Lama Anagarika Govinda, ursprünglich Ernst Lothar Hoffmann (1898 - 1985)

Buddhistischer Philosoph, Maler und Schriftsteller, der Philosophie, Religionswissenschaft und Archäologie in Freiburg, Neapel und Cagliari studierte. Govinda wurde unter dem Namen Ernst Lothar Hoffmann in Waldheim (Sachsen) als Sohn eines deutschen Vaters und einer bolvianischen Mutter geboren. 1920-28 führten ihn archäologische Forschungen ins Mittelmeergebiet und Nordafrika. Während dieser Zeit lebt er in einer Künstlerkolonie auf Capri, wo er Pali lernt, zu meditieren anfängt und seine ersten Bilder malt. In den Jahren 1928-31 folgte ein Noviziat und Studium in buddhistischen Klöstern Ceylons und Burmas. 1931-37 war er als Dozent für Archäologie und buddhistische Philosophie an indischen Universitäten tätig.

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Inhaltsverzeichnis
Die Wahrheit liegt jenseits der Worte
Geburt und Tod stellen denselben Vorgang dar
Das Göttliche im Buddhismus


Die Wahrheit liegt jenseits der Worte
Die «andere Wirklichkeit» lässt sich zwar nicht mit den Kategorien und Begriffen unserer sekundären «Alltagswirklichkeit» beschreiben, wohl aber umschreiben durch gewisse Symbole oder archetypische Formen unseres Bewusstseins und unserer Kultur. Das Wort «Gott» ist einer dieser Symbole, d. h. eine Chiffre für etwas, das sich jeder Beschreibung entzieht, weshalb es in der Bibel heißt: «Du sollst dir kein Bild machen von Gott.» Dieses «Bild» aber ist nicht nur eine konkrete, sinnlich wahrnehmbare Darstellung, sondern ebensosehr — und vielleicht mehr noch — ein logisch oder qualitativ abgegrenzter Begriff wie der einer «Person» mit diesen oder jenen Eigenschaften. Der Buddhist lehnt daher jegliche Aussage dieser Art ab und beschränkt sich darauf, das «Göttliche» unter dem Symbol des Lichtes, der Erkenntnis und der mitfühlenden Nächstenliebe im eigenen Herzen zu finden, statt sich über die möglichen Auffassungen des Gottesbegriffes zu streiten. Der Buddhismus ist unter allen Weltreligionen die einzige, die ein solches «Gotteserlebnis» nicht durch dogmatische Verbegrifflichung profanisiert hat — eine Profanierung, die sich auf der ganzen Welt durch blutige Verfolgungen und bittere Kämpfe gerächt hat.

Man hat den Buddhismus auf der einen Seite des Atheismus, auf der anderen der «Bilderverehrung», wenn nicht gar des «Götzendienstes» beschuldigt. Beides ist völlig verfehlt. Die Lehre des Buddha ist weder Agnostizismus noch Atheismus, denn sie leugnet weder die Möglichkeit höchster Erkenntnis oder der vollkommenen Erleuchtung (Gnosis) noch auch den Wert des Gotteserlebnisses, das je nach der Stufe menschlicher Erkenntnis verschiedenartige Formen annimmt und darum keiner verstandesmäßigen Definition unterliegen kann. Der Buddha ließ daher die Gottesvorstellungen seiner Zeitgenossen auf sich beruhen und zeigte jenseits aller theistischen Thesen den Weg zum Erlebnis des Göttlichen im Menschen selbst. Dieses besteht in der Überwindung unserer ichhaften Begrenzung, d. h. in der Kultivierung jener unermesslichen Eigenschaften, die in der Empfindung der Nächstenliebe, des Mitleides, der Mitfreude und der Herstellung des vollkommenen seelischen Gleichgewichtes, das auch von eigenen Freuden und Leiden unberührt bleibt, bestehen. Der Buddha bezeichnet diese als die vier «göttlichen Zustände» oder das «Verweilen in Gott» (brahma-vihâra). Er verkündete somit nicht eine Lehre, die irgend etwas mit dem materiellen Atheismus unserer Zeit zu tun hat, sondern eine nichttheistische Lehre, die statt einer Gottesvorstellung die Verwirklichung des Göttlichen, des Unendlichen im Menschen anstrebte.

