Nikolaj Wassiljewitsch Gogol (1809 – 1852)

  Russischer Schriftsteller, dessen Mitleidsethik in seiner Erzählung »Der Mantel« eine wichtige Rolle in der Entwicklung der russischen Literatur (natürliche Schule) spielt. Tief religiös, war Gogol von der Idee des Dienstes am Nächsten erfüllt. Ein weiteres Leitmotiv war bei ihm die fortdauernde und unmittelbare Gegenwart des Teufels. In seinem Briefwechsel mit Freunden scheute er nicht die direkte Predigt christlicher Ideale.

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Inhaltsverzeichnis

  Der Christ schreitet vorwärts
Die Weisheit klagt draußen
   

Der Christ schreitet vorwärts
Mein Freund! Halte dich nicht für mehr als für einen Lehrling und für einen Schüler. Glaube nicht, dass du schon zu alt bist, um noch zu lernen, dass deine Kräfte und Fähigkeiten schon die rechte Reife und den höchsten Grad der Entwicklung erreicht, und dass dein Charakter und deine Seele schon ihre rechte Gestalt angenommen haben und nicht mehr besser werden können. Für einen Christen gibt es keine vollendete Lehrzeit, er bleibt ein ewiger Lehrling, ein Schüler bis zum Grabe.

Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge erreicht der Mensch seine höchste Verstandesreife mit dreißig Jahren. Zwischen dem dreißigsten und dem vierzigsten Jahre geht es mit seinen Kräften noch ein wenig aufwärts; jenseits dieser Altersgrenze aber gibt es kein Fortschreiten mehr und wird alles, was der Mensch produziert, nicht nur keineswegs besser, sondern sogar schwächer und kälter als das, was er früher hervorgebracht hat.

Dies gilt jedoch nicht für einen Christen, und wo für die andern die Grenze der Vollkommenheit liegt, da beginnt der Weg erst für den Christen. Die begabtesten und fähigsten Menschen werden, wenn sie das vierzigste Jahr überschritten haben, stumpf, müde und schwach.

Nimm alle Philosophen und die größten weltumspannenden Genies: ihre Blütezeit fällt in die Epoche ihrer besten Mannesjahre; von da ab beginnt ihr Geist bereits nachzulassen, und im Alter fallen sie sogar häufig in Kindheit zurück. Denke zum Beispiel an Kant, der während seiner letzten Jahre fast gänzlich das Gedächtnis verlor, ein Kind wurde und starb.

Vergleiche damit das Leben aller Heiligen, und du wirst sehen, dass sie an Verstand und Geisteskräften erstarkten, je gebrechlicher sie wurden, und je mehr sie sich dem Tode näherten. Selbst die unter ihnen, die von Natur keineswegs mit glänzenden Gaben ausgestattet waren und ihr ganzes Leben lang für einfältig und dumm galten, setzten die Menschen später durch die Weisheit ihrer Reden in Erstaunen.
Woher kommt das wohl? Weil sie sich jene vorwärtstreibende Kraft erhielten, die jeder andere Mensch nur während seiner Jugendjahre besitzt, wenn er von Heldentaten träumt, denen der Lohn des allgemeinen Beifalls winkt, wenn er noch in rosige Fernen blickt, die für den Jüngling so viel Verlockendes haben. Versinken aber diese Fernen erst einmal und mit ihnen die Heldentaten — so erlischt auch die Kraft, die ihn vorwärts treibt.

Vor dem Christen aber strahlt ewig eine lockende Ferne, und ihm stehen stets unvergängliche Heldentaten bevor. Wie ein Jüngling sehnt er sich nach den Kämpfen des Lebens; ihm fehlt es nie an einem Feind, gegen den er zu streiten und anzukämpfen hätte, weil sein in sich zurückgewandter Blick, der immer an Schärfe und Klarheit zunimmt, ihm in seinem Innern stets neue Gebrechen und Fehler entdeckt, die ihn zu neuen Kämpfen aufrufen.

