Karoline (Friederike Louise Maximiliane) von Günderrode (1780 – 1806)
Deutsche
Dichterin, die als zuerst Stiftsdame in Frankfurt am Main lebte
und eine Freundin von Bettina von Arnim und Clemens von Brentano war. In ihren (romantischen) Gedichten - die sie unter den
Pseudonymen Tian und
Ion veröffentlichte - erfand sie eine Phantasiewelt, in der es hauptsächlich um Liebe und Tod geht. Eine unglückliche
Liebe zu dem verheirateten Mythologen Friedrich Creuzer trieb sie in den Selbstmord. Siehe auch Wikipedia und Projekt Gutenberg |
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Inhaltsverzeichnis
Die Manen (Ein Fragment)
Der Adept
Ein apokaliptisches Fragment
Über letzte Dinge
Geschichte eines Brahminen
Die
Manen (Ein
Fragment)
Schüler: Weiser
Meister! ich war gestern in den Katakomben der Könige von Schweden. Tags
zuvor hatte ich die Geschichte Gustav Adolfs gelesen, und ich nahte mich seinem
Sarge mit einem äußerst sonderbaren und schmerzlichen Gefühl;
sein Leben und seine Taten gingen vor meinem Geiste vorüber, ich sah zugleich
sein Leben und seinen Tod, seine große Tätigkeit und seine tiefe
Ruhe, in der er schon dem zweiten Jahrhundert entgegen schlummert. Ich rief
mir die dunkle grausenvolle Zeit zurück, in welcher er gelebt hat, und
mein Gemüt glich einer Gruft, aus welcher die Schatten der Vergangenheit
bleich und schwankend heraufsteigen. Ich weinte um seinen Tod mit heißen
Tränen, als sei er heute erst gefallen. Dahin! Verloren! Vergangen! sagte
ich mir selbst, sind das alle Früchte eines großen Lebens? Diese
Gedanken, diese Gefühle überwältigten mich, ich mußte die
Gruft verlassen, ich suchte Zerstreuung, ich suchte andere Schmerzen, aber der
unterirdische trübe Geist verfolgt mich allenthalben, ich kann diese Wehmut
nicht los werden, sie legt sich wie ein Trauerflor über meine Gegenwart;
dies Zeitalter deucht mir schal und leer, ein sehnsuchtsvoller Schmerz zieht
mich gewaltig in die Vergangenheit. Dahin! Vergangen! ruft mein Geist. O möchte
ich mit vergangen sein! und diese schlechte Zeit nicht gesehen haben, in der
die Vorwelt vergeht, an der ihre Größe verloren ist.
Lehrer: Verloren,
junger Mensch? Es ist nichts verloren und in keiner Rücksicht; nur unser
Auge vermag die lange unendliche Kette von der Ursache zu allen Folgen nicht
zu übersehen. Aber wenn du auch dieses nicht bedenken willst, so kannst
du doch das nicht verloren und dahin nennen, was dich selbst so stark bewegt
und so mächtig auf dich wirkt. Schon lange kenne ich dich, und mich deucht,
dein eignes Schicksal und die Gegenwart haben dich kaum so heftig bewegt als
das Andenken dieses großen Königs. Lebt er nicht jetzt noch in dir?
oder nennst du nur Leben, was im Fleisch und in dem Sichtbaren fortlebt? und
ist dir das dahin und verloren, was noch in Gedanken wirkt und da ist?
Schüler: Wenn dies ein Leben ist,
so ist es doch nicht mehr als ein bleiches Schattenleben; denn ist die Erinnerung
des Gewesenen, Wirklichen mehr als ihre bleichen Schatten dieser Wirklichkeit!
Lehrer: Die
positive Gegenwart ist der kleinste und flüchtigste Punkt; indem du die
Gegenwart gewahr wirst, ist sie schon vorüber, das Bewußtsein des
Genusses liegt immer in der Erinnerung. Das Vergangene kann in diesem Sinn nur
betrachtet werden, ob es nun längst oder soeben vergangen, gleichviel.
Schüler: Es
ist wahr. So lebt und wirkt aber ein großer Mensch nicht nach seiner Weise
in mir fort, sondern nach meiner, nach der Art, wie ich ihn aufnehme, wie ich
mich und ob ich mich seiner erinnern will.
Lehrer: Freilich lebt er nur fort
in dir, insofern du Sinn für ihn hast, insofern deine Anlage dich fähig
macht, ihn zu empfangen in deinem Innern, insofern du etwas mit ihm Homogenes
hast; das Fremdartige in dir tritt mit ihm in keine Verbindung, und er kann
nicht auf es wirken; und nur mit dieser Einschränkung wirken alle Dinge.
Das, wofür du keinen Sinn hast, geht für dich verloren, wie die Farbenwelt
dem Blinden.
Schüler: Hieraus
folgt, daß nichts ganz verloren geht, daß die Ursachen in ihren
Folgen fortwirken (oder wie du dich ausdrückst, fortleben), daß sie
aber nur auf dasjenige wirken können, das Empfänglichkeit oder Sinn
für sie hat.
Meister: Ganz
recht!
Schüler: Gut!
die Welt und die Vernunft möge genug haben an diesem nicht verloren sein,
an dieser Art fort zu leben, aber mir ist es nicht genug; eine tiefe Sehnsucht
führt mich zurück in den Schoß der Vergangenheit, ich möchte
einer unmittelbaren Verbindung mit den Manen der großen Vorzeit stehen.
Lehrer: Hältst
du es denn für möglich?
Schüler: Ich hielt es für unmöglich,
als noch kein Wunsch mich dahin zog, ja, ich hätte noch vor kurzem jede
Frage der Art für töricht gehalten; heute wünsche ich schon,
eine Verbindung mit der Geisterwelt möchte möglich sein, ja mir dünkt,
ich sei geneigt, sie glaublich zu finden.
Lehrer: Mir deucht, die Manen Gustav Adolfs
haben deinem innern Auge zu einer glücklichen Geburt verholfen, und du
scheinst mir reif, meine Meinung über diese Gegenstände zu vernehmen.
So gewiß alle harmonischen Dinge in einer gewissen Verbindung stehen,
sie mag nun sichtbar oder unsichtbar sein, so gewiß stehen auch wir in
einer Verbindung mit dem Teil der Geisterwelt, der mit uns harmonieret; ein
ähnlicher oder gleicher Gedanke in verschiedenen Köpfen, auch wenn
sie nie von einander wußten, ist im geistigen Sinne schon eine Verbindung.
Der Tod eines Menschen, der in einer solchen Verbindung mit mir stehet, hebt
diese Verbindung nicht auf. Der Tod ist ein chemischer Prozeß, eine Scheidung
der Kräfte, aber kein Vernichter, er zerreißt das Band zwischen mir
und ähnlichen Seelen nicht, das Fortschreiten des einen und das Zurückbleiben
des andern aber kann wohl diese Gemeinschaft aufheben, wie ein Mensch, der in
allem Vortrefflichen fortgeschritten ist, mit seinem unwissenden und roh gebliebenen
Jugendfreud nicht mehr harmonieren wird. Du wirst das Gesagte leicht ganz allgemein
und ganz aufs Besondere anwenden können.
Schüler: Vollkommen!
Du sagst, Harmonie der Kräfte ist Verbindung; der Tod hebt diese Verbindung
nicht auf, indem er nur scheidet, nicht vernichtet.
Lehrer: Ich
fügte noch hinzu: das Aufheben dessen, was eigentlich diese Harmonie ausmachte
(z. B. Veränderung der Ansichten und Meinungen, wenn
die Harmonie gerade darin bestand) müßte
auch notwendig diese Verbindung aufheben.
Schüler: Ich hab' es nicht außer
der Acht gelassen.
Lehrer: Gut! Eine Verbindung mit Verstorbenen
kann also statt haben, insofern sie nicht aufgehört haben, mit uns zu harmonieren?
Schüler: Zugegeben.
Lehrer: Es kommt nur darauf an, diese
Verbindung gewahr zu werden. Bloß geistige Kräfte
können unsern äußeren Sinnen nicht offenbar werden; sie wirken
nicht durch unsere Augen und Ohren auf uns, sondern durch das Organ, durch das
allein eine Verbindung mit ihnen möglich ist, durch den innern Sinn, auf
ihn wirken sie unmittelbar. Dieser innere Sinn, das tiefste und feinste Seelenorgan,
ist bei fast allen Menschen gänzlich unentwickelt und nur dem Keim nach
da; das Geräusch der Welt, das Getreibe der Geschäfte, die
Gewohnheit, nur auf der Oberfläche und nur die Oberfläche zu betrachten,
lassen es zu keiner Ausbildung, zu keinem deutlichen Bewußtsein kommen,
und so wird es nicht allgemein anerkannt, und was sich hier und da zu allen
Zeiten in ihm offenbaret hat, hat immer so viele Zweifler und Schmäher
gefunden; und bis jetzt ist sein Empfangen und Wirken in äußerst
seltnen Menschen die seltenste Individualität. - Ich bin weit davon entfernt,
so manchen lächerlichen Geisteserscheinungen und Gesichtern das Wort zu
reden; aber ich kann es mir deutlich denken, daß der innere Sinn zu einem
Grade affiziert werden kann, nach welchem die Erscheinung des Innern vor das
körperliche Auge treten kann, wie gewöhnlich umgekehrt, die äußere
Erscheinung vor das Auge des Geistes tritt. So brauche ich nicht alles Wunderbare
durch Betrug oder Täuschung der Sinne zu erklären. Doch ich erinnere
mich, man nennt in der Sprache der Welt diese Entwicklung des innern Sinns überspannte
Einbildung.