Die Figur des Buddha aber ist das Symbol des vollkommenen Menschen, der des Göttlichen in sich bewusst geworden ist und es in sich verwirklicht hat. Es ist dieses Symbol der höchsten Vollendung, dem der Buddhist seine Verehrung entgegenbringt, indem er sich innerlich mit ihm identifiziert und es erfüllt mit der Kraft seiner eigenen Hingabe, mit dem Blut seines eigenen Lebens. Das Kultbild ist somit nicht der Sitz einer zu verehrenden Gottheit, sondern ein Mittel zur Erweckung innerer Schauung, die den Schauenden selbst verwandelt und ihn von der Starre des Begrifflichen befreit. Denn das Wesen des Symbols besteht darin, daß es des Wachstums fähig ist und auf jeder Ebene des Bewußtseins einen neuen Sinn erschließt, ohne sich auf irgendeiner derselben zu erschöpfen.


Für den Buddhisten gibt es keine religiösen Aussagen, die «wörtlich» zu nehmen sind, denn auch Worte sind Symbole für etwas, das jenseits von ihnen liegt. Darum heißt es im Lânkavatâra Sûtra: «Möge der Jünger sich davor hüten, sich an Worte zu klammern in der Meinung, daß sie ihrem Sinn völlig entsprächen, denn die Wahrheit liegt nicht im Buchstaben beschlossen. Wenn ein Mensch mit dem Finger auf etwas zeigt, so mag die Fingerspitze von Einfältigen für das angedeutete Objekt angesehen werden. In gleicher Weise sind die Unwissenden wie Kinder nicht fähig, die Idee aufzugeben, daß in der <Fingerspitze> der Worte ihr ganzer Sinn enthalten sei. Sie können sich die höhere Wirklichkeit nicht vorstellen, geschweige denn in sich selbst verwirklichen, weil sie sich an Worte klammern, die nicht mehr sein sollten als ein weisender Finger — denn die Wahrheit liegt jenseits der Worte. »
S.81-82
Aus: Die Antwort der Religionen, Eine Umfrage mit 31 Fragen von Gerhard Szczesny bei »Glaubensfachleuten« der großen Bekenntnisge-meinschaften Judentum, Katholizismus, Protestantismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH , Reinsbek bei Hamburg 1971
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Claudia Szczesny-Friedmann, München

Geburt und Tod stellen denselben Vorgang dar
Eine Unsterblichkeit des Menschen, die lediglich in einem Weiterexistieren der ihn ausmachenden Elemente und Prozesse bestünde, wäre völlig sinnlos und hätte nicht das geringste Interesse für das menschliche Individuum. Ja, man könnte sich fragen, was ist der Sinn aller Individualität, aller Bewusstheit, wenn die Erfahrungsinhalte jeder Existenz sich in einem Leerlauf unbewußter Prozesse und ewig aufeinanderfolgender elementarer Neugestaltungen erschöpfen würden? Die Erhaltung von «Kraft und Stoff» mag den Materialisten intellektuell befriedigen; den geistigen Menschen, der sich seiner tieferen Vergangenheit und seiner seelischen Kontinuität und Wachstumsmöglichkeiten bewußt ist, können solche Schlagworte nicht beeindrucken.

Zu der Frage, ob der einzelne Mensch als Individualität schon
vor seiner Geburt in irgendeiner Form vorhanden war und wie man sich die Fortexistenz nach dem Tode vorzustellen hat, gibt der Buddhismus eine klare, auf Beobachtung und innerer Erfahrung beruhende (und durch meditative Erfahrung nachprüfbare) Antwort, die weder eines Jenseitsglaubens noch auch komplizierter metaphysischer Hypothesen bedarf, sondern durch ihre Einfachheit und Natürlichkeit für sich selber spricht und somit selbst für den noch nicht Überzeugten, aber unvoreingenommenen Geist zumindest den Vorteil einer annehmbaren Arbeitshypothese hat.

Die Antwort des Buddhismus ist, dass
Geburt und Tod denselben Vorgang darstellen — nur von zwei verschiedenen Seiten gesehen: so wie dieselbe Türe als Eingang oder Ausgang bezeichnet werden kann, je nachdem wir sie vom Äußeren oder Inneren eines Raumes betrachten. In anderen Worten: wir sind schon unzählige Male durch die Pforte des Todes und der Geburt gegangen, und unser jetziges Leben ist nichts anderes als das «Jenseits» oder richtiger, die Fortsetzung unserer vorigen und aller vorhergegangenen Existenzen.

