnen. Vielmehr müssen wir zu einem Gesamturteil hindurchdringen,
in dem beide Seiten, ohne einander zu stören, zusammenstehen.
IV.
Die Lösung dieser Schwierigkeit ist längst gegeben; sie ist ausgesprochen
in dem Wort »Geschichte«. Das Wort
»Geschichte« ist heutzutage ein Schlagwort
geworden, dem sich jeder unbesehen unterwirft; denn niemand will »unhistorisch«
sein. Was aber »Geschichte« ist, das
ist unsern Gebildeten keineswegs so geläufig, wie es dem oberflächlichen
Blick scheinen könnte. Wir sprechen mit diesem Worte eine ganze Weltanschauung
aus, die uns unsere großen idealistischen Denker und Dichter erworben
haben, eine Anschauung, die hier in aller Kürze skizziert werden soll.
Der Hauptsatz dieser Anschauung ist dieser, dass das Leben der Menschheit in
einem großen Zusammenhang steht,
in dem alles Frucht ist und alles Samen, der durch große, alles beherrschende
Ordnungen zusammengehalten wird, die sich freilich dem stumpfen Blick des Menschen
so oft verbergen.
Alle Betätigungen eines Volkes stehen so in Zusammenhang: seine Wirtschaft
und sein Staat, seine Sprache,
seine Kunst, sein Recht,
seine Religion; alles wirkt aufeinander. Und von
Volk zu Volk schlingt sich diese Kette: wie die modernen Völker eine Familie
bilden, die miteinander lebt und sich aufs mannigfaltigste untereinander bestimmt,
so ist es schon im antiken Orient und schließlich zu jeder Zeit gewesen.
Und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist durch solchen Zusammenhang zusammengebunden.
Denn es geschieht alles zu seiner Zeit; das
Heute bringt hervor nur, was das Gestern vorbereitet hat, wie die Frucht stets
aus der Blüte und niemals die Blüte aus der Frucht erwächst.
Und in diesen Zusammenhang gehört auch das Leben des Einzelnen;
wie man die Art der Palme nur verstehen kann, wenn man weiß, dass sie
im heißen Süden zu Hause ist, so ist der Einzelne, auch der große
Mann, nur verständlich aus der Umgebung, aus der er erwachsen ist. Man
weiß noch nichts von Homer, wenn man nicht weiß,
dass er ein Grieche war; denn nur in Griechenland konnte ein
Homer geboren werden; Goethe aber ist ein
Deutscher und nur als Deutscher verständlich. Das ist die Gesamtanschauung
von der »Geschichte«, die unserem Geschlechte
aufgegangen ist. —
Frühere Generationen haben die menschlichen Dinge anders betrachtet. Wie
man wohl in Darstellungen, die aus der Renaissance
stammen, Karl den Großen, Hektor, David und Justinian,
wesentlich in dasselbe Kostüm gekleidet, nebeneinander finden kann,
so haben die Früheren die Vergangenheit gesehen in gleichmäßiger
Einförmigkeit, ohne diese mannigfaltigen Zusammenhänge. Der große
und uns fast triviale Satz, dass die Zeiten verschieden sind, und dass die Menschen,
die zu verschiedenen Zeiten leben, nicht dieselben sein können, war ihnen
nicht bekannt.
Wir aber denken anders: wer zu einem andern Volke kommt, unter einen andern
Himmel, in eine weit entfernte Vorzeit, der darf nicht erwarten, hier die Anschauungen
der Heimat und der eigenen Zeit wieder zu finden. Noch im 18.
Jahrhundert war man von dieser Stimmung weit entfernt und hat etwa den
Moses ganz unbefangen so aufgefasst, wie wenn er ein menschenkundiger, wohldenkender,
humaner Mann gewesen wäre, wie es die Menschen des 18.
Jahrhunderts selber waren. Damals fiel jede Abweichung von dem Geläufigen,
die man in einer Erscheinung der Vergangenheit bemerkte, auf. Heute herrscht
unter den Forschern, freilich noch nicht unter den »Gebildeten«,
die umgekehrte Stimmung. Die naive Vertraulichkeit, die alles dem Heimischen
gleichzusetzen sucht, und die alles, was sich dem nicht fügen will, ohne
weiteres verwirft, ist nun vorüber. Der Historiker ist von vorneherein
bereit, sich selbst zu entäußern und dem Fremdartigen gerecht zu
werden. So ist es unsern Augen erst aufgegangen, wie mannigfaltig die Welt ist,
wie viel anders die Menschen der Ferne, der Vergangenheit sind als wir! Wir
sind toleranter geworden gegen die vergangenen Geschlechter und geneigter, sie
in ihrer Besonderheit anzuerkennen.
Diese geschichtliche Anschauungsweise ist nun schon
seit längerer Zeit auf die Bibel übertragen worden und ist dann von
Geschlecht zu Geschlecht immer entschiedener und deutlicher zur Herrschaft gekommen.
Unser Gesamtbild von der Bibel ist durch diese Veränderung
der Betrachtung aufs stärkste alteriert worden. Zunächst ist die Arbeitsweise
der Erforschung der Bibel eine andere geworden.
Während frühere Forscher sich durch den Grundsatz
bestimmen ließen, dass die heilige Schrift aus sich selbst verstanden
werden müsse, so trägt man jetzt aus nah und fern ein großes,
ja gewaltiges Material zur Erklärung der Schrift herbei. Und wie man schon
seit lange das Hebräische im Zusammenhang mit den verwandten Sprachen (zu
denen neuerdings das Assyrisch-Babylonische hinzugekommen ist) zu verstehen
sucht, so erklärt man die Geschichte der Kultur Israels als einen Teil
der allgemeinen Kulturgeschichte der Antike, das Staatsleben Israels setzt man
in die engste Verbindung mit der politischen Geschichte
der damaligen Weltreiche, und die Formen seiner Literatur fasst man nach
Analogie des
übrigen orientalischen Schrifttums auf.
Der Historiker ist überzeugt, dass er nur durch diese Methode
des unablässigen Aufachtens auf diese Zusammenhänge imstande ist,
das Alte Testament zu verstehen und gerecht zu würdigen. Und diese historische
Arbeit erntet ihren reichen Lohn: überall findet der geschärfte Blick
Beziehung, sei es Verwandtschaft oder gar Abhängigkeit, sei es Gegensatz
und Bekämpfung. Die Staatsgeschichte Israels ist nur ein Teil, und zwar
ein ziemlich geringfügiger Teil der allgemeinen orientalischen Geschichte
und nur aus diesem Zusammenhange zu verstehen. Was die Kultur Israels betrifft,
so ist Israel unter den übrigen Nationen des Orients ein recht junges Volk,
das sehr wenig zur äußeren Kultur der Menschheit beigetragen hat;
was es also davon besessen hat, hat es zumeist nicht selbst erzeugt. Sein Recht
ist ungefähr dasselbe wie das Recht anderer Völker derselben Kulturstufe.
Seine Literatur wird vielfach erst durch den Vergleich mit fremden Literaturen
verständlich.