Wem also der innere Sinn, das Auge des Geistes, aufgegangen
ist, der sieht dem andern unsichtbare, mit ihm verbundene Dinge. Aus
diesem innern Sinn sind die Religionen hervorgegangen und so manche Apokalypsen
der alten und neuen Zeit. Aus dieser Fähigkeit des
innern Sinnes, Verbindungen, die andern Menschen (deren
Geistesauge verschlossen ist) unsichtbar sind,
wahrzunehmen, entsteht die Prophezeiung, denn sie ist nichts anders als die
Gabe, die Verbindung der Gegenwart und Vergangenheit mit der Zukunft, den notwendigen
Zusammenhang der Ursachen und Wirkungen zu sehen. Prophezeiung ist Sinn für
die Zukunft. Man kann die Wahrsagekunst nicht erlernen, der Sinn für sie
ist geheimnisvoll, er entwickelt sich auf eine geheimnisvolle Art; er offenbart
sich oft nur wie ein schneller Blitz, der dann von dunkler Nacht wieder begraben
wird. Man kann Geister nicht durch Beschwörungen rufen, aber sie
können sich dem Geiste offenbaren, das Empfängliche kann sie empfangen,
dem innern Sinn können sie erscheinen.
Der Lehrer schwieg, und sein Zuhörer verließ ihn. Mancherlei Gedanken
bewegten sein Inneres, und seine ganze Seele strebte, sich das Gehörte
zum Eigentum zu machen. S.18ff.
Aus: Karoline von Günderrode, Gedichte, Prosa, Briefe,
Herausgegeben von Hannelore Schlaffer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9722, © 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages
Der
Adept
Ein Weiser, der schon viel erforschet,
Doch nie des Forschens müde war,
Gelangte einst zum Indier Lande,
Nach manchem langen Wandrungsjahr.
Die Priester dieses Landes rühmen
Sich viel geheimer Wissenschaft
Sie wissen Sein und Schein zu trennen,
Und kennen aller Dinge Kraft.
Zum Schüler läßt sich Valus
weihen,
Verbindet sich durch einen Eid,
Geheimnisvoll, zu diesem Orden,
Wie es der Priester ihm gebeut.
Wie eitel all sein vorig Wissen;
Das siehet bald schon Valus ein,
Kannt er doch nie der Dinge Seele
Begnügt‘ an Namen sich und Schein.
Eins sieht er nun in jeder Summe,
Sieht den Naturgeist immer neu
Und immer alt in ew‘gem Wandel
Wie er in allen Formen sei.
Jetzt kann er die Natur belauschen,
Er kann ihr tiefstes Wirken schaun,
Weiß, wie die Stoffe sich vermahlen
Und wie die Erden sich erbaun.
Jetzt gibt man ihm die dritte Weihe,
Ein Vorzug wen‘ger Weisen nur;
Denn sie, die alles sonst durchschauten
Beherrschen ietzo die Natur.
Nachdem er dreimal so geweihet,
Hat er den großen Schritt getan,
Der seines Lebens lange Reife
Geschieden von der Menschheit Bahn.
Viel Zeiten gehn an ihm vorüber,
Er siehet die Geschlechter fliehn,
Und bleibt allein in allem Wandel,
Indes die Dinge kommen, ziehn.
Nachdem er oft den Kreis gesehen
Den immer die Natur gemacht,
Ergreifen Schauder seine Seele,
Denn alles kehrt wie Tag und Nacht.
Der Neuheit Reiz ist ihm verloren,
Er kennet was die Erde trägt,
Er findet sich allein auf Erden,
Die Menschen sind nicht sein Geschlecht.
Geleert hat er des Lebens Becher
Und lebet immer, immer fort.
Er kann dem Meere nicht entsteigen
Und hat gelandet doch im Port.
Weh‘ dem! ruft er: der auf dem Gipfel
Des Daseins also stille steht.
Nicht Ew‘ges kann der Mensch ertragen,
Und wohl ihm, wenn er auch vergeht. S.24ff.
Aus: Karoline von Günderrode, Gedichte, Prosa, Briefe, Herausgegeben von
Hannelore Schlaffer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9722, © 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart
. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages
Ein apokaliptisches Fragment
1. Ich stand auf einem hohen Fels
im Mittelmeer, und vor mir war der Ost, und hinter mir der West, und der Wind
ruhte auf der See.
2. Da sank der Sonne, und kaum war sie verhüllt
im Niedergang, so stieg im Aufgang das das Morgenrot wieder empor, und Morgen,
Mittag, Abend und Nacht, jagten sich, in schwindelnder Eile, um den Bogen des
Himmels.
3. Erstaunt sah ich sie sich drehen in wilden Kreisen; mein
Puls floh nicht schneller, meine Gedanken bewegten sich nicht rascher, und die
Zeit in mir ging den gewohnten Gang, indes sie außer mir, sich nach neuem
Gesetz bewegte.
4. Ich wollte mich hinstürzen
in das Morgenrot, oder mich tauchen in die Schatten der Nacht, um mit in ihre
Eile gezogen zu werden, und nicht so langsam zu leben; da ich sie aber immer
betrachtete, ward ich sehr müde und entschlief.
5. Da sah ich ein weites Meer vor mir, das von keinem Ufer umgeben war, weder
im Ost noch Süd noch West, noch Nord; kein Windstoß bewegte die Wellen,
aber die unermeßliche See bewegte sich doch in ihren Tiefen, wie von innern
Gärungen bewegt.
6. Und mancherlei Gestalten stiegen
herauf, aus dem Schoß des tiefen Meeres, und Nebel stiegen empor und wurden
Wolken, und die Wolken senkten sich, und berührten in zuckenden Blitzen
die gebärenden Wogen.
7. Und immer mannichfalterigere
Gestalten entstiegen der Tiefe, aber mich ergriffen Schwindel und eine sonderbare
Bangigkeit, meine Gedanken wurden hie hin und dort hin getrieben, wie eine Fackel
vom Sturmwind, bis meine Erinnerung erlosch.
8. Da ich aber wieder erwachte,
und von mir zu wissen anfieng, wußte ich nicht, wie lange ich geschlafen
hatte, ob es Jahrhunderte oder Minuten waren; denn ob ich gleich dumpfe und
verworrene Träume gehabt hatte, so war mir doch nichts begegnet, was mich
an die Zeit erinnert hätte.
9. Aber es war ein dunkles Gefühl
in mir, als habe ich geruht im Schoße diese Meeres und sei ihm entstiegen,
wie die andern Gestalten. Und ich schien mir ein Tropfen Tau, und bewegte mich
lustig hin und wieder in der Luft, und freute mich, daß die Sonne sich
in mir spiegle, und die Sterne mich beschauten.
10. Ich ließ mich von den
Lüften in raschen Zügen dahin tragen, ich
gesellte mich zum Abendrot, und zu des Regenbogens siebenfarbigen Tropfen, ich
reihte mich mit meinen Gespielen um den Mond wenn er sich bergen wollte, und
begleitete seine Bahn.
11. Die Vergangenheit war mir dahin! ich gehörte nur der
Gegenwart. Aber eine Sehnsucht war in mir, die ihren Gegenstand nicht kannte,
ich suchte immer, aber jedes Gefundene war nicht das Gesuchte, und sehnend trieb
ich mich umher im Unendlichen.
12. Einst ward ich gewahr, daß
alle die Wesen, die aus dem Meere gestiegen waren, wieder zu ihm zurückkehrten,
und sich in wechselnden Formen wieder erzeugten. Mich befremdete diese Erscheinung;
denn ich hatte von keinem Ende gewußt. Da dachte ich, meine Sehnsucht
sei auch, zurück zu kehren, zu der Quelle des Lebens.
13. Und da ich dies dachte, und fast lebendiger fühlte,
als all mein Bewußtsein, ward plötzlich mein Gemüt wie mit betäubenden
Nebeln umgeben. Aber sie schwanden bald, ich schien mir nicht mehr ich, und
doch mehr als sonst ich, meine Grenzen konnte ich nicht mehr finden, mein
Bewußtsein hatte sie überschritten, es war größer, anders,
und doch fühlte ich mich in ihm.
