Balthasar Gracián y Morales(1601 – 1658)
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Spanischer
Philosoph, der seit 1619 Jesuit war. Als Moralphilosoph vertrat Gracián eine pessimistische Richtung, die auf einer kritischen Deutung
des Menschen beruhte (»Criticón oder
Über die allgemeinen Laster des Menschen«). Das durch Arthur Schopenhauers Übersetzung bekannt
gewordene »Handorakel« (Oráculo
manual y arte de prudentia) ist ein geistreich formuliertes Brevier der Lebensweisheit, aus dem die folgenden Texte entnommen sind. Siehe auch Wikipedia, Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg |
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Inhaltsverzeichnis
Wissen, Vollendung, Großherzigkeit der Seele, Besser mit den Übrigen gescheit, als allein Narr zu sein, Die höchste Seeligkeit,
Ertragenkönnen, Gleichmut ist vernünftig, Verschmitzte Tücke, Vergessen, Erhabenheit, Wundermann,
Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos,
Wissen
Wissenschaft und Tapferkeit bauen die Größe
auf. Sie machen unsterblich; weil sie es sind. Jeder ist so viel,
als er weiß, und der Weise vermag Alles. Ein Mensch ohne Kenntnisse; eine
Welt im Finstern. Einsicht und Kraft; Augen und Hände. Ohne Mut ist das
Wissen unfruchtbar. Hand-Orakel No 4
Vollendung
Seine Vollendung erreichen. Man wird nicht
fertig geboren: mit jedem Tage vervollkommnet man sich in seiner Person und
seinem Beruf, bis man den Punkt seiner Vollendung erreicht, wo alle Fähigkeiten
vollständig, alle vorzüglichen Eigenschaften entwickelt sind. Dies
gibt sich daran zu erkennen, dass der Geschmack erhaben, das Denken geläutert,
das Urteil reif, und der Wille rein geworden ist. Manche gelangen nie zur Vollendung,
immer fehlt ihnen noch etwas: Andre kommen spät zur Reife. Der vollendete
Mann, weise in seinen Reden, klug in seinem Tun, wird zum vertrauten Umgang
der gescheuten Leute zugelassen, ja gesucht. Hand-Orakel
No 6
Großherzigkeit
der Seele
Adel des Gemüts. Es gibt eine Großherzigkeit
der Seele, einen Edelmut des Geistes, dessen schöne Äußerungen
den Charakter in das glänzendeste Licht stellen. Dieser
Adel des Gemüts ist nicht Jedermanns Sache: denn er setzt Geistesgröße
voraus. Seine erste Aufgabe ist, gut vom Feinde zu reden und noch besser
an ihm zu handeln. Im größten Glanz erscheint er bei den Gelegenheiten
zur Rache: diese lässt er sich nicht etwa entgehn, sondern er verbessert
sie sich, indem er, grade wann er recht siegreich ist, sie zu einer unerwarteten
Großmut benutzt. Und dabei ist er doch politisch, ja sogar der Schmuck
der Staatsklugheit: nie affektiert er Siege, weil er nichts affektiert: erlangt
solche jedoch sein Verdienst; so verhehlt sie sein Edelmut. Hand-Orakel
No 131
Besser
mit den Übrigen gescheit, als allein Narr zu sein
Besser mit Allen ein Narr als allein gescheit, sagen politische Köpfe. Denn, wenn Alle es sind, steht man hinter Keinem
zurück: und ist der Gescheite allein, wird er für den Narren gelten.
So wichtig ist es dem Strom zu folgen. Bisweilen besteht das größte
Wissen im Nichtwissen oder in der Affektation desselben. Man muß mit den
Übrigen leben, und die Unwissenden sind die Mehrzahl. Um
allein zu leben, muß man sehr einem Gotte, oder ganz einem Tier ähnlich
sein. Doch möchte ich den Aphorismus ummodeln und sagen: besser mit den Übrigen gescheit, als allein ein Narr: denn Einige
suchen Originalität in Schimären.
Hand-Orakel No 133
Die
höchste Seeligkeit
Der Weise sei sich selbst genug. Jener (Diogenes), der sich selbst
Alles in Allem war, hatte, als er sich selbst davon trug, alles Seinige
bei sich. Wenn Ein universeller Freund Rom und die ganze übrige Welt zu
sein vermag; so sei man sich selbst dieser Freund, und dann wird man allein
zu leben im Stande sein. Wen wird ein solcher Mann vermissen, wenn es keinen
größern Verstand und keinen richtigem Geschmack, als den seinigen,
gibt? Dann wird er bloß von sich abhängen, und es
ist die höchste Seeligkeit, dem höchsten Wesen zu gleichen.
Wer so allein zu leben vermag, wird in nichts dem Tiere,
in Vielem dem Weisen und in Allem Gott ähnlich sein.
(Vergl. No. 133.) Hand-Orakel No 137
Ertragenkönnen
Die Narren ertragen können. Stets
sind die Weisen ungeduldig: denn wer sein Wissen vermehrt, vermehrt seine
Ungeduld. Große Einsicht ist schwer zu befriedigen. Die erste Lebensregel,
nach Epiktet, ist das Ertragenkönnen, worauf er die Hälfte der
Weisheit zurückführt. Müssen nun alle Arten von Narrheit ertragen
werden; so wird es großer Geduld bedürfen. Oft haben wir am meisten
von denen zu erdulden, von welchen wir am meisten abhängen: eine dienliche
Ubung der Selbstüberwindung. Aus der Geduld geht der unschätzbare
Frieden hervor, welcher das Glück der Welt ist. Wer aber zum Dulden kein
Gemüt hat, ziehe sich zurück in sich selbst, wenn er anders auch
nur sich selbst wird ertragen können. Hand-Orakel
No 159
Gleichmut
ist vernünftig
Im Himmel ist Alles Wonne, in der Hölle Alles
Jammer, in der Welt, als dem Mittleren, das Eine und das Andre.