Mit einem Worte, der Eindruck, dass das Volk Israel so ganz eigenartig gewesen
sei und sich von allen übrigen Nationen fundamental
unterschieden habe, dieser Eindruck hat nur so lange herrschen
können, als wir den übrigen Orient nicht kannten, und ist jetzt durch
die historische Forschung gründlich zerstört worden. Neuerdings ist
an unsere Gebildeten, die jahrzehntelang den alttestamentlichen und orientalistischen
Forschungen gegenüber eine beklagenswerte Gleichgültigkeit bewiesen
hatten, die Kenntnis von der teilweisen Verwandtschaft des Biblischen mit dem
Babylonischen gekommen. Aber das ist nur ein Spezialfall aus einem viel größeren
Gebiet. Worauf es ankommt, ist nicht nur, dass bei der Erklärung der Bibel
das Babylonische nicht vernachlässigt werde — so ertragreich diese
Vergleichung im einzelnen auch sein mag –, sondern dass sich der Blick
des Bibelforschers so weitet, dass er überall, wo es für ihn etwas
zu lernen gibt, die Parallelen mit der Bibel zu sehen vermag. – Und wie
steht nun die Religion des Alten
Testamentes in dieser geschichtlichen Forschung? Ist sie aus dem Zusammenhange
des Ganzen herauszunehmen und als eine Erscheinung, die schlechthin singulär
sei, zu behandeln? Dürfen wir sie auffassen wie einen Meteor der vom Himmel
gefallen ist, ein Fremdling schlechthin in seiner Umgebung?
Fromme Beschränktheit sucht uns auch noch heute diese Betrachtung aufzureden.
Aber es ist begreiflich, dass sich die geschichtliche Forschung gegen diese
Zumutung aufs äußerste wehrt. Denn wem einmal der große Gedanke
aufgegangen ist, dass alles Menschliche
eine Einheit bildet,
kann unmöglich für Israels Religion eine Ausnahme gelten lassen. Die
historische Forschung ist vielmehr über diese Zumutung, so oft sie auch
erhoben worden ist und immer wieder erhoben wird, zur Tagesordnung übergegangen
und hat nunmehr schon seit manchen Dezennien begonnen, in geschichtlichem Geiste
das Alte Testament zu betrachten. Keiner der heute lebenden Gelehrten, die am
Alten Testamente arbeiten, und wenn er im Prinzip auch der
»Religionsgeschichte« aufs äußerste abgeneigt
wäre, kann sich der Anerkennung vieler ihrer Ergebnisse entziehen. Um wiederum
mit keinem Geringeren zu beginnen: man ist überall auf Analogien. auf Verwandtschaften
gestoßen. Die Formen des Gottesdienstes z. B., die im Alten Testament
vorgeschrieben werden, sind denen anderer Völker vielfach ähnlich;
die Beschneidung, um nur ein Beispiel zu erwähnen, ist keineswegs, wie
der Laie gewöhnlich glaubt, für Israel charakteristisch, sondern wird
im Altertum und noch gegenwärtig von vielen andern Völkern in Nähe
und Ferne vollzogen.
Uns fällt bei den gegenwärtigen Juden sehr auf, dass sie sich seltsamerweise
des Genusses bestimmter Tiere, besonders des Schweines, enthalten; die Religionsgeschichte
aber zeigt, dass solche Tierverbote, besonders in untergeordneten Kulturen,
überaus häufig sind und einen Rest urältester Religionsübung,
vielleicht der Tierverehrung darstellen. Die Ursagen des »ersten
Buches Mose« sind denen der Babylonier zum Teil ähnlich und
daher auch wohl zum Teil übernommen.
Sprüche, nicht viel anders als die des Salomo,
gibt es auch in Ägypten; Psalmen, den alttestamentlichen einigermaßen
vergleichbar, auch in Babylonien; »Propheten«
sind auch, und zwar mit diesem Namen, in den umwohnenden Völkern aufgetreten,
wenn sich freilich diese ausländischen Propheten mit denen Israels an Höhe
der religiösen Anschauung und an Bedeutung in der Geschichte auch nicht
im entferntesten messen können. Was aber viel wichtiger ist als solche
mehr oder weniger weittragende Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten:
unsere Behandlung der Religion Israels selbst ist
eine andere geworden.
Der freier gewordene Blick hat die große Mannigfaltigkeit der religiösen
Erscheinungen im Alten Testament eigentlich erst entdeckt. Während die
Vorfahren, durch ihre dogmatische Theorie gebunden, alles gleichförmig
sahen, hat unser Geschlecht, zur Freude jedes, der Historisches zu würdigen
weiß, die mancherlei Gestaltungen der alten Religion,
die so lange den Blicken verborgen waren, wie aus dem Schutt der Jahrhunderte
ausgegraben. Wir haben gefunden, dass es in Israel große religiöse
Kämpfe gegeben hat, und dass diese Kämpfe im Alten Testament selbst
widerhallen. Denn es ist keineswegs so, dass die Schriftsteller des Alten Testamentes
einmütig alle dieselbe große Wahrheit verkündigen;
vielmehr stehen sie zum Teil zueinander in stärkstem Gegensatz. Die alte
volkstümliche Religion, wie sie sich z. B.
in den Patriarchensagen ausspricht, mit ihrer naiven Gleichsetzung der Interessen
Gottes und der Menschen wird von den erhabenen Propheten bekämpft. Die
gesetzlichen Schriften legen den größten Wert auf Opfer und Zeremonien,
aber die Propheten verkünden, dass alle äußeren Werke vor
Gott nichts gelten! —
Wichtiger aber als alles dieses ist, dass wir begonnen haben, diese mannigfaltigen
religiösen Erscheinungen, die wir im alten Israel gewahren, in eine Geschichte
einzuordnen. Das Auge des Forschers, das geübt war, überall Regel
und Ordnung zu sehen, wonach sich das geistige Leben der Menschen vollzieht,
hat dieselben großen Ordnungen auch in den Erscheinungen der altisraelitischen
Religion wieder gefunden. Und so hat man es gewagt, eine umfassende Hypothese
vom inneren Gange der Religionsgeschichte Israels aufzustellen; es ist diejenige
Hypothese, die wir, mit Ehrfurcht vor dem großen
Namen und ohne deshalb seine Vorgänger geringer zu achten, nach Wellhausen
nennen. Diese Hypothese, von der schon oben
kurz die Rede war und die am Schluss dieser Ausführungen ausführlicher
geschildert werden soll, besteht nach ihrem wesentlichsten Teil in der Behauptung,
dass das gewaltige gottesdienstliche System,
das besonders in der Mitte des Pentateuchs eingehend
dargestellt wird, und das man früher »Mosaismus«
zu nennen pflegte, erst in viel späterer Zeit, wahrscheinlich erst nach
dem babylonischen Exil entstanden ist.
Diese Hypothese wird durch den Quellenbefund aufs
sicherste bewiesen: denn die Nachrichten aus der ältesten Zeit Israels
wissen von jenem System noch nichts. So gewiss also diese weittragende
Hypothese auf genauester Erforschung des Tatbestandes beruht, so ist
doch anderseits unzweifelhaft, dass der Blick des Forschers auf alle diese einzelnen
Beobachtungen vor allem geführt worden ist durch die grundlegende Überzeugung,
ein solches kultisches System, das bestimmt ist,
ein ganzes Volksleben zu organisieren, könne nicht am Anfang der Geschichte
eines jugendlichen Volkes gestanden haben, sondern müsse selber das Erzeugnis
einer langen Geschichte sein. Heutzutage können
wir die Beobachtung hinzufügen, dass Völker nach dem Untergange ihres
Staats und dem Zerfall ihres Volkstums sich in der Form der religiösen
Gemeinde zu »verkapseln« pflegen; so
hat die römische Kirche das römische Weltreich beerbt; so ist der
Patriarch von Konstantinopel der Erbe der byzantinischen Kaiser, und der Hohepriester
von Jerusalem der Nachfolger der Könige aus Davids
Stamm. Ein System also, in dem, so wie es
in der Mitte des Pentateuch geschieht, ein Volksleben
zur Kirche umgestaltet wird, in dem der Gottesdienst im Mittelpunkt steht und
das Kultische allem Natürlichen übergeordnet ist, ein solches System
ist aus einem gealterten Volke hervorgegangen. Rom wäre nie der Mittelpunkt
einer Kirche geworden, wenn es nicht vorher Hauptstadt eines Weltreiches gewesen
wäre; und Israel muss, ehe es eine Gemeinde
wurde, ein Volk gewesen sein.
