Graham Greene (1904 – 1991)

Englischer Schriftsteller, Journalist und Filmkritiker; der 1926 zum Katholizismus übertrat und längere Zeit in Westafrika und Mittelamerika lebte. Greene stellt in seinen Romanen und Dramen, mit zumeist religiöser Thematik, seine Protagonisten in den leidenschaftlichen Konflikt zwischen Selbstverwirklichung in Sünde und kirchliche Orthodoxie. In der Koexistenz des Guten und des Bösen in dieser Welt begründet sich das Paradox des Christentums. Seine Romane zeichnen sich insgesamt durch spannende Handlung, knappe Sprache, dichte Atmosphäre aus. Bekanntestes Werk ist »Der dritte Mann«, das auch verfilmt wurde.

Siehe auch Wikipedia

Vom Paradox des Christentums
Schon in der Bergpredigt, einem eigentlichen Hauptportal zu unserem Glauben, finden wir das Paradox des Christentums, indem uns verheißen wird, dass ein geheimnisvolles Land den erwartet, der die Grenzen überschreitet. Die Menschen fühlen sich oft zu unserm Glauben hingezogen, weil sie sich einbilden, er sei eine Vereinfachung. Aber die einzige einfache Lösung, die es in der Welt gibt, ist die Glaubenslosigkeit. Der Existentialismus ist bei aller Gelehrtheit und Subtilität der Werke, die ihn erläutern, doch nur eine Vereinfachung, weil er alles beseitigt — mit Ausnahme der Willensfreiheit. Die materialistische Deutung der Geschichte ist ebenfalls eine Vereinfachung, weil sie das psychologische Moment und das Wunder außer acht lässt. Der Glaube verdunkelt, der Glaube macht uns empfänglich für die Anwesenheit des Mysteriums, des Paradoxen. Der Glaube ist dem Lichtstrahl eines Leuchtturms vergleichbar: er leuchtet mit Unterbrechungen, und auf einem sehr begrenzten Feld erhellt er nur Abschnitte einer unbegrenzten Landschaft. Wir können ein einfacheres Leben führen und uns einbilden, dass wir mehr begreifen, wenn wir die Augen schließen, um nicht längs des Lichtstrahls die Schatten und ungewissen Formen zu bemerken, die den verstümmelten Statuen einer unbekannten Kultur gleichen.

Das Bedürfnis, zu erkennen, und das Bedürfnis, eine einfache Lösung zu finden, sind zwei tiefe, sich oft widerstreitende Bestrebungen der menschlichen Natur. Dieses Verlangen nach einer einfachen Antwort gestattet es manchmal Philosophen und Theologen, ihren Gedanken mehr und mehr aufzuhellen, bis er schließlich als ein festes Dogma wie das von der Dreifaltigkeit dasteht, das ebenso einfach wie geheimnisvoll ist. Aber der Wunsch, eine einfache Lösung zu finden, drückt sich noch öfter in der Flucht vor dem Mysterium aus, womit man die eine Hälfte des christlichen Paradoxes unterschlägt. »Wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen«— das ist es, was so schwierig zu verstehen ist. »Sicherheit um jeden Preis« ist ein Schlagwort, das wir alle leicht annehmen können. Es wendet sich an unsere natürliche und instinktive Bereitschaft, zurückzuschlagen, wenn jemand uns auf die Wange schlägt. Die Furcht vor dem dunkeln, unklaren Geheimnis lässt uns die Worte unseres Herrn durch konkretere und verständlichere Begriffe ersetzen: »Liebet eure Freunde und tut ihnen Gutes, denn dann besteht einige Hoffnung, dass es euch zurückerstattet wird.«

Heutzutage sehen wir ganze Völker, die ihre Existenz auf der Abwesenheit des Paradoxes, auf der Vereinfachung aufgebaut haben. Ich spreche hier nicht von Russland. Im Herzen der schwärzesten Schatten jenes kalten Kontinents, des Vaterlandes eines Tolstoj und Dostojewskij, herrschen nach meiner Überzeugung Spannungen und Paradoxe, die ihn uns zweifellos weniger fremd erscheinen lassen als gewisse Länder, in denen Glück, Gerechtigkeit und Hygiene zu Hause sind. Wir müssen auch an die Kehrseite der Medaille denken: Die Anbetung des Materialismus ist nur ein Lippendienst: man glaubt dort auch an den Teufel. Man kann aber nicht an den Teufel glauben, ohne auch zu glauben, dass Gott nahe ist.