Individuelle Fortdauer ist jedoch nicht als das Fortbestehen einer unveränderlichen, sich ewig gleichbleibenden Seelensubstanz einer für sich bestehenden, einmaligen Persönlichkeit zu verstehen, sondern als die Kontinuität einer ständig wachsenden und im Wachstum sich verwandelnden Bewusstseinskraft, in der jede neue Erfahrung zur
Erweiterung des geistigen Horizontes und zur Bereicherung des inneren Lebens und seiner Beziehungen zur Umwelt beiträgt, bis der Zustand des vollen Erwachens zur Universalität, zum Erlebnis der Ganzheit, verwirklicht ist. Die Konservierung der Erfahrungsinhalte des Bewusstseins ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der willentlichen Erinnerungsfähigkeit unseres Intellektes, d. h. unseres aktiven peripherischen Bewusstseins, das unseren zeitlich und räumlich bedingten Notwendigkeiten und Zielen des gegenwärtigen Lebens dient.

Das Gedächtnis des Tiefenbewusstseins ist nicht eine Art Rumpelkammer, in der ununterschiedlich alles vom Oberflächenbewusstsein als nutzlos Abgestoßene oder für wertlos Erachtete aufgespeichert wird, sondern es hat die Eigenschaft, alle Erfahrungsinhalte in solcher Weise zu assimilieren und zu verwandeln, dass sie, aller zeitlichen und persönlichen Trivialitäten und Zufälligkeiten entkleidet, sich zu lebendigen archetypischen Symbolformen kristallisieren und sich zu einem Netz unendlicher Beziehungen zusammenfügen, deren Zentrum das individuelle Tiefenbewusstsein ist. Da dieses Zentrum aber nicht statisch ist, sondern sich infolge ständig neu einströmender Erfahrungsinhalte in dauernder Fortbewegung befindet, so wird dieses Zentrum zu einer zentralen Achse psychischen Wachstums, die sich durch zahllose, einander bedingende und ununterbrochen aufeinanderfolgende Existenzen erstreckt.

Der Übergang von einer Existenz zur anderen hat jedoch nach buddhistischer Vorstellung nichts mit einer
«Seelenwanderung» zu tun, in der eine seelische Wesenheit oder Entität (im Sinne einer in sich abgeschlossenen, sich gleichbleibenden seelischen Einheit) von einem Körper zum anderen wandert, sondern ist eher als eine Art Zentrumsverschiebung einer räumlich und zeitlich nicht begrenzten Bewusstseinskraft auf der Achse ihrer Entwicklungsrichtung zu verstehen.

Wir können also eher von einer
kontinuierlichen «Seelenwandlung» reden, deren einzige Konstante die auf innerer Kausalität beruhende Richtung oder «Achse» ihres Wachstums, ihrer Entwicklung, ist. Die Tiefendimension unseres Bewußtseins reicht nach buddhistischer Auffassung wie auch nach der moderner Tiefenpsychologie in eine anfanglose Vergangenheit zurück und hat darum das gesamte Universum zur Basis, obwohl nur diejenigen Inhalte in den Bereich unserer Wahrnehmung kommen, die zu den Notwendigkeiten unserer augenblicklichen Situation oder den Interessen unseres Intellektes in direkter Beziehung stehen.

So wie die Tiefendimension unseres Bewusstseins zeitlich nicht begrenzt ist, so ist auch die Weitendimension, d. h. die Dimension unseres Gegenwartsraumes, nicht begrenzt, was mit anderen Worten heißt, dass Bewusstsein zwar individuell zentriert ist (individueller Zentrierung bedarf, um sich selbst bewusst zu werden), dass es aber nicht mit den körperlichen Grenzen oder den körperlichen Organen, in denen es zentriert ist, identisch ist.


Alle Fernwirkungen des Geistes und der psychischen Wahrnehmung (Telepathie, «extra-sensorial perception» (ESP), Telekinese oder dergl.), die in zahlreichen Versuchen der experimentellen Psychologie nachgewiesen worden sind, weisen auf eine räumliche Unbegrenztheit des Bewußtseins hin. Jedes individuelle Bewusstsein ist sozusagen ein Strahlungszentrum, das alle anderen gleichzeitig bestehenden Bewusstseinszentren (in stärkerem oder in schwächerem Maße) durchdringt, in oder mit ihnen lebt und sie je nach Maßgabe ihrer «geist-räumlichen» oder entwicklungsmäßigen Position oder psychischen Abstimmung beeinflusst.