Der Leser sieht an einem solchen Beispiel, wie eindrücklich solche Beweise
aus der geschichtlichen Analogie sein können.
— So stehen wir also, um es in kurzem zu sagen, gegenwärtig vor einer
völlig veränderten Situation. Das Verständnis des Alten Testamentes
ist ein anderes geworden, weil es ein historisches geworden ist. Und diese Veränderung
der Auffassung durchdringt gleichmäßig alle Teile: der Gesamtverlauf,
die Personen und Ereignisse, ja die einzelnen Sätze, alles erscheint uns
jetzt in neuem Lichte. Wieder darf man sagen, dass gewiss viele von den Deutungen,
die heutzutage als sicher gelten, im weiteren Fortgang der Forschung aufgegeben
werden wird. Lass fahren dahin! Denn der historische Sinn wird bleiben. Jede
andere Auffassung
des Alten Testamentes, so gut sie gemeint sein mag, ist ein für allemal
überwunden.
Wir haben also allen Grund, uns die Konsequenzen dieser Auffassung
möglichst deutlich zu machen. Folgt nun hieraus — so fragen wir zunächst
—, dass das Alte Testament seine Eigenart für uns verloren hat? Als
vor kurzem die teilweise Verwandtschaft des Hebräischen mit dem Babylonischen
unserm Publikum aufging, sind viele diesem Irrtum verfallen. Aber der Historiker
kann darüber nur lächeln. Das eben haben wir ja sehen lernen, dass
jede geschichtliche Erscheinung, und sei sie auch noch so geringfügig,
eine besondere, eigenartige Schöpfung
Gottes ist. Das ist ja das große Geheimnis
der Welt, dass sich in allem dieselbe große Ordnung offenbart, und dass
doch nichts ist wie das andere. Jedes Lindenblatt ein Lindenblatt, und jedes
Lindenblatt besonders!
Zur geschichtlichen Auffassung also gehört nicht nur, dass wir für
die einzelne Erscheinung
die Analogien suchen, sondern ebenso, dass wir
die Eigenart jeder Erscheinung, ihren Unterschied von allen andern erkennen.
Und das ist gerade im Alten Testament wahrlich nicht schwer. So ähnlich
Israel auch in vielem den andern Völkern ist, so hat es anderseits ganz
recht, wenn es »sich nicht unter die Völker
rechnet«. Seine Religion unterscheidet
sich in vielem aufs stärkste von denen seiner Umgebung. Nur die Hauptzüge
dieser Besonderheit können hier genannt werden. Während die Götter
der Völker ringsumher Naturgötter sind, deren Leben mit dem der Natur
aufs innigste verflochten ist, hat sich Israel auf seiner Höhe zu dem Glauben
bekannt, dass sein Gott die Welt
geschaffen hat: er steht außerhalb ihrer und gebietet ihr durch sein allmächtiges
Wort. Während die Götter der Heiden viele
sind und nach Menschen Weise leben, zeugen und gezeugt werden, geboren werden
und sterben, ist Israels Gott Einer,
ungezeugt und nicht zeugend, und er lebt von Ewigkeit
zu Ewigkeit.
Welch ein unermesslicher Fortschritt aber dieser Monotheismus
über die Vielgötterei ist, kann man sehen,
wenn man die babylonischen und biblischen Stoffe, soweit sie verwandt sind,
vergleicht; denn der Polytheismus
enthält seiner Art nach Elemente, die im tiefsten unsittlich
sind; der Monotheismus erst ermöglicht
die Sittlichkeit der Religion. Der Gottesdienst
der Heiden ist ferner vielfach mit Zauberei verflochten, so besonders der Kultus
der Babylonier, der uns darin überaus barbarisch anmutet. Ja, im antik-orientalischen
Kultus ist, als eine Erinnerung an Urältestes, auch Unsittlichkeit, geschlechtliche
Unzucht zu Hause. Die Propheten Israels aber verkünden den großen
Satz, dass der wahre Gottesdienst die Sittlichkeit
ist: Gerechtigkeit will ich und nicht Opfer! Doch, wo anfangen und wo aufhören?
Wer gerecht und unparteiisch richtet, kann nicht zweifeln, dass die Religion
Israels sich hoch über die seiner Umgebung erhebt; in ihren Anfängen
ist sie ihnen noch zum Teil nahe verwandt; aber sie hat eine einzigartige Geschichte
erlebt, in der sie zu diesem Gipfel emporgestiegen ist. So begreifen wir die
Vernunft der Geschichte, dass auf Israels Boden die Religion
des Neuen Testaments entstanden ist. Ob es die Modernen gern hören oder
nicht, es bleibt doch dabei, dass das Heil von den Juden
gekommen ist. Keine Rede also davon, dass die moderne Forschung die Eigenart
des Alten Testaments verdunkelt hätte: sie hat sie vielmehr erst recht
ans Licht gestellt.
Aber noch weiter haben wir auszuholen; denn schon längst liegt —
so stellen wir uns vor — dem Leser die Frage auf den Lippen: wie es denn
unter diesen Umständen mit der Offenbarung
sei. Und diese Frage ist wahrlich wichtig genug. Denn der Glaube
an die Offenbarung
ist ein notwendiges Fundament aller Religion. Wer
in der Religion nichts anderes als ein merkwürdiges,
vielleicht sehr interessantes Phänomen des menschlichen Geisteslebens sieht.
hat für sich selber die Religion aufgegeben.
Der Glauben aber ist überzeugt, dass er glaubt,
weil die Gottheit selbst sich ihm aufgeschlossen
hat; das Gebet findet den Weg zum Himmel offen, weil er von oben her erschlossen
ist. Ist solcher Glaube an göttliche Offenbarung
mit unserer geschichtlichen Grundanschauung verträglich? Wir antworten
zunächst negativ, dass ein grober Supernaturalismus
mit dieser Anschauung allerdings nicht verträglich
ist. Der Glaube der großen und kleinen Kinder,
dass der liebe Gott einmal eine Ausnahme von allem Geschehen gemacht habe, da
der Himmel wirklich auseinander ging und Zeichen und Wunder
geschahen: eine Eselin sprach, Gottes Finger beschrieb
Steintafeln und reichte sie Mose dar, die Sonne
ging rückwärts, und vom Schall der Posaunen fielen Stadtmauern ein;
dieser Glaube und geschichtliche Anschauung reimen
sich nicht; und kein Kompromiss kann zwischen ihnen vermitteln.