Daher können auch seine Kräfte nie ganz einschlummern und schwächer werden, sie werden vielmehr unaufhörlich geweckt, und der Wunsch, besser zu sein und sich den himmlischen Beifall zu verdienen, ist ihm ein solcher Ansporn, wie ihn nicht einmal der ehrgeizigste Mensch in seiner unersättlichen Ehrfurcht besitzt. Das ist der Grund, weswegen der
Christ noch weiter fortschreitet, wenn die andern Menschen bereits Rückschritte machen, und warum er immer klüger wird, je weiter er fortschreitet. S. 291-293
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich

Die Weisheit klagt draußen
Indem wir andere belehren, lernen wir selbst.

Während dieser schweren Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu unterhalten, wie ich ihn bisher noch nicht geführt habe. Und wie mit Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahestehen, eine Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich, wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und Hilfe von mir. Jetzt erst erkannte ich, welch nahe Verwandtschaft die Seelen der Menschen miteinander verbindet. Man muss nur selbst ernsthaft gelitten haben, um jeden Leidenden zu verstehen und um beinahe sicher zu sein, was man ihm zu sagen hat.

Aber mehr noch: auch unser Verstand wird klarer; die Lage der Menschen und ihre Berufstätigkeit, in die man bisher keinen Einblick hatte, werden einem plötzlich deutlich und verständlich, und es wird einem klar, wessen ein jeglicher bedarf. Während der letzten Zeit kam es sogar vor, dass ich Briefe von Menschen erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und dass ich ihnen Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können.

Und dabei bin ich doch gewiss nicht klüger als irgendein anderer Mensch. Ich kenne Menschen, die weit klüger und gebildeter sind, und die sehr viel nützlichere Ratschläge erteilen könnten als ich, aber sie tun es dennoch nicht und wissen nicht einmal, wie man so etwas macht.

Gott ist groß, und er ist es, der uns die Weisheit schenkt. Wodurch aber macht er uns weise? Durch dasselbe Leiden, dem wir zu entfliehen suchen, und vor dem wir uns verbergen. Es ist unsere Bestimmung, dass wir uns durch Kummer und Leiden ein Körnchen von jener Weisheit erwerben sollen, die wir aus keinem Buche zu lernen vermögen. Wer sich jedoch bereits ein solches Körnchen erworben hat, der hat schon nicht mehr das Recht, es vor den anderen zu verbergen und geheimzuhalten. Es ist nicht mehr unser, sondern Gottes. Gott hat es in dir hervorgebracht; und alle Gaben Gottes werden uns deshalb verliehen, damit wir mit ihrer Hilfe unseren Mitbrüdern dienen können. Er hat geboten, dass wir einander fortwährend belehren sollen.

Nun denn, so ruhe nicht und stehe anderen mit Rat und Belehrung zur Seite. Wenn du jedoch willst, dass das auch dir zugleich von Nutzen sei, so tue so, wie ich es für das Richtige halte, und wie ich es mir von nun ab für immer zum Gebot meines Handelns gemacht habe. Jeden Ratschlag und jede Belehrung, die du jemand erteilst, sei es selbst einem Menschen, der auf der niedrigsten Bildungsstufe steht und mit dem du nichts gemein haben kannst, richte zugleich an dich selbst, und was du dem andern geraten hast, das rate dir selbst; was du an einem andern zu tadeln fandest, das mache dir sogleich auch selbst zum Vorwurf.

Glaube mir, alles wird auch auf dich passen, und ich weiß nicht einmal, ob es einen Fehler gibt, den man sich nicht selbst vorzuwerfen hätte, wenn man nur tiefer in sich selbst hineinblickt. Deine Waffe sei zweischneidig. Selbst wenn du dich einmal über einen Menschen ärgerst und ihm zürnst, so zürne zugleich dir selbst, wenn auch nur deswegen, weil du einem andern zürnen konntest. Tue das unter allen Umständen! Lasse dich selbst nie aus den Augen! In dieser Beziehung musst du Egoist sein. Der Egoismus ist gar keine so hässliche Eigenschaft. Die Menschen hät¬ten ihm bloß keine so schlimme Deutung geben sollen. Und doch liegt dem Egoismus eine große Wahrheit zugrunde.
Kümmere dich vor allem um dich selbst und dann erst um die andern; suche zuerst selbst besser und reineren Herzens zu werden, und dann erst sorge dafür, dass die andern besser und reiner werden.
S. 336- 338
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich