Helmut Gollwitzer (1908 – 1993)

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Christus ist Titel für Jesus von Nazareth

Die Botschaft von Christus geht, wenn wir die zweitausend Jahre seit ihrem Entstehen überblicken, scheinbar schutzlos durch die Welt, jedem Mißverständnis und Mißbrauch ausgesetzt, ausgenützt zu den übelsten Zwecken, so kräftig aber, daß sie nicht totzukriegen ist, wie oft auch immer totgesagt, und daß sie die schlimmsten Verkrustungen und Entstellungen immer wieder durchbricht. Je orthodoxer christlich, desto mehr ist sie permanenter Protest gegen ihre Gleichschaltungen mit den großen Gesellschaftssystemen; bei christlichen Randgruppen, die von der offiziellen Christenheit als ketzerisch verfolgt wurden, ist sie oft besser gehört worden als in den Großorganisationen; sie ist aber ketzerisch auch gegen viele Ketzereien, die sie ebenso sehr mit hinzugefügten Erfindungen vermischt haben wie die Großkirchen.

Läßt sich kurz sagen, was sie ist, mit Anspruch auf objektive Richtigkeit, wo doch, wie gesagt, Subjektivität nicht ausschaltbar ist? Zwei Worte, Urworte des Christentums, dürften dafür die entscheidenden sein: Christus und Evangelium.

Christus ist Titel für Jesus von Nazareth, für einen historischen Menschen also, und zwar einen jüdischen Menschen, der in einem bestimmten Dort und Damals der Geschichte seine Lebenszeit gehabt hat. Christus ist griechische Übersetzung des hebräischen Titels Messias (der Gesalbte), aber streng singularisch gemeint: nicht irgendein Gesalbter; alle anderen Gesalbten (Priester und Könige in Israel) sind zu verstehen auf diesen einen hin. Das Passivum »gesalbt« deutet im hebräischen Sprachgebrauch, der von Gott aus Ehrfurcht lieber nur indirekt redete, auf Gott als den Salbenden, also Sendenden, Beauftragenden und Ausrüstenden hin. Der Messias ist eine Figur der jüdischen Enderwartung: eine menschliche Person, die, von Gott zum Endkönig eingesetzt, eine entscheidende Rolle in der Erfüllungszeit der Geschichte spielt, wenn Israels Leiden, Sünde und Knechtschaff ein Ende hat und die Gerechtigkeit Gottes zum Heil aller Völker die Herrschaft ergreift. Wird der Titel nun auf Jesus von Nazareth angewendet, dann soll er sagen: dieser Mensch hat wie kein anderer bleibende, entscheidende und endgültige Bedeutung für die ganze Menschheit zu allen Zeiten. Christliches Denken hat sein Thema in dem Versuch, anzugeben, was eine solche unerhörte und einzigartige, sonst nie für einen Menschen gewagte Aussage bedeutet und impliziert, und worin sie ihre Notwendigkeit und also ihre Begründung hat. Seine Aufgabe ist, bei diesen Angaben die extreme Höhe der neutestamentlichen Aussagen zu verstehen und nicht hinter ihnen zurückzubleiben.

Von der Weitergabe der Information über diesen Jesus als den Christus wird überall, wo sie in der Botenfunktion (und also nicht bloß als historische Wissensinformation über einen gewesenen Menschen) geschieht, zweierlei gesagt, was nicht weniger außerordentlich ist als die Prädikation Jesu als des Christus:
a) In dieser Kunde von Jesus durch seine Jünger, durch die christlichen Gemeinden geschehe sein eigenes lebendiges Weitersprechen und Weiterwirken, quer hindurch auch durch die mit dem Weitergeben verbundenen Defekte im Verständnis; durch Mißbrauch und Mißverständnis hindurch werde seine eigene Stimme die Hörer erreichen; menschliches Sprechen von ihm werde er als Medium benützen, um selbst zu den Hörern zu sprechen und sie zu seinen Jüngern zu berufen, wie er es zu seiner Erdenzeit tat.
b) Diese Botschaft von ihm, durch deren Vermittlung er selbst — nicht unvermittelt, aber er selbst, unmittelbar — zu den Hörern spreche, sei schlechthin Frohbotschaft, Euangelion, eine Botschaft, die die Situation der Hörer, wie sie auch bisher gewesen sein möge, so gründlich verändert, daß diese nun aufatmen, lachen, hoffen, Zuversicht fassen, selig sein, sich freuen können, wozu sie denn auch unablässig aufgefordert werden. Dieses Zweite ist für unseren Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit. Man kann dieses eu in dem Worte Evangelium nicht genug bedenken. Es ist in dieser Radikalität in keiner anderen Botschaft, in keiner Religion und Philosophie gewagt worden. Es ist das Charakteristische an der authentischen christlichen Botschaft. Sie ist lustig machende Glücksbotschaft. Wo sie so weitergegeben wird, daß sie Angst erweckt und vermehrt, mit Drohungen verbunden ist, an Leistungsbedingungen geknüpft wird (und sei es die Bedingung, den Glauben zu leisten!), da ist Evangelium in Gesetz verwandelt, da ist es den übrigen Botschaften, die wir erfinden und für die wir agitieren, angeglichen. Dieses eu ist so unfasslich bedingungslos und zusichernd, dass es allen Negationen, allen dagegen sprechenden Erfahrungen, die doch Legion sind, widerspricht, auch von keiner Zeit, keinem Tod, von nichts Gegenwärtigem und nichts Zukünftigem durchkreuzt, widerlegt und außer Kraft gesetzt werden zu können behauptet. Es lädt ein zur Wette Pascals: sich darauf zu verlassen, damit sein Leben und Sterben zu wagen und abzuwarten, ob man in Zeit und Ewigkeit damit enttäuscht werden wird, zusichernd und wettend, daß dies nicht geschehen werde. Durch die Radikalität dieses eu wird die christliche Verwendung des Wortes »Gott« definiert: Pflegt man mit diesem Worte ursprünglich alles Übermenschlich-Staunenerregende und Freudemachende zu bezeichnen (so Karl Kerényi), und dann (monotheistisch singularisiert) diejenige Instanz, die alles begründet und über alles letztgültig entscheidet, dann sagt die Rede von Jesus Christus als eine Evangeliumsrede den Hörern: Ihr habt schlechthin und endgültig und auf ewig Grund, nicht traurig, sondern fröhlich zu sein, nicht zu weinen, sondern zu lachen. Christliches Denken hat zum Thema den Versuch, anzugeben, was es bedeutet, daß die Botschaft von Jesus als dem Christus als eine solche konkurrenzlose Wohltat für alle Menschen ausgerufen wird, was das impliziert, und worin das seine Notwendigkeit und also seine Begründung hat. Es hat die Aufgabe, mit seinen Angaben die extreme Plerophorie und Gewissheit der neutestamentlichen Aussagen zu verstehen und im Weitergeben nicht hinter ihnen zurückzubleiben.

Aus: Helmut Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang (S. 197-200), 5. Auflage 1972
© 1970 Chr. Kaiser Verlag München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Gütersloher Verlaghauses