Nun jammern die geistig Unmündigen: wenn ihnen dieser
»Kinderglaube« genommen würde, so sei ihnen die Religion
widerlegt. Umso mehr müssen wir uns bemühen, das Banner einer höheren
Art Religion vor allem Volke aufzupflanzen, einer Religion, die nicht von der
Geschichte widerlegt, sondern ge¬radezu von ihr gefordert wird. Der Historiker,
der seinen Weg durchschritten hat und nun zum Schluss, auf der höchsten
Höhe angekommen, das Ganze überblickt, sieht in dem gesamten menschlichen
Getriebe, so verworren es auch dem oberflächlichen Beobachter erscheint,
Ordnung und Gesetz; auf geheimnisvollen Bahnen strebt es hin zu Zielen, von
denen wir nur stammeln. Woher kommt diese Ordnung? Mit freudiger Zuversicht
gibt der Glaube die Antwort: nicht
der Zufall ist
es, der dies hervorbringt; ein ewiger Geist waltet
in allem; er ist die Einheit
des Vielen,
die Verbindung des
Widerstreitenden; er leitet das Niedere
zu höherem Sein;
er zieht, die ihm folgen, zu sich empor.
Unser stumpfes Auge erkennt ihn in vielem nicht; und das Herz fragt zagend:
warum? Aber zuweilen sinken die Nebel und die Sonne Gottes
scheint. Die großen Katastrophen im Leben der Völker, wenn
das Faule stürzt und das Gesunde siegt, offenbaren
uns sein Walten. Die großen Personen der Religion
stellen uns vor Augen, wie er selber ist und wie er uns haben will. So führt
der Gedanke der
geschichtlichen Entwicklung
zu der Idee der Offenbarung
hin. Und auf der andern Seite ist eine Offenbarung
für den geschichtlich Denkenden ohne Geschichte
gar nicht vorstellbar. Die göttliche Wahrheit konnte doch der Menschheit
nicht ohne weiteres verständlich sein, sie musste zuvor in den Gemütern
der Menschen vorbereitet werden. Sie ist nicht aus den Wolken gefallen, ist
nicht als eine Ausnahme im Leben
der Menschheit entstanden, sondern es liegt im Wesen der Offenbarung, dass sie
sich geschichtlich entwickelt; wo der profane Blick nichts anderes als Menschliches
sieht, ebenda schaut der Glaube Gottes großes Werk an der Menschheit.
Wer in diesem Sinne an Offenbarung glaubt, der
hängt sich nicht ängstlich an einzelne geschichtliche Begebenheiten,
sondern er kennt Größeres, den einen großen göttlichen
Rat, der alle durchdringt; er beschränkt die Offenbarung
nicht auf ein Volk, denn der Geist Gottes durchwaltet
alle, wenn auch natürlich das eine mehr und das andere weniger; er klammert
sich nicht an einen heiligen Buchstaben, denn Bücher fallen nicht vom Himmel.
Nicht Bücher, nicht ein einzelnes Volk, nicht bestimmte Ereignisse, sondern
Gott allein ist heilig,
und alle Lande sind seiner Ehren voll! Offenbarung
und geschichtliche Entwicklung also, sind sie Gegensätze? Keineswegs! Sondern
sie gehören zusammen. Diese Verbindung von
Offenbarung und Geschichte
aber ist keineswegs ein modernes »Fündlein«,
sondern dieser Glaube ist so alt wie das Christentum selbst. Sobald die neue
Religion neben die alte trat, hat man in der alten die Vorbereitung auf
die neue gesehen. Und diese Idee, die zuerst der Apostel
Paulus ausgesprochen hat, ist in der christlichen Kirche niemals vergessen
worden. Diese Idee von der
»Erziehung des Menschengeschlechtes«, von dem Gesetz als
dem Pädagogen auf Christus gilt es den Kindern
unseres geschichtlich denkenden Zeitalters aufs neue vorzuhalten, damit es einsieht,
dass diese Anschauung von Offenbarung
nicht — wie die Dilettanten meinen eine Verwässerung, sondern vielmehr
ein unveräußerliches Stück des urchristlichen
Glaubens ist.
Damit ist nun die Möglichkeit gegeben — und so kehren wir zum Anfang
dieses Abschnittes zurück —, die einzelnen Erscheinungen
des Alten Testamentes gerecht zu beurteilen. Eine frühere ungeschichtliche
Betrachtung konnte nur aufs höchste erheben oder aufs tiefste verurteilen.
Und so hallt es uns noch gegenwärtig entgegen; das Alte Testament sei,
so sagen die einen, Gottes übernatürlich
eingegebenes Wort; die andern aber wissen sich nicht genug zu tun an Worten
der Verwerfung. Wir aber treten in die Mitte, und können das ohne Halbheit
und Schwäche tun, weil wir relative Maßstäbe
besitzen. Wir können anerkennen, dass etwas an seinem Ort berechtigt oder
erträglich oder wenigstens verständlich ist, was mit absolutem Maßstab
gemessen, verurteilt werden müsste.
Die Naivität der altisraelitischen Gottesanschauung ist uns sicherlich
kein Vorbild, aber jenes alte Volk hätte sich Gott
in andrer Form gar
nicht zu denken vermocht. Die Verbindung von Volkstum und Religion,
die im Alten Testament herrscht, ist im Neuen gefallen; denn Gott ist nicht
nur ein Gott der Juden, sondern auch der Heiden; aber gerade in dieser
»Ehe« von Gott und Volk ist der Monotheismus erwachsen. Die
Schätzung des Weibes in Israel ist sicherlich eine niedere; darin erhebt
sich Israel nicht über seine Umgebung, in der durchweg Polygamie geherrscht
hat. Lug und Trug kommen im Alten Testament allerdings bedenklich oft vor; und
wir wollen diesen Zug, der zur natürlichen Begabung Israels gehört,
keineswegs beschönigen; aber anderseits soll auch dies nicht vergessen
werden, dass gerade Israels Propheten die engste Verbindung
von Religion und Sittlichkeit
gepredigt haben. So macht das geschichtliche Urteil gerecht; es erlaubt
uns, zugleich zu loben und zu tadeln.
Und wie werden wir das Alte Testament vom Standpunkt des Offenbarungsglaubens
betrachten? Die mancherlei Schwächen des Alten Testamentes würden
es uns unmöglich machen, darin die vollkommene
Offenbarung Gottes zu sehen; aber davon kann ja
auch rechtmäßigerweise seit Paulus für
keinen Christen die Rede sein. Ganz anders aber lautet die Antwort, wenn die
Frage ist: dürfen wir Christen im Alten Testament eine
vorläufige, vorbereitende Offenbarung Gottes erkennen,
ein Wirken Gottes, der dies Volk vor andern erwählt und es erzogen hat,
damit Jesus und die Apostel daraus geboren werden sollten? Der Leser, der eine
Antwort auf diese Frage zu erhalten wünscht, möge mit uns die Geschichte
der Religion Israels betrachten.
V.
Wir nennen die älteste Periode der Religion Israels »die
Volksreligion« oder die »vorprophetische«
Religion. Diese
Religion ist die Religion des alten Israels
gewesen, bis es durch die großen politischen Katastrophen, die Zerstörung
des Nordreichs (722) und die des Südreichs
(586), zerschmettert war. Von dieser Religion
sind die »Propheten«, d. h. Männer
wie Amos, Jesajas, Jeremias ausgegangen; sie haben
sie leidenschaftlich bekämpft und schließlich gereinigt, sind aber
doch auch anderseits auf ihrem Boden erwachsen. Schon hiermit ist gegeben, dass
diese Religion eine ziemlich komplizierte Erscheinung
darstellt: in ihr liegt das Große und Erhabene, was später die Propheten
verkörpern und auf eine höhere Stufe erheben sollten, mit dem Geringwertigen,
Heidnischen, was die Propheten bekämpfen, noch vielfach ungesondert nebeneinander.
»Volksreligion« nennen wir diese Religion,
weil sie die Masse des Volkes beherrscht hat, im Unterschiede zu den
Propheten, die zuerst als einzelne Männer oder als kleine Kreise aufgetreten
sind. Urkunden dieser Religion sind uns nirgends rein und unvermischt erhalten.
Die Schriften des Alten Testamentes stammen vielmehr in der Form, in der wir
sie besitzen, erst aus den späteren Perioden; aber diese haben vieles aus
dem Altertum übernommen, indem sie ihm durch Überarbeitungen den Geist
der neuen Zeit und der höheren Religion aufprägten;
so ist es uns möglich, indem wir diese Retouchierungen der späteren
Zeit wieder entfernen, die alten Urkunden wieder herzustellen.
Ja, es ist gelungen, aus den Erzählungen über die Anfänge der
Welt und die Urväter zwei große Werke herauszuschälen, die uns
ein ziemlich treues Bild der alten Religion geben. Ferner hören wir über
die Volksreligion fast auf jeder Seite der prophetischen Literatur, sei es durch
die Propheten selber, sei es durch die Prophetenschüler, die die geschichtlichen
Bücher zusammengestellt haben. Besonders die Urteile der letzteren haben
eine gewaltige Wirkung gehabt und sind noch heute allgemein bekannt. Aber gerade
die Urteile dieser Männer müssen mit besonderer Vorsicht aufgenommen
werden; sind sie doch die schärfsten Feinde der Religion
ihrer Zeitgenossen. Wir, die dankbaren Erben der Propheten, können, nachdem
der Kampf jetzt so lange Zeit entschieden ist, auch ihrem Gegner Verständnis
entgegenbringen. Nicht in diese älteste Zeit gehört — wie wir
schon oben gesehen haben — das Gesetz, nach dem man früher diese
Periode zu schildern pflegte. Erst als man erkannt hat, dass das Gesetz aus
viel späterer Zeit herrührt, ist das wahre Angesicht der Volksreligion
sichtbar geworden.
Die israelitische Volksreligion ist keine völlig einheitliche Erscheinung;
das erklärt sich daraus, dass sie in einer Geschichte aus verschiedenen,
ja eigentlich widerstreitenden Strömen zusammengeflossen ist. Ihre beiden
Hauptsätze sind:
1. Jahve — so, nicht
»Jehova« ist die alte Aussprache des Namens — ist der
Gott Israels; d. h. zu diesem Volke hat der Gott
eine besonders enge Beziehung; und
2. Jahve ist der Gott Kanaans,
in diesem Lande wohnt er und dort sind seine Heiligtümer.
Jahve ist also ein Landesgott
und ein Volksgott zugleich. Diese Gleichung aber
kann erst entstanden sein, seitdem Israel im Lande Kanaan wohnte. Den Glauben,
dass Jahve der Nationalgott
sei, hat es dahin mitgebracht; der Glaube aber,
dass in Kanaan die Gottheit wohnt und waltet, hat,
wie es natürlich ist, seinen ursprünglichen Sitz in Kanaan selbst.
Die hebräische Volksreligion besteht also aus zwei Elementen, einem urisraelitischen
und einem ursprünglich kanaanäischen. Die Geschichte
dieser Religion ist die Geschichte der teilweisen Verschmelzung und zugleich
des beständigen inneren Kampfes zwischen diesen beiden.
Wie ist es zu einer solchen Verschmelzung gekommen? Als Israel das alte Kulturland
Kanaan erobert und dort allmählich sesshaft und heimisch wurde, ist es
in die kanaanäische Kultur eingewachsen und aus einem Volke von Nomaden,
das es ursprünglich war, ein Volk von Bauern und Winzern geworden. Auch
physisch ist es damals in einer längeren Geschichte mit den Kanaanäern
verschmolzen. Das Israel zur Zeit der Propheten ist also ein Mischvolk aus Urisrael
und Urkanaan. So ist es verständlich, dass auch seine Religion
eine Mischreligion ist. Die Israeliten haben die
Religion Kanaans ebensowenig vertilgt als sein Volkstum. Sie haben es gelernt,
an die vormaligen Baalsheiligtümer zu gehen und dort nach dem alten Brauch
die Feste zu feiern. So hat das Volk zunächst zwei
Göttern nebeneinander gedient, ein Zustand, den wir in den Erzählungen
des Richterbuches vorfinden; im Frieden, so wird dort vorausgesetzt, wo Israel
dem stillen Einfluss der Kultur unterliegt, mag es sich dem Baal zuwenden und
seinen Jahve vergessen; aber wenn die Not des Krieges naht und das Volk sich
auf sein altes Volkstum besinnt, dann kehrt es auch zum alten Jahve zurück.
Schließlich aber ist Israel doch nicht in Kanaan aufgegangen, sondern
es ist aufs neue erstanden. Die Religion Jahves
ist nicht ausgestorben, sie hat auch die Rivalität der Baalreligion
nicht auf die Dauer neben sich geduldet, sondern sie hat über den
Nebenbuhler gesiegt. Das unkultiviertere Volk hat das kultiviertere geistig
überwunden!
Betrachten wir beide Teile der Jahvereligion genauer.
Zunächst den kanaanäischen. Die Baalreligion
war eine Naturreligion, besser würden wir
sagen, eine rechte Bauernreligion. Was der Bauer von seinem Gott begehrt, das
ist vor allem der fruchtbare Regen. Gottes Tun ist, dass die Erde schwanger
wird und Korn und Wein und Bäume und Tiere und Menschen hervorbringt. Das
eigentliche Wesen seines Gottes sieht der Kanaanäer in dem Leben, im Sprossen
und Blühen, im Zeugen und Gebären. In wilden Sitten der Unzucht spricht
er diesen Glauben aus. Solcher Götter aber gab es in Kanaan viele. Jedes
Heiligtum hatte seinen besonderen »Gebieter«,
sein Numen; Baal heißt
»Gebieter«. — Nun war kanaanäisches
Wesen auch in die Jahvereligion gedrungen, und besonders im Gottesdienst hatte
es seine Stelle. Die Wohnstätten Jahves waren
dieselben, da früher Baal gewohnt hatte. Solche
uralte Heiligtümer waren die Bäume, die Oasen und Gärten, die
Quellen, die Berge, Felsen und Steine. Die Sagen von den Erzvätern, die
im ersten Buche Mose erzählt werden, berichten, wie Jahve den Ahnherrn
eben an diesen Orten erschienen ist.
Dass man einst an solchen Naturmalen die Gottheit gesucht
hat, ist uns so fremd geworden, dass wir darin kaum etwas von wirklicher Religion,
sondern weit eher rohen Götzendienst finden können; aber wenn wir
tiefer eindringen mag es uns wohl gelingen, jener alten Zeit liebevoll nahe
zu kommen: das Geheimnis der Welt ist es, das der Antike in seiner Weise ahnt,
wovon er in seiner Sprache stammelnd redet.