Ich werde ein anderes Land als Beispiel nehmen und Sie bitten, mich im Geiste in eine nordische Stadt zu begleiten, eine der schönsten Städte Europas, deren Türme sich in schillernden Reflexen klarer Wasser widerspiegeln und deren Herbstbäume alle Tönungen von Gelb, Gold und Kupfer aufweisen, in die sich das Scharlachrot des Vogelbeerbaumes mischt, ein Land, dessen Bevölkerung so gering ist, dass seine sozialen Einrichtungen die vollkommensten von Europa sind, ein Land, dessen gütige und großherzige Menschen auch eine väterliche Regierung haben, die darüber wacht, dass eine gewisse Sittenstrenge geübt wird. Der Katholizismus ist dort, um es offen zu sagen, so gut wie nicht vorhanden. Der Protestantismus ist fast erloschen. Aber abgesehen von der christlichen Religion, findet man in diesem Land alles in bester Ordnung: schöne Bauwerke, gute Ernährung, künstlerische Möbel, Textilien und Porzellane. Man sorgt sich nicht um die Zukunft. Es gibt weder Bettler noch Prostituierte.

Jetzt begleiten Sie mich in eine andere Stadt im äußersten Süden; sie hat einer bestimmten Art von Katholizismus den Namen gegeben, einen Namen, der sarkastisch gemeint ist. Ein großer Teil der Stadt ist durch Bombardierungen zerstört worden. Schrecklich verstümmelte Menschen betteln inmitten der Ruinen. Die überfüllten, hohen Mietskasernen stellen eine Karikatur von New York dar, ein Bild dessen, was Amerika nach Jahrhunderten von Krieg und Korruption werden könnte. (Vor einigen Jahren geschah es hier, dass ein Fußgänger getötet wurde, weil ihm ein Schwein vom Balkon des sechsten Stockwerkes auf den Kopf fiel: der Balkon hatte so lange als Schweinestall gedient, bis er unter dem Gewicht des Tieres nachgab.) Soziale Einrichtungen gibt es wenig, Sicherheit keine, und die Menschen vermehren sich wie die Maden im Gorgonzola. Allen Gesetzen zum Trotz betreiben Bordelle in dunklen Gassen ihre Geschäfte.

In den Kirchen drängen sich die Menschen um die Beichtstühle wie Fliegen auf Fleischstücken. . . Kurz: hier herrscht Armut, Prostitution, Unsicherheit, Bettelei und Aberglaube... Und doch ist in der zuerst geschilderten Stadt die Selbstmordziffer mit am höchsten in Europa, während man in der andern Stadt nur Lachen hört. Manchmal zieht eine Prozession mit einem wundertätigen Bild durch die Straßen, und die staubigen Arbeiterhäuser erscheinen plötzlich wie verwandelt, wenn anstelle von Fahnen aus allen Fenstern Bettdecken hängen. Ist es nicht doch möglich, dass dieses Bild gesprochen, dass jene Statue sich bewegt hat? Hinter allem Schmutz spüren wir etwas wie das Zittern einer Hoffnung, einer Hoffnung auf eine Zukunft, die besser ist als die Gegenwart. In der nordischen Stadt spüren wir nichts als Gleichgültigkeit: für die Hoffnung ist kein Raum, denn die Zukunft ist ja schon da. Das Tausendjährige Reich ist bereits angebrochen, und es kann nie besser werden.

Darin liegt also das Paradox, das wir nur durch Erfahrung und Beobachtung zu durchschauen vermögen: wo Gott am stärksten gegenwärtig ist, da ist es auch sein Feind. Und umgekehrt: an Orten, wo der Feind nicht ist, scheint es uns fast unmöglich, Gott zu entdecken. Man fühlt sich versucht, zu glauben, dass das Böse nur der Schatten ist, den das Gute in seiner Vollkommenheit wirft, und dass wir eines Tages sogar dahin gelangen werden, selbst diesen Schatten zu begreifen.

Der Christ wohnt in einer Grenzzone zwischen Gut und Böse, und es ist ein Land von Räubern. In jener vorhin beschriebenen glücklichen Stadt im Herzen eines friedlichen Landes weit hinter der Kampflinie finden wir den Teufel nicht, aber auch Gott finden wir nicht. Wir wissen, daß Gott bei seinen Soldaten mitten in der Schlacht weilt.

Aus: Graham Greene, Vom Paradox des Christentums. Mit einem Geleitwort von Gertrud von le Fort (S.31-34)
Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Schnack, veröffentlicht als Herder-Taschenbuch Band 31 mit Genehmigung des Arche Verlages
© Peter Schifferli Verlags AG. «Die Arche», Zürich 1952
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Arche Verlages und Herrn Jochen H. Schnack für die Übersetzung ins Deutsche