14. Erlöst war ich von den engen Schranken meines Wesens,
und kein einzler Tropfen mehr, ich war allem wiedergegeben, und alles gehörte
mir an, ich dachte, und fühlte, wogte im Meer glänzte in der Sonne,
kreiste mit den Sternen; ich fühlte mich in allem, und genoß alles
in mir.
15. Drum,
wer Ohren hat zu hören, der höre! Es
ist nicht zwei, nicht drei, nicht tausende, es ist Eins und alles; es ist nicht
Körper und Geist geschieden, daß das eine der Zeit, das andere der
Ewigkeit angehöre, es ist Eins, gehört sich selbst, und ist Zeit und
Ewigkeit zugleich, und sichtbar, und unsichtbar, bleibend im Wandel, ein unendliches
Leben. S.26ff.
Aus: Karoline von Günderrode, Gedichte, Prosa, Briefe, Herausgegeben von
Hannelore Schlaffer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9722, © 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages
Über
letzte Dinge
Briefe zweier Freunde
An Eusebio 1
Mit Freude denk ich oft zurück an den Tag, an welchem wir uns zuerst fanden,
als ich Dir mit einer ehrfurchtsvollen Verlegenheit entgegentrat wie ein lehrbegieriger
Laie dem Hohenpriester. Ich hatte es mir vorgesetzt, Dir womöglich zu gefallen,
und das Bewußtsein meines eigenen Wertes wäre mir in seinen Grundfesten
erschüttert worden, hättest Du Dich gleichgültig von mir abgewendet;
wie es mir aber gelang, Dich mit solchem Maße für mich zu gewinnen,
begreife ich noch nicht; mein eigner Geist muß bei jener Unterredung zwiefach
über mir gewesen sein. Mit ihr ist mir ein neues Leben aufgegangen, denn
erst in Dir habe ich jene wahrhafte Erhebung zu den höchsten
Anschauungen, in welchen alles Weltliche als ein wesenloser Traum verschwindet,
als einen herrschenden Zustand gefunden. In Dir haben mir die höchsten
Ideen auch eine irdische Realität erlangt. Wir andern Sterblichen müssen
erst fasten und uns leiblich und geistig zubereiten, wenn wir zum Mahle des
Herrn gehen wollen, Du empfängst den Gott täglich ohne diese Anstalten.
Mir, o Freund! sind die himmlischen Mächte nicht so günstig, und oft
bin ich mißmutig und weiß nicht, über wen ich es am meisten
sein soll, ob über mich selbst oder über diese Zeit, denn auch sie
ist arm an begeisternden Anschauungen für den Künstler jeder Art;
alles Große und Gewaltige hat sich an eine unendliche Masse, unter der
es beinah verschwindet, ausgeteilt. Unselige Gerechtigkeit des Schicksals! Damit
keiner prasse und keiner hungere, müssen wir uns alle in nüchterner
Dürftigkeit behelfen. Ist es da auch noch ein Wunder, wenn die Ökonomie
in jedem Sinn und in allen Dingen zu einer so beträchtlichen Tugend herangewachsen
ist. Diese Erbärmlichkeit des Lebens, laß es uns gestehen, ist mit
dem Protestantismus aufgekommen. Sie werden alle zum Kelch hinzugelassen, die
Laien wie die Geweihten, darum kann niemand genugsam trinken, um
des Gottes voll zu werden, der Tropfen aber ist keinem genug; da wissen
sie denn nicht, was ihnen fehlt, und geraten in ein Disputieren und Protestieren
darüber. -
Doch was sage ich Dir das! angeschaut im Fremden hast Du diese Zeitübel
wohl schon oft, aber sie können Dich nicht so berühren, da Du sie
nur als Gegensatz mit Deiner eigensten Natur sehen kannst und kein Gegensatz
durch sie in Dich selbst gekommen ist. Genug also von dem aufgeblasenen Jahrhundert,
an dessen Torheiten noch ferne Zeiten erkranken werden. Rückwärts
in schönre Tage laß uns blicken, die gewesen. Vielleicht sind wir
eben jetzt auf einer Bildungsstufe angelangt, wo unser höchstes und würdigstes
Bestreben sich dahin richten sollte, die großen Kunstmeister der Vorwelt
zu verstehen und mit dem Reichtum und der Fülle ihrer poesiereichen Darstellungen
unser dürftiges Leben zu befruchten. Denn abgeschlossen sind wir durch
enge Verhältnisse von der Natur, durch engere Begriffe vom wahren Lebensgenuß,
durch unsere Staatsformen von aller Tätigkeit im Großen. So fest
umschlossen ringsum, bleibt uns nur übrig, den Blick hinauf zu richten
zum Himmel oder brütend in uns selbst zu wenden.
Sind nicht beinahe alle Arten der neuern Poesie durch diese unsere Stellung
bestimmt? Liniengestalten entweder, die körperlos hinaufstreben, im unendlichen
Raum zu zerfließen, oder bleiche, lichtscheue Erdgeister, die wir grübelnd
aus der Tiefe unsers Wesens heraufbeschwören; aber nirgends kräftige,
markige Gestalten. Der Höhe dürfen wir uns rühmen und der Tiefe,
aber behagliche Ausdehnung fehlt uns durchaus. Wie Shakespeare's
Julius Cäsar möcht ich rufen: «Bringt
fette Leute zu mir, und die ruhig schlafen, ich fürchte diesen hagern Cassius.»
Da ich nun selbst nicht über die Schranken meiner Zeit hinausreiche, dünkt
es Dir nicht besser für mich, den Weg eigner poetischer Produktion zu verlassen
und ein ernsthaftes Studium der Poeten der Vorzeit und besonders des Mittelalters
zu beginnen? Ich weiß zwar, daß es mir Mühe kosten wird, ich
werde gleichsam einen Zweig aus meiner Natur herausschneiden müssen, denn
ich schaue mich am fröhlichsten in einem Produkt meines Geistes an und
habe nur wahrhaftes Bewußtsein durch dieses Hervorgebrachte; aber um etwas
desto gewisser zu gewinnen, muß man stets ein anderes aufgeben, das ist
ein allgemeines Schicksal, und es soll mich nicht erschrecken.
Eins aber hat mir stets das innerste Gemüt schmerzlich angegriffen, es
ist dies: daß hinter jedem Gipfel sich der Abhang verbirgt; dieser Gedanke
macht mir die Freude bleich in ihrer frischesten Jugend und mischt in all mein
Leben eine unnennbare Wehmut. Darum erfreut mich jeder Anfang mehr als das Vollendete,
und nichts berührt mich so tief wie das Abendrot; mit ihm möcht ich
jeden Abend versinken, in der gleichen Nacht, um nicht sein Verlöschen
zu überleben. Glückliche! denen vergönnt ist zu sterben in der
Blüte der Freude, die aufstehen dürfen vom Mahle des Lebens, ehe die
Kerzen bleich werden und der Wein sparsamer perlt. Eusebio! wenn mir auch dereinst
das freundliche Licht Deines Lebens erlöschen sollte, o! dann nimm mich
gütig mit wie der göttliche Pollux den sterblichen Bruder, und laß
mich gemeinsam mit Dir in den Orkus gehen und mit Dir zu den unsterblichen Göttern,
denn nicht möcht ich leben ohne Dich, der Du meiner Gedanken und Empfindungen
liebster Inhalt bist, um den sich alle Formen und Blüten meines Seins herumwinden,
wie das labyrinthische Geäder um das Herz, das sie all' erfüllt und
durchglüht.
Fragmente aus Eusebios Antwort
- Gestalt hat nur für uns, was wir überschauen können; von dieser
Zeit aber sind wir umfangen, wie Embryonen von dem Leibe der Mutter, was können
wir also von ihr Bedeutendes sagen? Wir sehen einzelne Symptome, hören
Einen Pulsschlag des Jahrhunderts, und wollen daraus schließen, es sei
erkrankt. Eben diese uns bedenklich scheinenden Anzeichen gehören vielleicht
zu der individuellen Gesundheit dieser Zeit. Jede Individualität
aber ist ein Abgrund von Abweichungen, eine Nacht, die nur sparsam von dem Licht
allgemeiner Begriffe erleuchtet wird. Darum Freund! weil wir nur wenige
Züge von dem unermeßlichen Teppich sehen, an welchem der Erdgeist
die Zeiten hindurch webt, darum laß uns bescheiden sein. Es gibt eine
Ergebung, in der allein Seligkeit und Vollkommenheit und Friede ist, eine Art
der Betrachtung, welche ich Auflösung im Göttlichen nennen möchte;
dahin zu kommen laß uns trachten und nicht klagen um die Schicksale des
Universums. Damit Du aber deutlicher siehst, was ich damit meine, so sende ich
Dir hiermit einige Bücher über die Religion der Hindu.
Die Wunder uralter Weisheit, in geheimnisvollen Symbolen niedergelegt, werden
Dein Gemüt berühren, es wird Augenblicke geben, in welchen Du Dich
entkleidet fühlst von dieser persönlichen Einzelheit und Armut und
wieder hingegeben dem großen Ganzen; wo Du es mehr als nur denkst, daß
Alles, was jetzt Sonne und Mond ist, und Blume und Edelstein, und Äther
und Meer, ein Einziges ist, ein Heiliges, das in seinen Tiefen ruht ohne Aufhören,
selig in sich selbst, sich selbst ewig umfangend, ohne Wunsch nach dem Tun und
Leiden der Zweiheit, die seine Oberfläche bewegt. In solchen Augenblicken,
wo wir uns nicht mehr besinnen können, weil das, was das einzelne und irdische
Bewußtsein weckt, dem äußern Sinn verschwunden ist unter der
Herrschaft der Betrachtung des Innern; in solchen Augenblicken versteh ich den
Tod,
der Religion Geheimnis, das Opfer
des Sohnes und der Liebe unendliches Sehnen. Ist es nicht ein Winken
der Natur, aus der Einzelheit in die gemeinschaftliche Allheit zurückzukehren,
zu lassen das geteilte Leben, in welchem die Wesen etwas für sich sein
wollen und doch nicht können? Ich erblicke die rechte Verdammnis in dem
selbstsüchtigen Stolz, der nicht ruhen konnte in dem Schoß
des Ewigen, sondern ihn verlassend seine Armut und Blöße decken
wollte mit der Mannigfaltigkeit der Gestalten und Baum wurde und Stein und Metall
und Tier und der begehrliche Mensch.
Ja, auch das, o Freund! was sie alle nicht ohne Murren und Zweifeln betrachten
mögen, das trübere Alter, ich verstehe seinen höheren Sinn jetzt.
Entwickeln soll sich im Lauf der Jahre das persönliche Leben, sich ergötzen
im für sich sein,
seinen Triumph feiern in der Blüte der Jugend; aber absterben sollen wir
im Alter dieser Einzelheit, darum schwinden die Sinne, bleicher wird das Gedächtnis,
schwächer die Begierde, und des Daseins fröhlicher Mut trübt
sich in Ahndungen der nahen Auflösung. -
Es sind die äußeren Sinne, die uns mannigfaltige Grade unsers Gegensatzes
mit der fremden Welt deutlich machen. Wenn aber die Scheidewand der Persönlichkeit
zerfällt, mögen sie immerhin erlöschen; denn es bedarf des Auges
nicht, unser Inneres und was mit ihm Eins ist zu schauen;
auch ohne Ohr können wir die Melodie des ewigen Geistes vernehmen; und
das Gedächtnis ist für die Vergangenheit, es ist das Organ des Wissens
von uns selbst im Wechsel der Zeiten. Wo aber nicht die Zeit ist, nicht
Vergangenes noch Künftiges, sondern ewige Gegenwart, da bedarfs
der Erinnerung nicht. Was uns also abstirbt im Alter, ist die Vollkommenheit
unseres Verhältnisses zur Außenwelt; abgelebt
mögen also die wohl im Alter zu nennen sein, die von nichts
wußten als diesem Verhältnis. - So fürchte
ich höhere Jahre nicht, und der Tod ist mir willkommen; und zu dieser Ruhe
der Betrachtung in allen Dingen zu gelangen, sei das Ziel unseres Strebens.
-
Deutlich liegt Deine Bahn vor mir, Geliebtester! Denn erkannt habe ich Dich
vom ersten Augenblick unserer Annäherung, die, das Bewußtsein wird
mir immer bleiben, von Gott gefügt war; nie
habe ich so das Angesicht eines Menschen zum erstenmal angesehen, nie solch
Gefühl bei einer menschlichen Stimme gehabt; und dies Göttliche
und Notwendige ist mir immer geblieben im Gedanken an Dich; und so weiß
ich auch, was notwendig ist in Dir und für Dich, und wie Du ganz solltest
leben in der Natur, der Poesie und einer
göttlichen Weisheit.
Ich weiß, daß es dir nicht
geziemt, Dir so ängstliche Studien vorzuschreiben. Die großen Kunstmeister
der Vorwelt sind freilich da, um gelesen und verstanden zu werden, aber, wenn
von Kunst-Schulen die Frage ist, so sage ich, sie sind da
gewesen, jene Meister, eben deswegen sollen sie nicht noch einmal
wiedergeboren werden; die unendliche Natur will sich stets neu offenbaren in
der unendlichen Zeit. In der Fülle der Jahrhunderte ist Brahma oftmals
erschienen, aber in immer neuen Verwandlungen; dieselbe Gestalt hat er nie wieder
gewählt. So tue und dichte doch jeder das, wozu er berufen ist, wozu der
Geist ihn treibt, und versage sich keinen Gesang als den mißklingenden.
Doch zag' ich im Ernste nicht für Dich, die strebende Kraft wird den, welchen
sie bewohnt, nicht ruhen lassen; es wird ihm oft wehe und bange werden ums Herz,
bis die neugeborene Idee gestillet hat des Gebärens Schmerz und Sehnsucht.
Gestern lebte ich ein paar selige Stunden recht über der Erde, ich hatte
einen Berg erstiegen, an dessen Umgebungen jede Spur menschlichen Anbaus zu
Zweck und Nutzen verschwand; es ward mir wohl und heiter. Zwei herrliche Reiher
schwebend über mir badeten ihre sorgenfreie Brust in blauer Himmelsluft.
Ach! wer doch auch schon so dem Himmel angehörte, dachte ich da, und klein
schien mir alles Irdische. In solchen Augenblicken behält nur das Ewige
Wert, der schaffende Genius und das heilige Gemüt; da dacht ich Dein, wie
immer, wenn die Natur mich berührt; oft gab ich dem Flusse, wenn der Sonne
letzte Strahlen ihn erhellen, Gedanken an Dich mit, als würden seine Wellen
sie zu Dir tragen und dein Haupt umspielen. Leb wohl, in meinen besten Stunden
bin ich stets bei dir. -
An Eusebio
2
Eine der größten Epochen meines kleinen Lebens ist vorübergegangen
Eusebio! ich habe auf dem Scheidepunkt gestanden
zwischen Leben und Tod. Was
sträubt sich doch der Mensch: sagte ich in jenen Augenblicken zu mir selbst,
vor dem Sterben? ich freue mich auf jede Nacht
indem ich das Unbewußtsein und dunkele Träumen dem hellem Leben vorziehe,
warum grauet mir doch vor der langen Nacht und dem tiefen
Schlummer? Welche Taten warten noch meiner, oder welche bessere Erkenntnis
auf Erden daß ich länger leben müßte? —
Eine Notwendigkeit gebiert uns alle in die Persönlichkeit, eine gemeinsame
Nacht verschlinget uns alle. Jahre werden mir keine bessere Weisheit
geben, und wann Lernen, Tun und Leiden drunten noch not tut, wird ein
Gott mir geben was ich bedarf. So sprach ich mir selbst zu, aber die
Gedanken, die ich liebe, traten zu mir, und die Heroen die ich angebetet hatte
von Jugend auf: »Was willst du am hohen Mittage
die Nacht ersehnen? riefen sie mir zu! Warum untertauchen in dem alten Meer,
und darin zerrinnen mit allem was dir lieb ist?« So wechselten
die Vorstellungen in mir, und deiner gedacht ich, und immer deiner, und fast
alles andre nur in Bezug auf dich, und wenn anders den Sterblichen
vergönnt ist noch eines ihrer Güter aus dem Schiffbruch des irdischen
Lebens zu retten, so hätte ich gewiß dein Andenken mit hinab genommen
zu den Schatten. Daß du mir aber könntest verloren sein war der Gedanken
schmerzlichster. Ich sagte daß dein Ich und das meine sollten aufgelöst
werden in die alten Urstoffe der Welt,
dann tröstete ich mich wieder, daß unsere befreundete Elemente, dem
Gesetze der Anziehung gehorchend, sich selbst im unendlichen
Raum aufsuchen und zu einander gesellen würden. So wogten Hoffnung und
Zweifel auf und nieder in meiner
Seele, und Mut und Zagheit. Doch das Schicksal wollte — ich lebe noch.
—
Aber was ist es doch, das Leben? dieses schon aufgegebene,
wiedererlangte Gut! so frag‘ ich mich oft: was bedeutet es, daß
aus der Allheit der
Natur ein Wesen sich mit solchem Bewußtsein losscheidet, und sich abgerissen
von ihr fühlt? Warum hängt der Mensch mit solcher Stärke
an Gedanken und Meinungen, als seien sie das Ewige? warum kann er sterben für
sie, da doch für ihn eben dieser Gedanke mit seinem
Tode verloren ist? und warum, wenn gleichwohl diese Gedanken und Begriffe
dahin sterben mit den Individuen, warum werden sie von denselben immer wieder
aufs neue hervorgebracht und drängen sich so durch die Reihen des aufeinander
folgenden Geschlechtes zu einer
Unsterblichkeit in der Zeit? Lange wußt‘ ich diesen Fragen nicht
Antwort, und sie verwirrten mich; da war mir plötzlich in einer Offenbarung
alles deutlich, und wird es mir ewig
bleiben.
Zwar weiß ich, das Leben ist nur das Produkt der innigsten Berührung
und Anziehung der Elemente; weiß, daß alle seine Blüten und
Blätter, die wir Gedanken und Empfindungen nennen, verwelken müssen,
wenn jene Berührung aufgelöst wird; und daß das einzelne
Leben dem Gesetz der Sterblichkeit dahin gegeben ist; aber so gewiß
mir dieses ist, ebenso über allem Zweifel ist mir auch das andre, die Unsterblichkeit
des Lebens im Ganzen; denn dieses Ganze ist eben das Leben, und es wogt auf
und nieder in seinen Gliedern den Elementen, und was es auch sei, das durch
Auflösung (die wir zuweilen Tod nennen) zu
denselben zurück gegangen ist, das vermischt sich mit ihnen nach Gesetzen
der Verwandtschaft, d. h. das Ähnliche zu dem Ähnlichen. Aber anders
sind diese Elemente geworden, nachdem sie einmal im Organismus zum Leben hinauf
getrieben gewesen, sie sind lebendiger geworden, wie Zwei, die sich in langem
Kampf übten, stärker sind wenn er geendet hat als ehe sie kämpften;
so die Elemente, denn sie sind lebendig, und jede lebendige
Kraft stärkt sich durch Übung. Wenn sie also zurückkehren
zur Erde, vermehren sie das Erdleben. Die Erde aber gebiert
den ihr zurückgegebenen Lebensstoff in andern Erscheinungen wieder, bis
durch immer neue Verwandlungen, alles Lebensfähige in ihr ist lebendig
geworden. Dies wäre, wenn alle Massen organisch würden. —
So gibt jeder Sterbende der Erde ein erhöhteres,
entwickelteres Elementarleben zurück, welches sie in aufsteigenden Formen
fortbildet; und der Organismus, indem er immer entwickeltere Elemente in sich
aufnimmt, muß dadurch immer vollkommener und allgemeiner werden.
So wird die Allheit lebendig durch den Untergang der Einzelheit, und die Einzelheit
lebt unsterblich fort in der Allheit, deren Leben sie lebend entwickelte, und
nach dem Tode selbst erhöht und mehrt, und so durch Leben und Sterben die
Idee der Erde realisieren hilft. Wie also auch meine Elemente zerstreut werden
mögen, wenn sie sich zu schon Lebendem gesellen, werden sie es erhöhen,
wenn zu dem, dessen Leben noch dem Tode gleicht, so werden sie es beseelen.
Und wie mir deucht, Eusebio! so entspricht die
Idee der Indier von der Seelenwanderung
dieser Meinung; nur dann erst dürfen die Elemente nicht mehr wandern
und suchen, wann die Erde die ihr angemessene Existenz, die organische, durchgehends
erlangt hat. Alle bis jetzt hervorgebrachten Formen müssen aber wohl dem
Erdgeist nicht genügen, weil er sie immer wieder zerbricht und neue sucht;
die ihm ganz gleichen würde er nicht zerstören können, eben weil
sie ihm gleich und von ihm untrennbar wären.
Diese vollkommene Gleichheit des innern Wesens mit der Form kann, wie mir scheint,
überhaupt nicht in der Mannigfaltigkeit der Formen erreicht werden; das
Erdwesen ist nur eines, so dürfte also seine Form auch nur eine, nicht
verschiedenartig sein; und ihr eigentliches wahres Dasein würde die Erde
erst dann erlangen, wann sich alle ihre Erscheinungen in einem gemeinschaftlichen
Organismus auflösen würden; wann Geist
und Körper sich so durchdrängen daß alle Körper, alle
Form auch zugleich Gedanken und Seele wäre
und aller Gedanke zugleich Form und Leib und ein wahrhaft verklärter Leib,
ohne Fehl und Krankheit und unsterblich; also ganz
verschieden von dem was wir Leib oder Materie nennen, indem wir ihm Vergänglichkeit,
Krankheit, Trägheit und Mangelhaftigkeit beilegen, denn diese Art von Leib
ist gleichsam nur ein mißglückter Versuch jenen unsterblichen
göttlichen Leib hervorzubringen. —
Ob es der Erde gelingen wird sich so unsterblich zu organisieren, weiß
ich nicht. Es kann in ihren Urelementen ein Mißverhältnis
von Wesen und Form sein das sie immer daran hindert; und vielleicht gehört
die Totalität unsers Sonnensystems dazu um dieses Gleichgewicht zustand
zu bringen; vielleicht reicht dieses wiederum nicht zu, und es ist eine
Aufgabe für das gesamte Universum.
In dieser Betrachtungsweise Eusebio! ist mir nun
auch deutlich geworden was die großen Gedanken von
Wahrheit, Gerechtigkeit, Tugend, Liebe und Schönheit wollen, die
auf dem Boden der Persönlichkeit keimen und ihn bald überwachsend
sich hinaufziehen nach dem freien Himmel, ein unsterbliches Gewächs das
nicht untergehet mit dem Boden auf dem es sich entwickelte, sondern immer neu
sich erzeugt im neuen Individuum, denn es ist das Bleibende,
Ewige, das Individuum aber das zerbrechliche Gefäß für den Trank
der Unsterblichkeit. —
Denn, laß es uns genauer betrachten Eusebio,
alle Tugenden und Trefflichkeiten sind sie nicht Annäherungen zu jenem
höchst vollkommnen Zustand so viel die Einzelheit sich ihm nähern
kann? Die Wahrheit ist doch nur der Ausdruck des sich selbst Gleichseins überhaupt,
vollkommen wahr ist als nur das Ewige, das keinem
Wechsel der Zeiten und Zustände unterworfen ist. Die Gerechtigkeit
ist das Streben in der Vereinzelung untereinander gleich zu sein. Die Schönheit
ist der äußere Ausdruck des erreichten Gleichgewichtes mit sich selbst.
Die Liebe ist die Versöhnung der Persönlichkeit mit der Allheit,
und die Tugend aller Art ist nur eine, d. h. ein Vergessen der Persönlichkeit
und Einzelheit für die Allheit.
Durch Liebe und Tugend also wird schon hier auf eine geistige Weise der Zustand
der Auflösung der
Vielheit in der Einheit
vorbereitet, denn wo Liebe ist, da ist nur ein Sinn, und wo Tugend, ist einerlei
Streben nach Taten der Gerechtigkeit, Güte und Eintracht. Was aber sich
selbst gleich ist, und äußerlich und innerlich den Ausdruck dieses
harmonischen Seins an sich trägt, und selbst dieser Ausdruck ist, was eins
ist und nicht zerrissen in Vielheit, das ist gerade jenes Vollkommene,
Unsterbliche und Unwandelbare, jener Organismus,
den ich als das Ziel der Natur, der Geschichte und der Zeiten, kurz des Universums
betrachte.
Durch jede Tat der Unwahrheit, Ungerechtigkeit und Selbstsucht wird jener selige
Zustand entfernt, und der Gott der Erde in neue
Fesseln geschlagen, der seine Sehnsucht nach besserem Leben in jedem Gemüt
durch Empfänglichkeit für das Treffliche ausspricht, im verletzten
Gewissen aber klagt, daß sein seliges, göttliches
Leben noch fern sei. S.63ff.
Aus: Karoline von Günderrode, Gedichte, Prosa, Briefe, Herausgegeben von
Hannelore Schlaffer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9722, © 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart
. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages
Geschichte
eines Brahminen
Ich bin, sagte Almar, in Smyrna geboren. Mein Vater, ein Franzose und reicher
Kaufmann, der von der Christlichen zur Mahomedanischen Religion übergegangen
war, behandelte mich, so selten ich auch vor ihm erschien, kalt und unfreundlich,
und meine Mutter war vor meiner Erinnerung gestorben. Ich fühlte mich recht
verlassen und oft tief erbittert durch meinen Vater. Kinder, wenn sie schon
anfangen, das Leben mit den Augen ihres Geistes zu betrachten, werden von den
Gewohnheiten, Verhältnissen und Forderungen der menschlichen Gesellschaft
beängstigt, und nur die sanfte Hand guter Eltern kann sie ohne große
Schmerzen in die ungewohnten Schranken des bürgerlichen und häuslichen
Lebens einführen. Durch die Eltern spricht die Natur zuerst zu den Kindern.
Wehe den armen Geschöpfen, wenn diese erste Sprache kalt und lieblos ist!
Da sich mir mehr unangenehme Gegenstände des Nachdenkens darboten als angenehme,
so entsagte ich ihm bald ganz; selbst die Zeremonien des Mahomedanischen Gottesdienstes,
die ich täglich mitmachen mußte, erregten meine Neugierde, deren
Sinn zu verstehen, nicht. Mein Vater hatte oft gesagt, die Religionen seien
zwar nützliche politische Einrichtungen, allein für den einzelnen
Aufgeklärten höchst überflüssig. Der Zeremoniendienst war
mir ohnehin beschwerlich, ich gab also diesem Ausspruche aus Bequemlichkeit
meinen ganzen Beifall.
Sechzehn Jahre war ich alt, als mich mein Vater (welcher
haben wollte, ich solle Kaufmann werden) zu einem Handelsfreund in eine
der größten Städte Europas sandte. Der Eindruck, welchen die
Neuheit so vieler Gegenstände auf meine Seele machte, war nicht bedeutend,
denn ich betrachtete die Dinge mehr mit den Augen als mit dem Geiste.
Ich war genötigt, die meisten Stunden des Tages mit Geschäften auszufüllen;
diejenigen, die mir übrig blieben, wandte ich dazu an, mir Vergnügen
zu machen. Ich besuchte Schauspiele, schöne Frauen und ging mit leichtsinnigen
jungen Männern um; dennoch blieb mir eine gewisse Verlegenheit und Ungeschicklichkeit
im gesellschaftlichen Leben, die wir Morgenländer selten ablegen, weil
unsere Lebensart sehr ungesellig ist.
Mehrere Jahre waren so vergangen, in welchen ich nichts Höheres kannte
als Geld erwerben, um es auf eine angenehme Art wieder auszugeben. Die Nachricht
von dem Tode meines Vaters brachte mich zuerst zu einiger Besinnung. Ich beklagte
seinen Tod nicht, aber ich betrauerte meine Unempfindlichkeit bei seinem Verlust
und machte mir im Herzen Vorwürfe darüber. Ein neuer Umstand kam hinzu,
meinen Geist aus seinem Schlummer zu erwecken. Der Kaufmann, für den ich
arbeitete, verlor fast sein ganzes Vermögen; er und seine Gattin brachten
tagelang mit mir in dem größten Kummer darüber hin, und wir
entwarfen hundert vergebliche Pläne, das Übel abzuwenden. Nachdem
ich mich fast stumpf über die Mittel, diese Leute zu retten, gedacht hatte,
sagte ich zu mir selber: Sind denn Reichtümer und Vergnügen der Sinne
die einzigen wünschenswerten Güter?
Diese Frage öffnete plötzlich die mir noch unbekannten
Tiefen meines eigenen Gemütes. Ich stieg hinab in eine Menge von Gedanken,
wie in eine Felsenhöhle, in welcher immer neue und frische Quellen sprudeln.
Ich war schon lange auf Erden, jetzt fing ich an zu leben, und die Flügel
meines Geistes wagten den ersten Flug. Die mir bisher unsichtbare
moralische Welt enthüllte sich mir, ich sah eine Gemeinschaft der Geister,
ein Reich von Wirkung und Gegenwirkung, eine unsichtbare Harmonie, einen Zweck
des menschlichen Strebens und ein wahres Gut. Verloren war ich für
meine Berufsarbeiten seit dem Augenblick, da ich dies schöne Land gefunden
hatte, ich gab sie auf, denn erst wollte ich wissen, wer ich sei? was ich sein
solle? welche Stelle mir gebühre? und welche Gesetze in dem Reiche herrschten,
dessen Bürger ich werden wollte? ehe ich meiner Tätigkeit einen Kreis
bestimmte.
Zuerst betrachtete ich meine Natur und Bestimmung abgesondert und nur in Rücksicht
auf mich selbst; ich fand, daß ohne Weisheit und Tugend die Wohlfahrt
meines Geistes nicht bestehen könne; ich fand, daß
Weisheit und Tugend die Gegenstände meines höchsten Strebens
durch Beherrschung der Sinnlichkeit, der Leidenschaften und durch Übung
der Kräfte in edler und nützlicher Tätigkeit erlangt werden könnten.
Betrachtete ich mich als Bürger des moralischen Reiches, so fand ich mich
verpflichtet, dessen Wohlfahrt wie die eigne nach allen Kräften zu befördern,
ihr alles zu opfern und mich als ihr Eigentum zu betrachten.
Mit welcher Freude trat ich aus dem engen Kreis zugemessener Arbeiten in die
freie Tätigkeit eines denkenden Wesens, das sich selbst einen Zweck seines
Tuns setzt, aus dem beschränkten persönlichen Eigennutz in die große
Verbrüderung aller Menschen zu aller Wohl. Das bloß mechanische und
tierische Leben, dem ich entronnen war, lag wie ein dumpfer Kerker hinter mir;
ich trat in jedem Sinne in die Welt und übte meine Kraft in mancher Selbstüberwindung,
in mancher schweren Tugend. Durch sorgfältige Betrachtung lernte ich bald
alles Menschliche im Menschen kennen, aber das Göttliche
war mir noch nicht offenbar.
Meine stolze Vernunft maßte sich bald die Alleinherrschaft in mir an;
ich wollte, alles solle vernünftig sein.
Diese Forderung verwickelte mich natürlich in beständige Zwistigkeiten
mit mir selbst und der Welt; die Widerspenstigkeiten meiner eignen Natur gegen
ihre Gebote machten mich unzufrieden mit mir; der beständige Kampf der
Welt gegen ihre Forderungen verwirrte mich, eine klügelnde Kritik fand
alles tadelnswürdig, nichts konnte dieser Vernunft genügen. Einst
hatte ich ihr ein großes Opfer gebracht, lange Zeit war ich im Nachdenken
darüber verloren; endlich sprach eine innere Stimme zu mir: Warum ist denn
alles gut, was auf Erden ist, nur der Mensch nicht? Warum soll er allein anders
werden als er ist? Ist nur der tugendhaft, der auf den Ruinen seines eigenen
Geistes steht und sagen kann: Seht, diese hatten sich empört, aber sie
sind gefallen, ich bin Sieger geworden über sie alle! - Barbar! freue dich
nicht deines Sieges, du hast einen Bürgerkrieg geführt; die Überwundenen
waren Kinder deiner eigenen Natur, du hast dich selbst getötet mit deinen
Siegen, du bist gefallen in deinen Schlachten.
Ich konnte dieser Stimme nichts entgegensetzen als die Unordnung, in welche
die moralische Welt geraten würde, wenn keiner gegen seine Neigungen kämpfen
wollte. Aber diese Antwort genügte mir nicht; der Friede, mit solchen Opfern
erkauft, war mir zu teuer, und ich konnte den Gedanken nicht mehr ertragen,
mich teilweise zu vernichten, um mich teilweise desto besser erhalten zu können.
Wie kann ich wissen, fuhr ich zu denken fort, was zu der eigentlichen Natur
und Harmonie meines Wesens gehört, und was durch Erziehung und Verhältnisse
Fremdes in mich übertragen wurde? Vielleicht, wenn mein Gemüt noch
unvermischt von fremdem Zusatz wäre, vielleicht gäbe es dann in mir
kein Sollen, keine Ertötung des einen, damit das andre besser gedeihe.
Gewiß nur die Welt, ihre Verwirrungen, der Strom
ihres tiefen Verderbens, die feige Gefälligkeit, die sie uns oft auferlegt,
haben mich mir selber entrückt und mich zu einem Wesen von widersprechender
Natur gemacht. Von dem Augenblick an, da mir dies klar wurde, entriß
ich mich allen Verhältnissen mit den Menschen, ich verließ sogar
Europa und ging zurück in mein Vaterland; dort wollte ich in stiller Betrachtung
meine Seele reinigen von allem Fremden und wieder ganz ich selbst werden.
Mit welcher Freude sah ich Asien wieder! Eine laue Luft trug mir den feinsten
Duft der Spezereien des Morgenlandes entgegen. Syriens stille Küste badete
sich im heißen Mittelmeer, und Abendwolken ruhten auf den Gipfeln der
Berge; eine bedeutende Inschrift am Eingange dieses Landes, in welchem sich
von jeher Irdisches und Himmlisches, Menschliches und Göttliches so nahe
berührt haben.
Ich wählte mir einen Palmenwald am persischen Meerbusen zum Aufenthalt.
Dieser stille Ort diente mir zum Hafen gegen die Untiefen und Klippen der Welt;
aber es ist nicht so leicht, sich von ihr zu scheiden. Tausend geheime Bande
knüpfen uns an sie, und der Entschluß, der uns von ihr trennt, ist
nicht viel kleiner als der Schritt von dem diesseitigen Leben in das jenseitige.
»Ich kann«, unterbrach Lubar den Erzähler,»diesen
Schritt ebenso wenig gutheißen als den Selbstmord; beide sind für
die menschliche Gesellschaft gleich nachteilig, und was würde aus ihr werden,
wenn sich jeder erlauben wollte, sich für sie zu töten?«
Junger Freund! erwiderte Almor, es kann und wird nicht jeder tun, was ich tat,
und nicht jedem ziemt es; denn so verschieden die äußere Bildung
der Menschen, so verschieden ist auch ihre innere Natur, ihr Leben und ihre
Wünsche. Den einen bildet die Welt, ihr Gewirre macht ihn gewandt, ihr
Widerstand übt seine Kraft. Ein anderer bildet die Welt, und seine Taten
wirken fort in ihr, wenn er auch schon längst aufgehört hat; diese
und ähnliche Naturen gehören ihr an, sie können und dürfen
sich ihr nicht entziehen. Ganz anders ist es mit mir, ich war nie von den ihrigen,
es war gleichsam nur eine Übereinkunft, nach welcher sie mir gab, was mir
von ihren Gütern unentbehrlich war, nach welcher ich ihr gab, was ich konnte.
Diese Übereinkunft ist zu Ende, sie kann mir nichts mehr geben, ihr Geräusch
macht mich taub für die Sprache meines eigenen Geistes, ihre Verhältnisse
verwirren mich, ich ginge in ihr nutzlos verloren. Hier
in dieser stillen Einsamkeit habe ich meine Eigenheit, meinen Frieden, meinen
Gott gefunden, und tausend Geisterstimmen reden
Offenbarungen zu mir, die ich im Getümmel des Lebens nicht vernehmen könnte.
Der Kampf (fuhr Almor in seiner Erzählung fort) des
Einzelnen mit der Gesellschaft, der Freiheit gegen die Notwendigkeit, der Eigenheit
gegen allgemeine Gesetze und der Moral gegen ihre Hindernisse hörten
auf, mich so sehr zu beschäftigen und zu quälen. Schon lange war es
mir klar geworden, daß das Recht der Grund der bürgerlichen und die
Sittlichkeit der Grund der menschlichen Gesellschaft seien. Diese beiden Beziehungen
hatten mir ehemals genügt; ich hatte gesucht, alle Punkte meines Gemütes
mit ihnen in Berührung zu bringen; jetzt entdeckte ich Anlagen in mir,
denen diese endlichen Beziehungen nicht mehr genügen wollten, mein Verstand
wollte immer mehr und unersättlich wissen, meine Einbildungskraft suchte
ein weiteres Feld für ihre Schöpfungen, meine Begierde einen unendlichen
Gegenstand ihres Strebens, und mein innerer Sinn ahndete eine unsichtbare und
geheimnisvolle Verbindung mit etwas, das ich noch nicht kannte und dem ich gerne
Gestalt und Namen gegeben hätte. Ich sah hinauf in die Sterne und
fand es traurig, daß mein Auge so gerne hinsehe und doch an die Erde gefesselt
sei; ich liebte das Morgenrot, daß ich zu seinen Umarmungen hätte
auffliegen, und die wogende See, daß ich mich in ihre Tiefen hätte
stürzen mögen. In dieser Sehnsucht, in dieser
Liebe sprach der Naturgeist zu mir, ich hörte seine Stimme wohl, aber ich
wußte noch nicht, wo sie herkäme; je mehr ich darauf lauschte, desto
deutlicher war es mir, daß es eine Grundkraft gäbe, in welcher Alle,
Sichtbare und Unsichtbare, verbunden seien. Ich nannte diese Kraft das Urleben
und suchte mein Bewußtsein in Verbindung mit ihr zu bringen (denn
eine mir geheimnisvolle und unbewußte Abstammung von ihr schien mir gewiß);
ich suchte mir allerlei Pfade, zu ihr aufzusteigen, von dem Irdischen
zum Himmlischen; die Religion schien mir endlich dieser Pfad zu sein.
Ein Spruch aus dem Koran, der mir einst einfiel, brachte mich auf diesen Gedanken;
mit Liebe und Eifer studierte ich Mahomeds Lehre
und sein Leben. Mein Geist ging in Betrachtung des seinigen über; ich sah,
wie früh in seiner Seele das Bewußtsein göttlicher Dinge gekeimt
sei, wie eine mächtige Sehnsucht ihn getrieben, diesen Zweig vom ewigen
Lebensbaum dem verwitterten Stamm seines Volkes einzuimpfen, wie aber dieses
zarte Gewächs, das nur in einem durch Sittlichkeit und Kultur gereinigten
Boden blühen und Früchte tragen kann, eine veränderte und fremdartige
Gestalt und Natur angenommen habe; sah seine Versuche, durch Gesetze, durch
Hoffnung auf den Himmel und Furcht vor der Hölle einen Grund von Sittlichkeit
in ihren rohen Gemütern zu legen; sah endlich, wie Ehrgeiz, eine zügellose
Einbildungskraft und die Gewalt der Umstände ihn verführt hatten,
unheilige Mittel und Zwecke mit dem Heiligen zu verbinden. Nachdem ich so gesehen,
wie der Weltgeist sich in diesem Individuum abgespiegelt hatte, ging ich zur
Betrachtung seines Bildes in den Geistern anderer Religionsdarsteller über;
ich durchging Zoroasters, Konfutses,
Moses und Christus Lehren,
die Überbleibsel der ägyptischen Priesterweisheit und der Hindu heilige
Mythen. So verschieden der Geist aus diesen allen gesprochen hat, habe ich doch
nur einen Sinn in diesen Formen gefunden, mit dem sich der meinige innigst verbunden
hat, wodurch er erweitert und verstärkt wurde.
Du verlangst von mir, junger Freund, daß ich dich einführe in die
Tore des ewigen Tempels der Religion. Wisse! seine Aufschrift ist Unendlichkeit
und die Sprache ist endlich. Doch will ich versuchen, die heilige Bildsäule
der Isis zu Sais (unter der
die Worte:«Ich bin, was da ist, was war, und sein wird» standen)
vor dir zu entschleiern. So dir aber der innere Sinn nicht aufgeht für
die Göttin, so wirst du sie nicht schauen, weder durch deine Vernunft noch
durch dein Wissen.
Es ist eine unendliche Kraft, ein ewiges Leben, das da
alles ist, was ist, was war und werden wird, das sich selbst auf geheimnisvolle
Weise erzeugt, ewig bleibt bei allem Wandeln und Sterben. Es ist zugleich der
Grund aller Dinge und die Dinge selbst, die Bedingung und das Bedingte, der
Schöpfer und das Geschöpf, und es teilt und sondert sich in mancherlei
Gestalten, wird Sonne, Mond, Gestirne, Pflanzen, Tier und Mensch zugleich
und durchfließt sich selber in frischen Lebensströmen und betrachtet
sich selber im Menschen in heiliger Demut. Diese Anschauung der Dinge, die Anschauung
ihres Urgrundes, ist die
innerste Seele der Religionen, verschieden individualisiert in jedem
Individuum; aber durchgehe sie selbst, die Religionssysteme alle, in allen wirst
du finden ein Unendliches, Unsichtbares, aus dem das Endliche
und Sichtbare hervorging, ein Göttliches, das Mensch wurde, ein Übergehen
aus dem zeitlichen Leben in das ewige. Der Sinn für dies ewige Leben ist
mir schon hier aufgegangen in religiöser Betrachtung, darum ist mir das
Zeitliche in gewissem Sinne so gering geworden, und mein Geist hat die Dinge
ganz anders geordnet.
Verhaßt ist mir nun die Philosophie geworden, die jeden Einzelnen als
Mittel für das Ganze betrachtet, das doch nur aus Einzelnen besteht, die
immer fragt, was dies oder jenes nütze für die andern? und die jeden
als eine Frucht betrachtet, die geblüht habe und gereift sei, um von dem
Ganzen verzehrt zu werden; die die verschiedensten Naturen in einen Garten pflanzen
und den Eichbaum und die Rose nach einer Regel ziehen will. Mir
ist jeder Einzelne heilig, er ist Gottes Werk,
er ist sich selbst Zweck. Wird er, was er seiner Natur nach werden kann, so
hat er genug getan, und was er den andern genützt, ist Nebensache. Jede
Eigenheit ist mir heilig; was der Welt gehört von uns, unser Handeln in
ihr, möge sich nach ihrem Gesetz richten und nach ihrer Ordnung, aber kein
fremdes Gesetz berühre die innere Freiheit meines Geistes, störe die
eigene Natur meines Gemütes, die, wenn sie vollendet wäre, eine reine
Harmonie ohne Mißlaut sein würde. - Ja, es muß eine Zeit der
Vollendung kommen, wo jedes Wesen harmonisch mit sich selbst und mit den andern
wird, wo sie ineinander fließen und Eins werden in einem großen
Einklang, wo jede Melodie sich hinstürzt in die ewige
Harmonie.