Und so, wie wir selbst in uns am Bewußtsein unzähliger Wesen teilnehmen, auf deren Schwingungen wir, je nach Abstimmung, d. h. Empfänglichkeitsbereitschaft und Affinität unserer eigenen Natur, reagieren — so besteht im Augenblick unseres
physischen Todes weder die Notwendigkeit einer psychischen Transmigration oder einer «Suche nach einem neuen Mutterschoß», sondern innerhalb des schon von jeher eingenommenen geistigen Raumes wird im Augenblick, in dem das eine Zentrum als Wirkensbasis des Bewusstseins verschwindet oder inadäquat wird, notwendigerweise ein anderer Punkt zum Zentrum des Bewusstseins: nämlich der, dem unser tiefstes Wesen am meisten entspricht oder, negativ ausgedrückt, dessen Widerstand am geringsten ist.

Geringster Widerstand kann natürlich nur dort sein, wo noch kein selbständiger Organismus existiert, sondern nur der Keim oder die Lebensbedingungen für einen solchen. Und die größte Affinität oder gleichartigste Abstimmung kann nur dort sein, wo die Anlagen eines solchen Lebenskeimes oder die psychischen Bedingungen, unter denen er zur Entstehung kommt, dem Wesen oder der Eigenart des zu neuer Verkörperung drängenden Bewußtseins die größten Entfaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten geben.


Das «Hier-Verschwinden» und «Dort-in-Erscheinung-Treten» (wie das Sterben und Wiedergeborenwerden in den buddhistischen Texten oft, genannt wird) ist also mit keinerlei räumlicher Bewegung oder «Wanderung» einer Geisteswesenheit verbunden und kann daher auch kein zeitliches Problem sein. Die Zentrumsverschiebung des Bewusstseins mag durch das folgende Gleichnis verständlicher gemacht werden: Das Bewußtsein des Menschen gleicht einem großen Banyan-Baum, der unzählige Luftwurzeln hat. Der Hauptstamm stellt das augenblickliche Bewusstseinszentrum des Menschen dar, in dem er sich als Individuum bewußt ist. Die unzähligen Luftwurzeln stellen die Beziehungen seines nach allen Seiten ausstrahlenden Bewusstseins zu anderen Wesen oder potentiellen Lebenszentren dar. Der Hauptstamm altert, und wenn er eines Tages zerfällt, wird automatisch die nächstgrößte Luftwurzel zum Hauptstamm und Zentrum («Ich») des Baumes. So kann eine Zentrumsverschiebung stattfinden ohne Bewegung des Zentrums.

Es hängt somit von unserem Geisteszustand ab, d. h. von der
Reife und Richtung unseres Bewusstseins, in welchem Boden wir Wurzel schlagen: in dem einer höheren Wirklichkeits- und Wesensstufe (einer höheren Bewusstseinsdimension), die uns dem Erwachen zur Ganzheit näherbringt und somit zu unserer wahren Unsterblichkeit — oder zu einer größeren Verhaftung und Identifizierung mit den kleinen Zielen und Grenzen unseres sterblichen Daseins, unserer vergänglichen Persönlichkeit.

Sterblichkeit wie Unsterblichkeit liegen im Bewusstsein des Menschen beschlossen. Unsterblichkeit aber bezieht sich nicht auf die Erhaltung unserer Persönlichkeit, sondern besteht in der Wiederentdeckung jener Beziehungen, die uns als Exponenten eines unvergänglichen Ganzen erweisen. In der Wiederentdeckung dieser Beziehungen besteht das seelische Wachstum des Menschen, und seine Individualität ist der notwendige Durchgangspunkt zum Erlebnis seiner Universalität, zum Erwachen in die höchste Wirklichkeit.