Auch allerlei Bilder in Menschen- und Stiergestalt hat man sich gefertigt, worin
Israel dann Abbildungen seines Jahve sah. —
Kanaanäisch waren ferner die Festfeiern. Die Feste, die das historische
Israel seinem Gott zu Ehren begeht, sind ursprünglich
fast alles Erntefeste. Die Termine der drei großen
Feste, die das Judentum noch heutigen Tages feiert, Mazzen
(Ostern), Pfingsten
und Laubhütten, sind noch jetzt eine Erinnerung
an jene uralte Zeit, da Israel von Kanaan mit dem Ackerbau den Baaldienst übernahm.
Da erholte sich der Landmann in fröhlicher Opfermalzeit von den Mühen
seines Lebens; und manchmal mochte das heilige Fest in schlimmer Orgie enden.
Denn auch die Nachtseiten des kanaanäischen Kultus waren auf Israel übergegangen.
Noch zur Zeit des Königs Josias, also am Ende
der judäischen Königszeit, standen am Tempel von Jerusalem die Zellen,
in denen das schändlichste Gewerbe im Namen der Gottheit betrieben wurde.
— In diesem kanaanäischen Stoff, der damals Israel erfüllte,
gab es mancherlei, was nach Kanaan selbst aus dem Ausland gekommen war. Besonders
Babylonisches hat, wie wir jetzt wissen, seit alters auf Kanaan gewirkt; von
entscheidender Bedeutung ist diese Beeinflussung Israels durch Babylonisches
auf dem Gebiete der Religion indessen nachweislich
nicht gewesen.
Aber auch die alte, vorkanaanäische Jahvereligion war da¬mals noch
unvergessen. Diese altisraelitische Religion stellt sich klassisch in der Zeit
des Moses dar, des Gottesmannes, der diese Religion gestiftet hat. Zwar haben
wir über die mosaische Epoche keine streng geschichtlichen Berichte; trotzdem
sind wir imstande, die Grundlinien der Wirksamkeit des großen Mannes zu
zeichnen, und zu verfolgen, wie seine Stiftung die Zeiten überdauert und
auch das kanaanäische Wesen, das später in Israel einzog, immer wieder
durchbrochen hat. Der erste Satz der Religion des
Moses lautet: Jahve
ist Israels Gott; zwischen diesem Volk und diesem
Gott besteht ein besonderes Verhältnis.
Dabei setzt die älteste Zeit als natürlich voraus, dass in andern
Völkern andere Götter walten. Das älteste Israel ist noch nicht
monotheistisch gewesen, was ja schon dadurch gegeben ist, dass es seinen Gott
mit einem Eigennamen nennt. Aber
die Begeisterung seiner Verehrer hebt diesen Gott über alle übrigen
empor: Jahve, wer ist wie du unter den Göttern? — Die Tage aber,
an denen sich Jahve offenbart, das sind die Tage des Krieges. Da erhebt sich
der alte Gott und zieht seinem Volke voraus in
die heilige Schlacht. So ist diesem Volke von vorneherein eingeimpft, die Offenbarung
Gottes in den Erlebnissen des Volkes selbst zu sehen. Die späteren
Zeiten Israels haben diesen Gedanken zu dem Bilde einer Geschichte
ausgebaut, die Israel mit Jahve erlebt. Noch später ist auf diesem Boden
die Idee der Weltgeschichte entstanden
(Dan. 7). —
Weiter ist für den alten Jahve charakteristisch, dass er sich Israel am
Sinai unter furchtbaren Erscheinungen offenbart hat. Wer die Beschreibung davon
unbefangen liest, kann nicht zweifeln, was es für eine Naturerscheinung
ist, um die es sich hier handelt. Es ist der grausige und doch so majestätische
Ausbruch eines Vulkans. Beiläufig sei bemerkt, dass wir den »Sinai«
des Moses schon lange nicht mehr auf der gegenwärtig
so genannten »Sinai«-Halbinsel suchen, sondern an der nordöstlichen
Küste des Roten Meeres, woselbst sich viele Vulkane befinden. Der Gott
des Moses ist also ein Vulkan-Gott
gewesen; er ist ein furchtbares, majestätisches
Wesen, schrecklich in seinem Zorn. — Und zugleich der Gott des
Rechts. Die alte Rechtsüberlieferung wird in Israel von Jahve abgeleitet;
denn Jahve will Gerechtigkeit.
So ist diese alte Jahvereligion ein wundervolles
Gebilde, voll von Würde und Ernst. Noch ist sie nicht monotheistisch, aber
sie trägt den Keim dazu in sich. Dies Israel besitzt eine Kraft der Hingebung
an die Gottheit, die es zum klassischen Volke der Religion erhebt.
Die altisraelitische Religion ist nun mit Kanaanäischem
durchsetzt worden. Das war für sie sicherlich eine große Gefahr:
Israel konnte unter dem fremden Einfluss auf einen weit unterlegenen Zustand
zurücksinken. Aber die Jahvereligion hat sich dagegen aufs kräftigste
gewehrt. Dieser innere Kampf, der niemals abgerissen ist, ist in dieser älteren
Periode noch nicht zum Austrag gekommen. Da sind die großen Propheten
aufgetreten und haben die alte Jahvereligion aus
den Banden der Baalreligion befreit.
Die Zeit der großen Propheten (etwa 750 bis etwa
530) ist eine Zeit voll der größten Umwälzungen auf allen
Gebieten Israels. Drei Weltreiche hat der Orient damals nacheinander gesehen,
das assyrische. das chaldäische, das persische. Beide Staaten Israels sind
damals zugrunde gegangen. Ein Volk, das solchen gewaltigen Umwälzungen
unterliegt, wird in seinen Tiefen aufgewühlt. Zugleich bedeuten diese Weltreiche,
deren Sitz im Osten liegt, einen starken Einbruch der babylonischen Kultur.
Den Höhepunkt erreicht der babylonische Einfluss in dieser Periode, als
die Assyrer in Juda herrschen, zur Zeit König Manasses.
Zu dem allen kommt eine gefährliche soziale Gärung. Es haben sich
damals zwei neue Stände gebildet, die Reichen, die ihr Leben mit allen
Genüssen der neumodischen Kultur schmücken, und die Masse der Besitzlosen,
deren Herz mit dumpfem Groll erfüllt ist.
Diese Zeit der tiefsten Bewegung und Gärung ist die Geburtsstunde des Individuums
in Israel. Die alte Zeit hatte noch nicht in eigentlichem Sinne das Individuum
gekannt; in solchen antiken Völkern unterscheiden sich die einzelnen verhältnismäßig
wenig voneinander. In diesen Parteikämpfen aber, die nicht mehr Verband
gegen Verband, sondern Person gegen Person geführt werden, tritt die Persönlichkeit
auf. Da erstehen gewaltige, dämonische Männer, im Innersten erschüttert,
voll von Leidenschaft, die aus geheimnisvollen Tiefen die Kraft schöpfen,
ihre persönliche Überzeugung zu sagen und ihrem ganzen Volke zu widersprechen.
Solche Männer sind damals die Propheten; neben ihnen der Dichter des Hiob,
der als einzelner nicht nur den Wahn der Masse bekämpft, sondern selbst
Gott vor das Tribunal fordert; schließlich die Psalmisten,
die ihre persönlichen Leiden und Freuden vor Gott aussprechen. In dieser
Zeit der allgemeinen Erregungen erlebt die Religion die größten Kämpfe
und Revolutionen. Die Propheten erhalten die Führung und geben ihr damals
ihre klassische Form.