Wir stehn zwischen zwei Extremen, und sind daher beider teilhaft. Das Schicksal wechselt: Alles soll nicht Glück, noch Alles Missgeschick sein. Diese Welt
ist eine Null: für sich allein gilt sie nichts, aber mit dem Himmel in
Verbindung gesetzt, viel. Gleichmut bei ihrem Wechsel
ist vernünftig, und Neuheit ist nicht die Sache des Weisen. Unser
Leben verwickelt sich in seinem Fortgang, wie ein Schauspiel, und entwickelt
sich zuletzt wieder: daher sei man auf das gute Ende bedacht. Hand-Orakel
No 211
Verschmitzte
Tücke
Wann hat man den Gedanken auf den Kopf zu stellen?
Wann verschmitzte Tücke redet. Bei Einigen muss Alles
umgekehrt verstanden werden: ihr Ja ist Nein, und ihr Nein Ja. Reden sie von
einer Sache nachteilig; so bedeutet dieses, dass sie solche hochschätzen:
denn wer sie für sich haben will, setzt sie bei Andern herab. Nicht Jeder,
der lobt, redet gut von der Sache: denn Manche werden, um die Guten nicht zu
loben, auch die Schlechten loben: für wen aber Keiner schlecht ist, für
den ist auch Keiner gut. Hand-Orakel No 250
Vergessen
Vergessen können: es ist mehr ein Glück,
als eine Kunst. Der Dinge, welche am meisten für‘s Vergessen
geeignet sind, erinnern wir uns am besten. Das Gedächtnis ist nicht
allein widerspenstig, indem es uns verlässt, wann wir es am meisten
brauchen, sondern auch töricht, indem es herangelaufen kommt, wann es
sich gar nicht passt. In Allem, was uns Pein verursacht, ist es ausführlich,
aber in dem, was uns ergötzen könnte, nachlässig. Oft besteht
das einzige Heilmittel unsrer Schmerzen im Vergessen; aber wir vergessen
das Heilmittel. Man muss jedoch seinem Gedächtnis bequeme Gewohnheiten
beibringen: denn es reicht hin, Seligkeit oder Hölle zu schaffen. Auszunehmen
sind hier die Zufriedenen, welche im Stande ihrer Unschuld ihre einfältige
Glückseligkeit genießen. Hand-Orakel No
262
Erhabenheit
Ein Mann von erhabenen Eigenschaften: die vom ersten Range machen Männer ersten Ranges: und eine einzige derselben
gilt mehr als eine große Anzahl mittelmäßiger. Es gab einen
Mann, dem es gefiel, alle seine Sachen, sogar den gewöhnlichen Hausrat,
besonders groß zu haben: wie viel mehr muss der große Mann
dafür sorgen, dass alle Eigenschaften seines Geistes groß seien.
In Gott ist Alles unendlich und unermesslich;
so auch muss in einem Helden alles groß und majestätisch seyn,
dergestalt dass alle seine Taten, ja auch seine Reden, mit einer überschwänglichen,
großartigen Erhabenheit bekleidet auftreten.
Hand-Orakel No 262
Wundermann
Drei Dinge machen einen Wundermann
und sind die höchste Gabe
der göttlichen Freigebigkeit: ein fruchtbares Genie, ein tiefer
Verstand und ein zugleich erhabener und angenehmer Geschmack. Richtig zu fassen,
ist ein großer Vorzug, aber ein noch größerer, richtig zu denken
und die Einsicht des Guten zu haben. Der Verstand muss nicht im Rückgrat
sitzen: da wäre er mehr mühselig als scharf. Richtig zu denken, ist
die Frucht der vernünftigen Natur. Mit zwanzig Jahren herrscht der Wille
vor, mit dreißig das Genie, mit vierzig das Urteil. Es gibt Köpfe,
die gleichsam Licht ausströhmen, wie die Augen des Luchses, indem sie,
wo die größte Dunkelheit ist, am richtigsten erkennen. Andre sind
für die Gelegenheit gemacht, da sie stets auf das fallen, was am meisten
zum gegenwärtigen Zweck dient: es bietet sich ihnen Vieles und Gutes dar:
eine glückliche Fruchtbarkeit! Inzwischen würzt ein guter Geschmack
das ganze Leben. Hand-Orakel No 298
Die Tugend
ist die Sonne des Mikrokosmos
Mit Einem Wort, ein Heiliger sein, und
damit ist Alles auf ein Mal gesagt. Die Tugend ist das
gemeinsame Band aller Vollkommenheiten, und der Mittelpunkt
aller Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, umsichtig,
klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich,
beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht. Drei Dinge,
welche im Spanischen mit einem S anfangen, machen glücklich: Heiligkeit,
Gesundheit und Weisheit. Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos oder
der kleinen Welt und ihre Hemisphäre ist das gute Gewissen. Sie ist so
schön, dass sie Gunst findet vor Gott und Menschen. Nichts ist liebenswürdig,
als nur die Tugend, und nichts verabscheuungswert, als nur das Laster. Die
Tugend allein ist Sache des Ernstes, alles Andre ist Scherz. Die Fähigkeit
und die Größe soll man nach der Tugend messen und nicht nach Umständen
des Glücks. Sie allein ist sich selbst genug: sie macht den Menschen im
Leben liebenswürdig und im Tode denkwürdig.Hand-Orakel
No 300
Aus: Balthasar Gracian Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Deutsch von Arthur
Schopenhauer. Sammlung Dietrich