Wie dem bloß tierischen Leben Gesundheit, Erhaltung, Fortpflanzung das
Höchste sind, so ist Humanität im weitesten Sinne des Worts (nach
welchem es Sittlichkeit und Kultur mitbegreift) das Höchste für den
Menschen als Menschen; als solcher hat er die Menschheit zum Gegenstand. Sein
reines Verhältnis zu ihr, die Moralität, besteht in sich, genügt
sich selbst und bedarf keiner anderen Motive noch Aussichten als sich und die
Menschheit. Wer irgendeiner Art von Religion zur Stütze seiner Sittlichkeit
bedarf, dessen Moralität ist nicht rein, denn diese muß ihrer Natur
nach in sich selbst bestehen. So kann der Mensch die Religion entbehren, und,
bloß als Mensch betrachtet, reicht seine Aussicht nicht in ihr Gebiet;
aber der Geist sucht das Geistige, sein Durst forscht nach der Quelle des Lebens,
er sucht für seine Kräfte, die auf Erden kein Verhältnis finden,
ein Überirdisches, für sein geistiges Auge einen unendlichen Gegenstand
der Betrachtung, und er findet dies alles in der Religion; sie ist ihm das Höchste,
und das Leben in ihr ist ein rein geistiges. So lebt der Mensch dreifach:
tierisch, dies ist sein Verhältnis zur Erde; menschlich, dies ist seine
Beziehung zur Menschheit; geistig, dies ist seine Beziehung
zum Unendlichen, Göttlichen. Wer auf
eine dieser drei Arten nicht lebt, hat eine Lücke in seiner Existenz, und
es geht ihm etwas verloren von seinen Anlagen.
Diese neue Ansicht der Dinge brachte meinem Gemüt den
ewigen Frieden. Die persischen Palmwälder waren mir ein Elysium,
aber eine gewisse Sehnsucht trieb mich, Indien zu sehen; ich wanderte gegen
Tibet hinauf durch des Mustags Klüfte und Täler und den Ganges hinunter
bis dahin, wo er seine heiligen Wasser in den Bengalischen Meerbusen ergießt,
und wieder zurück nach Dehli, der alten Hauptstadt der mongolischen Sultane.
Unfern von dieser Stadt lernte ich einen weisen Braminen kennen, der mich bald
lieb gewann, mich zu sich aufnahm in seine Wohnung, an den Ufern des Ganges,
und mich unterrichtete in der Sanskrita-Sprache. Wir machten zusammen Wanderungen
in die entferntesten Gegenden Indiens und forschten nach Denkmälern der
vergangenen Herrlichkeit dieses Landes. Eine heiße Liebe zu seinem Volke
beseelte den Braminen, er trauerte über dessen Fall, als sei es sein eigner,
und weidete sich an dessen voriger Größe; und der lebhafte Anteil,
den auch ich daran nahm, machte mich ihm immer lieber; er lehrte mich die Geschichte
seines Vaterlandes genauer kennen, und mit Erstaunen sah ich, daß Indiens
Kultur in ein Altertum hinaufreicht, wo die Zeitrechnungen anderer Völker
noch ungeboren sind. Mögen, sagte er einst zu mir, die stolzen Europäer
sich rühmen, der Mittelpunkt der gebildeten und aufgeklärten Welt
zu sein, im Morgenlande ist doch jede Sonne aufgegangen, die die Erde erleuchtet
und erwärmet hat; später und bleicher sendet sie ihre Strahlen dem
Abendlande. Der Nebel der Vergessenheit umschleiert die
Gräber unserer Vorwelt, nur wenige große Gestalten schimmern hindurch;
unsere siegreichen Götter sind geflohen, wir sind zertreten von den rohen
Mongolen, wir sterben langsam durch die gewinnsüchtigen Europäer.
Jede Volksgröße scheint ein Frühling, der nur einmal kommt und
dann entfliehet, um andere Zonen zu beglücken.
Je mehr ich diesen Menschen kennen lernte, desto mehr fand ich einen wahren
Priester, einen Mittler zwischen
Gott und den Menschen in ihm. Göttliches
und Menschliches waren in seinem Gemüte auf das innigste
und schönste verknüpft. Die Erde war ihm heilig wie ein Vorhof
des Himmels, ihr buntes Getümmel verwirrte ihn nicht, alles entwickelte
sich klar vor seinem Geiste, und er blieb rein und unschuldig in den Strudeln
des Verderbens. Er stand, wie Moses, auf einem hohen Berge, dahin ihm keiner
folgen konnte, und Gott sprach zu ihm und durch ihn zu den Menschen. Bald vergaß
er, daß ich ein Fremder sei, und weihte mich ein in die Weisheit der Braminen.
Er lehrte mich, wie in jedem Teile des unendlichen Naturgeistes
die Anlage zu ewiger Vervollkommnung läge, wie die Kräfte wanderten
durch alle Formen hindurch, bis sich Bewußtsein und Gedanke im Menschen
entwickelten; wie von den Menschen an eine unendliche Reihe von Wanderungen,
die immer zu höherer Vollkommenheit führten, der Seelen warteten;
wie sie endlich auf geheimnisvolle Weise sich alle vereinigten mit der Urkraft,
von der sie ausgegangen, und Eins mit ihr würden, und doch zugleich sie
selbst blieben, und so die Göttlichkeit und Universalität des Schöpfers
mit der Individualität des Geschöpfes vereinigten. Er lehrte
mich, wie eine Gemeinschaft bestehe zwischen den Menschen, denen der innere
Sinn aufgegangen sei, und dem Weltgeiste. «Ich habe»,
sprach er zu mir, «Monden und Jahre verlebt, in
welchen der Geist nur geschwiegen hat, aber plötzlich hat er zu mir geredet
in hohen Offenbarungen, dann wurden mir in einem Augenblicke Dinge begreiflich,
die ich jahrelang zu verstehen umsonst gestrebt hatte. Eine neue und ganz andere
Bedeutung hatten dann die Erscheinungen um mich her, ein frischer Lebensquell
floß um meine Brust, meine Gedanken flogen kühner, rascher; es war
mir dann wie einem, der in öder Einsamkeit fast der Sprache Töne vergessen
hat und zu dem ein guter und großer Mensch tritt und freundlich zu ihm
redet. Wann aber die Stimme schwieg, wann sich das Himmelsfenster schloß,
durch welches göttliche Klarheit in meine
dunkle Seele gekommen war, dann war ich sehr traurig,
und ich konnte mich über nichts freuen als über
die Erinnerung des Lichtes, das ich gesehen hatte.«
Ein zwiefaches Leben schien mir in dem Greis zu wohnen, wenn er so sprach, und
ein Funke seines Geistes ging in den meinigen über. Ich konnte ihn nicht
verlassen, überall begleitete ich ihn, einige Sommernächte ausgenommen,
die er mit einem alten Braminen in den Trümmern eines indischen Tempels
am Ganges in geheimnisvollen Weihen und Zeremonien seiner Religion zubrachte.
Von einer dieser Wanderungen kam er einst sehr ermüdet und bleich zurück
und befahl mir und seiner siebenjährigen Tochter Lasida, ihn in den Schatten
einiger Palmen, die am Ganges standen und über die sich ein hoher mit Inschriften
bekleideter Fels bog, zu begleiten; er setzte sich nieder in den Schatten der
Bäume und hatte lange die Kraft nicht, zu reden. Endlich sagte er mit schwacher
Stimme: «Almor! sei du der Vater meiner Lasida,
wenn ich gestorben bin, wohne bei ihr und erzähle ihr von mir, ich möchte
wohl in ihrer Liebe fortleben. Du Almor, lebe wohl! für dich werd' ich
nicht sterben, denn mein Geist wirkt fort in dir. Noch einmal, lebe wohl! und
laß mich allein; ich möchte in ungestörter Betrachtung des Todes
sterben, möchte stille meinen Geist in die stille Natur zurückhauchen.»
Ich verließ ihn, und als ich am Abend zurückkehrte, fand ich ihn
tot. Sein Freund, der alte Bramin, kam noch denselben Abend; er behauptete,
seinen Tod gewußt zu haben, und begrub ihn um Mitternacht an der Stelle,
wo er gestorben war.
Ich blieb in Lasidas Haus, lebte wie ein Bramin und erzog das Mädchen sehr
wenig, ich überließ es vielmehr seiner eigenen schönen Natur.
Zehn Jahre sind seit dem Tode ihres Vaters verflossen, und er lebt noch unter
uns. Ja, Lasida verläßt ungern dieses Haus, um ihrem Geliebten zu
folgen, weil sie fürchtet, von der näheren Gemeinschaft mit ihrem
Vater durch eine kleine Entfernung ausgeschlossen zu werden. Und ich werde nimmer
diese Hütte, diese Palmen, diesen Strom verlassen; ich bin hierher gebannt
wie in Zauberkreisen, und der Friede weicht nicht von mir. S.77ff.
Aus: Karoline von Günderrode, Gedichte, Prosa, Briefe, Herausgegeben von
Hannelore Schlaffer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9722, © 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart
. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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