Die ältesten Propheten waren Ekstatiker gewesen,
die in sonderbaren Verzückungen Gesichte sehen und Stimmen hören und
so Aufschlüsse über die Zukunft erhalten. Aus solchen schwärmerischen
Kreisen waren damals im Laufe einer Geschichte große Männer hervorgegangen,
die über die Schicksale Israels Jahves Willen
verkündigen.
Elias, der Gigant unter den Propheten einer älteren
Epoche, war als Vertreter der altisraelitischen Religion gegen den eingeschleppten
tyrischen Baaldienst aufgetreten.
Dann ist, beim Herannahen der Assyrer, die Flamme der prophetischen Bewegung
zu einem ungeheuren Feuer in Israel entfacht worden. Amos
und Hosea verkündigen Israel und allen Völkern
der Nachbarschaft den Untergang durch die Assyrer.
Jesajas hat die prophetische Bewegung auf seine Heimat übergeleitet;
während im Anfang seiner Wirksamkeit auch er das Verderben predigt, hat
er dann verkündigt, dass Juda durch Jahves Hilfe erhalten bleibt, und dass
Assur, wenn die Zeit gekommen ist, stürzen wird. Ein gewaltiges, Völker
und Zeiten umspannendes Drama schwebt ihm vor Augen: das ist der gewaltige Jahveplan,
der Bau, den der Gott errichtet, in dem Heil und Unheil, beides seine Stelle
hat. Man muss einmal solche majestätisch dahinbrausenden Reden des Jesajas
lesen, um das inne zu werden, wie gänzlich haltlos es ist, wenn heutzutage
Einzelne, die des Alten Testamentes minder kundig sind, Israel die schöpferische
Kraft in der Religion absprechen. »Welche
üppigste Blüte herrlichster religiöser Vorstellungen« stellen
solche gewaltigen Stücke dar! (Vgl. Jes. 14, 24—27;
17, 12—14; 29, 1—8.) Dann folgt eine Pause in der Prophetie,
die Höhe des assyrischen Reiches.
Die folgende Periode der Prophetie gruppiert sich um den Untergang Judas durch
die Chaldäer, den Jeremias und Ezechiel weissagen. Der wunderbare Jeremias
hat vierzig Jahre lang seiner Heimat das Verderben verkündigt, auch schon
zu einer Zeit, als noch kein Wölkchen am politischen Horizont zu sehen
war; und schließlich ist sein Wort doch erfüllt worden. Ein halbes
Jahrhundert nach dem Untergang Jerusalems, als das chaldäische Reich durch
die Perser fallen sollte, erwacht die Prophetie aufs neue; jetzt aber verkündet
sie Errettung und Verherrlichung (Jes. 40 ff.).
Nach der Rückkehr nach Kanaan hat es unter der Gemeinde, die sich dort
neu bildete, auch wieder Propheten gegeben, die sich aber nicht zur früheren
Bedeutung erhoben haben. — Demnach ist es für die meisten Propheten
charakteristisch, dass ihre Predigt zum größten Teil das Verderben
ist. Neben dieser im Kanon erhaltenen Prophetie ist eine andere einhergegangen,
mit der sie aufs eifrigste gekämpft hat, und die zur selben Zeit das Heil
weissagte. Die erstere haben wir im Folgenden zu betrachten.
Die Propheten wollen nicht einen neuen Gott predigen, sondern
den alten; und wirklich sind sie die Fortsetzer des Werkes des Moses
und Elias. Ihr Jahve mit seiner Hoheit und seinem
furchtbaren Zorn kann seine Verwandtschaft mit dem Gott des Sinai nicht verleugnen.
Anderseits stellt doch ihr Gottesbegriff auch etwas
Neues in Israel dar. Um beiden Seiten gerecht zu werden, ist zuerst zu fragen,
in welcher Stimmung die Propheten von Jahve gesprochen
haben. Sie reden von ihm im Enthusiasmus. Mit flammenden Worten schildern sie
seine alles überragende Macht.
Daneben steht die Ehrfurcht und Scheu. Nicht die milden und freundlichen Seiten
des Gottesbegriffes sind es in erster Linie, die die Propheten entwickelt haben,
sondern vielmehr die entsetzlichen und schaurigen. Aber diese Stimmungen sind
sittlich vertieft. Mit einer bis dahin im Orient unerhörten Kraft haben
sie das Sittliche in der Religion betont. Sie haben Religion
und Sittlichkeit wie mit einem ehernen Bande zusammengeschmiedet.
Daneben verkündigen einige, be¬sonders Jesajas, das völlige Vertrauen
an die Gottheit und die Hingebung. Darum haben sie, auch die finstersten Unheilspropheten,
sämtlich mit einer letzten Aussicht auf künftiges Heil geschlossen.
Will man diese prophetische Begeisterung für Jahve recht verstehen, so
muss man an die Ereignisse jener Zeit denken. Israel wurde damals in den Strudel
der großen Weltereignisse gerissen und darin fast verschlungen. In allem
diesem Graus erbebt das Herz der Propheten nicht. Vielmehr gerade in jener Zeit
ist der Gott Israels der Herrscher des Alls geworden.
Hiermit sind die wichtigsten Bestimmungen über den Gottesbegriff der Propheten
gegeben. Im Vordergrunde steht für die Propheten, dass Jahve ein heiliger
Gott ist, dass er die sozialen Forderungen verlangt und, koste es was es wolle,
durchsetzt. In den sozialen Schwierigkeiten ihrer Zeit haben sich die Propheten
mit aller Energie auf die Seite der Unterdrückten gestellt. Aber sie haben
nicht nur den Reichen und Gewaltigen die Wahrheit
gesagt, sondern sich ebenso auch dem religiösen Empfinden der Masse mit
Schroffheit entgegengeworfen. Der Gottesdienst des Volkes jener Zeit bestand
im Kultus; sie aber haben mit furchtbarer Heftigkeit gegen solchen Gottesdienst
gedonnert. Alle die heiligen Orte, Handlungen und Symbole sind in ihren Augen
nichts! Schrecklich klangen solche Worte ihren Zeitgenossen in die Ohren. Es
ist die Religion des Geistes und der Wahrheit, die sich so gewaltsam losringt
von der antiken Religion der Opfer und der Heiligtümer.
Das Evangelium hat der Veräußerlichung des Pharisäismus gegenüber
dieselbe Haltung in verklärter Form wieder eingenommen wie einst die Prophetie
gegenüber der Religion ihrer Zeit. Zugleich ist diese Haltung der Propheten
zu begreifen als das letzte Wort der Jahvereligion
gegenüber dem Baal; denn ein großer
Teil des damaligen Gottesdienstes stammte von Kanaan; alles dies aber ist von
den Propheten ausgetrieben in heiliger Leidenschaft.
Die zweite Aussage der Propheten handelt über Jahves Macht und Hoheit.