«Unser Selbst mu
ss, um zu leben, beständig in seiner Form sich wandeln und wachsen; man könnte sagen, dass gleichzeitig ein beständiges Leben in ihm vor sich geht. In Wahrheit werben wir um den Tod, wenn wir dem Tode ausweichen, wenn wir dieser Form des Selbst Dauer verleihen möchten, wenn das Selbst keinen Trieb fühlt, über sich hinauszuwachsen, wenn es seine Grenzen als endgültig nimmt und demgemäß handelt.» (Rabindranath Tagore, Sâdhanâ S.114)

Wachstum aber bedeutet nicht nur dauernde Veränderung und Verwandlung, sondern ebenso Kontinuität; und diese Kontinuität ist es, die der Bewegung und Verwandlung Ziel und Sinn gibt. Diese Kontinuität kann nicht durch ein Festhalten an Vergangenem oder Vergänglichem hergestellt werden, sondern durch die bewusste Richtung unseres Fortschreitens, in der, aus dem organischen Zusammenhang mit Vergangenem, ein Verständnis des Gegenwärtigen und eine sinnvolle Gestaltung des Zukünftigen erwächst. Die Wiedergeburtslehre des Buddhismus — gleichgültig, ob es gelingt, sie wissenschaftlich oder experimentell zu beweisen (obwohl viele Erfahrungstatsachen dafür sprechen) — ist darum von höchster Bedeutung, denn sie spannt das Individuum in jene größeren Lebenszusammenhänge, die seiner Existenz Sinn und Weite geben. Die einzige Kontinuität aber, die alle Lebensformen überbrückt und alle ihre Erfahrungsinhalte zu einem organischen Ganzen verwebt, ist jenes universelle Bewusstsein (âlaya-vijnâna), das wie ein Ozean alle individuellen Strömungen umfasst und trägt.
S.100ff.
Aus: Die Antwort der Religionen, Eine Umfrage mit 31 Fragen von Gerhard Szczesny bei »Glaubensfachleuten« der großen Bekenntnisge-meinschaften Judentum, Katholizismus, Protestantismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH , Reinsbek bei Hamburg 1971
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Claudia Szczesny-Friedmann, München

Das Göttliche im Buddhismus
Oberflächliche Beobachter glauben auf das Paradox hinweisen zu können, dass der Buddha, der die Menschheit vom Glauben an die Macht der Götter oder eines willkürlichen Schöpfergottes befreien wollte, im späteren Buddhismus selbst vergottet wurde. Sie begreifen nicht, dass der Buddha, dem Verehrung gezollt wird, nicht die historische Persönlichkeit des Menschen Siddhârtha Gautama ist, sondern die göttlichen Qualitäten, die in jedem Wesen schlummern und die in Gautama wie in unzähligen anderen Buddhas zum Ausdruck kamen, Man stoße sich nicht an dem Ausdruck «göttlich». Selbst der Buddha der Pali-Texte verschmähte es nicht, die Ausübung höchster Qualitäten (wie Liebe, Mitleid, Mitfreude, Gleichmut) im Zustande der Meditation als ein «Verweilen in Gott» oder «im göttlichen Zu-stand» (brahmavihâra) zu bezeichnen.

Es ist also nicht der Mensch
Gautama, der zum Gott erhoben wurde, sondern das «Göttliche», das als Verwirklichungsmöglichkeit des Menschen erkannt wurde. Es wurde hierdurch nicht «weniger», sondern «mehr», denn es wurde vom Abstrakten zum Lebendigen, vom nur Geglaubten zum Erlebten; es war also kein Herabstieg sondern ein Aufstieg, nämlich von der Ebene geringerer zur Ebene größerer Wirklichkeit.

Darum stellen die Buddhas und Bodhisattvas nicht nur
«Personifizierungen» abstrakter Prinzipien dar — so wie Götter meist personifizierte Naturkräfte sind, oder der Primitiv-Gläubige sich abstrakte Ideen nur anthropomorph vorstellen kann — sondern sie sind die Prototypen der im Menschtum verwirklichten und wieder und wieder zu verwirklichenden Zustände höchster Erkenntnis, höchster Weisheit und vollkommenster Harmonie. Gleichgültig, ob diese Buddhas als zeitlich nacheinander erscheinende, — historisch-konkrete Wesen — (wie in der Pali-Tradition) aufgefasst werden oder als zeitlose Urbilder des menschlichen Bewußssseins, die im Zustande der Meditation (dhyâna) geschaut und darum Dhyâni-Buddhas genannt werden: sie sind nicht Allegorien «jenseitiger» Vollkommenheiten oder wirklichkeitsferne, abstrakte Ideale, sondern die sichtbaren Symbole und Erlebnisformen geistiger Ganzwerdung in menschlicher Gestalt. Denn Weisheit wird nur dann für uns zur Wirklichkeit, wenn sie im Leben verwirklicht, in menschlicher Daseinsform lebendig wird.

Govinda: Grundlagen tibetanischer Mystik