Alle Völker müssen ihm dienen; er ist die einzige
Macht in der Welt, dem alles Vertrauen, alle Ehrfurcht gilt. So entsteht
der Monotheismus. Die Götter der Heiden kommen vor Jahve
nicht in Betracht. Wie alles Große in der geistigen Welt, so ist auch
der Monotheismus geboren aus der erhabenen Begeisterung
gewaltiger Naturen; darum ist der Monotheismus
der Propheten von so hinreißender religiöser Kraft. Denn trotz dieses
gewaltigen Zuwachses an Macht und Heiligkeit wird
die Gottesfigur nicht zu einer blassen, für die praktische
Religion wertlosen Abstraktion,
nicht zu einer bloßen »Vorsehung«,
sondern Jahve bleibt die realistisch vorgestellte
Persönlichkeit, die er bisher gewesen war. Ihrer Begeisterung für
diesen Gott haben die Propheten Ausdruck gegeben durch die Verkündigung,
dass ihn einst alle Völker verehren sollen. Das ist die größte
Weissagung des Alten Testamentes. Häufig finden wir zwar diese letzte und
höchste Idee der Propheten verbunden mit den Träumen einer zertretenen
Nation von Befreiung und Rache; so dass wir manchmal nicht wissen, ob wir uns
über dies erhabene letzte Wort des Monotheismus mehr
freuen oder uns mehr über die Fieberphantasie
eines jüdischen Weltreiches ärgern sollen Manchmal aber tritt der
religiöse Gedanke in seiner vollen Schönheit auf (Jes.
19, 23—25).
Ferner über das Verhältnis Jahves zu
Israel. Jahve ist den Propheten unendlich viel
mehr als ein bloßer Volksgott; seine Forderungen
stehen ihm höher als sein Volk; und manchmal haben die Propheten so gesprochen,
als wolle er sein Volk und seine Heiligtümer überhaupt verwerfen.
Am letzten Ende frei¬lich haben sie sich doch nicht entschließen können,
Nation und Heiligtum preiszugeben. So hoffen sie einen Zustand, wo Religion
und Patriotismus doch wieder zusammengehen, wo Israel sich bekehrt und Jahve
es wieder annimmt. Die Befreiung der
Religion von dem Volkstum und ihre Erhebung zur Weltreligion haben sie
also geahnt. aber nicht selber vollzogen. Erfüllt ist die Sehnsucht der
Propheten erst durch das Christentum. Zur Vollendung hat den prophetischen Gottesbegriff
der exilische Prophet (Jes. 40ff.) gebracht, indem
er Jahve, den Gott der Prophetie,
zugleich als den Schöpfer der Welt
preist.
Schließlich die dritte Epoche, das Judentum.
Diese Epoche beginnt mit dem babylonischen Exil und steht fortdauernd unter
dem Einfluss dieses furchtbaren Ereignisses. Charakteristisch bleibt für
das Judentum in dieser ganzen Zeit das politische und soziale Elend; dies Elend
muss man sich vergegenwärtigen, um jene Zeit gerecht zu beurteilen: die
edlen Eigenschaften eines Herrenvolkes, die es
einmal in seiner Antike besessen hatte, hat Israel in den Epochen der traurigen
Entwürdigung jämmerlich verloren. Durch das Leben in der Fremde ist
es in direkte Berührung mit der damals aramäisch redenden Weltkultur
gekommen und ist ihr je länger je mehr anheimgefallen, so dass es schließlich
sogar die fremde Sprache übernommen hat. Auch der Handelsgeist
ist damals, und zwar in der Diaspora, in das Judentum
gekommen, meist wohl unter phönizischem und aramäischem Einfluss.
Erst mit Gewalt aus der Heimat vertrieben, dann auch freiwillig auswandernd,
zieht es von Volk zu Volk, nirgends zu Hause, über alle Völker sich
überhebend und ihnen allen verhasst. So ist im Laufe dieser Periode das
ganze Bild des Volkes ein anderes geworden. Trotzdem ist das Judentum nicht
zugrunde gegangen; es hat seine Existenz mit bewunderungswürdiger Zähigkeit
verteidigt. Die Religion, das Ursprünglichste
und Urwüchsigste des gesamten menschlichen Geisteslebens, bleibt in dem
Zusammenbruch alles Übrigen bestehen; diese Religion
aber hat, wie überall in solchen Fällen, die Form der Autorität,
der Institution, der Liturgie. Die leitende Stellung nimmt der Hohepriester
von Jerusalem ein. In dieser Form der religiösen Gemeinde hat sich nun
das Judentum gegen alle seine Gegner verteidigt und sich behauptet, nun schon
zweieinhalb Jahrtausende! In dieser harten Schale eines nach manchen Kämpfen
sich immer mehr abschließenden Volkstums und einer im Gesetzestum erstarrten
Religion bewahrt das Judentum dennoch einen lebendigen
Kern, der alle Ungunst der Zeiten überdauert und im Evangelium neues Leben
gewinnt.
Der Streit zwischen Prophetie und Volksreligion ist durch das Exil entschieden
worden. Die Predigt der Propheten war jetzt furchtbar bestätigt: ihr Glaube
wird von nun an Gemeingut. Aber eben damit, dass die prophetische Bewegung,
bisher in kleinen Kreisen zu Hause, jetzt in die Masse eintritt, erfährt
sie mancherlei Änderungen. Die Kultussitten der alten Zeit werden von allerlei
Aberglauben gereinigt, dann aber mit um so größerem Eifer
als Gottes Gebot behauptet.
Demnach ist das Judentum letztlich eine Mischung von Prophetie
und Volksreligion. Darnach können wir im Judentum zwei Richtungen
unterscheiden: die eine kommt letztlich von der Volksreligion
her und legt alles Gewicht auf die Kultusgebote; diese Richtung ist im nachexilischen
Gesetz verkörpert und setzt sich in der Schriftgelehrsamkeit und im Pharisäismus
fort. Aber auch die prophetische Richtung stirbt nicht aus. Immer wieder
gibt es Fromme, die tief empfinden, was reine und wahre
Religion ist. Diese Richtung tritt besonders in den Psalmen auf und mündet
schließlich im Evangelium.
Nur im Fluge haben wir die Hauptepochen der israelitischen
Religion betrachten können. Aber was für eine Geschichte! Wer
würde hier nicht von Ehrfurcht und Bewunderung erfüllt. Wir gewahren
eine im Ganzen aufsteigende Entwicklung: im Anfang ein kräftiger Einsatz,
dann großartige Kämpfe, in denen das Höchste errungen wird,
schließlich ein gewaltsames Ringen wider den Tod, eine Verkapselung,
in der doch das Leben bewahrt wird: Jugend, Mannesalter und Greisentum. Nicht
alles in dieser Religion scheint uns, auch auf
ihrer Höhe, gleichermaßen vorbildlich: immer wieder befremdet uns
besonders die maßlose Leidenschaft, die stark zur Intoleranz und zum Fanatismus
neigt, und die doch die Kehrseite der Kraft des Glaubens
ist. Wenig erquicklich erscheint uns das Bild der letzten Epoche, die aber doch
die Güter der klassischen Zeit, wenn auch mit Minderwertigem vermischt,
bewahrt. Umso deutlicher aber vernehmen wir auf den Höhen dieser Religion,
besonders bei den Propheten, Gottes Stimme; und
sein Walten gewahren wir in diesem ganzen Geschehen. Und noch haben wir den
letzten Gipfel dieser Geschichte nur von ferne gesehen, das ist Jesus,
unser Herr. S. 40-76
Aus: Beiträge zur Weiterentwicklung der Christlichen Religion. Herausgegeben
von den Autoren der Beiträge, München 1905, J. F. Lehmanns Verlag