Ziya Gökalp (1876 – 1924)

  Türkischer Denker, Dichter und Gelehrter, der 1910 bis 1912 Mitglied des jung-türkischen Nationalkomitees war und als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der jüngeren Türkei gilt. Gökalp, der tiefreligiös war, wird wohl nicht zu Unrecht als das geistige Haupt des modernen Türkentums bezeichnet. Er ist ein gefühlstiefer Dichter, der mit der französischen Philosophie und Soziologie wohl vertraut war. Seine Gedichte enthalten mystische Züge. Ziya ist es 1912 gelungen, das Komitee für »Einheit und Fortschritt« und damit auch die damalige türkische Regierung zu überzeugen, dass die Türkei nur durch ein neues, aus dem tiefsten Geiste des Türkentums geborenes und sich in gleicher Weise auf Familie, Wirtschaft, Recht, Politik, Philosophie, Moral und Ästhetik erstreckendes Leben aus der Misere geführt werden kann. Damit ist er — und darin beruht seine bleibende geschichtliche Bedeutung — zum eigentlichen Schöpfer des türkischen Nationalismus geworden, der nicht nur auf einer politischen, sondern vor allem auch auf einer allgemein-kulturellen Bewegung beruht. Auf religiösem Gebiet ist er ein wichtiger Vertreter des Reformislam: Bekämpfung der Irreligiosität der Massen; Belebung der Sittlichkeit; Umgestaltung des Islams von einer Gesetzes- zu einer Gesinnungsreligion; Verwerfung des geschichtlich gewordenen Islams und Betonung der ausschließlichen Autorität des Ur-Islams; Schaffung einer beständigen, von der jeweils herrschenden Sitte geregelten Erneuerung der Scheriat (des heiligen Gesetzes); Aufhebung der alten sozialen und politischen Stellung der Religion, mit dem Ziele der Trennung von Staat und Kirche, das sind seine wichtigsten Forderungen.

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Inhaltsverzeichnis
Religion
Bekenntnis der Einheit Gottes
Zwei mystische Hymnen auf Gott
Die Hausfrau
Glaube

Religion
Meine Religion ist weder Hoffnung noch Furcht;
Ich bete meinen Gott an, weil ich ihn liebe!
Um Paradies oder Hölle unbekümmert
Tue ich meine Pflicht.

Sprich, Prediger, nicht davon, daß der Hölle Feuer
Tausend und aber tausend Zentnern Holz entsprüht!
Verkündige vielmehr, daß es eine Schönheitssonne gibt,
Geboren aus dem Feuer unserer Liebe!

Verkündige, daß ein Baum, »Tuba« geheißen, grünt,
Der seine Wurzel im Himmel und sein Gezweig in den Herzen hat!
Meine Seele aß sieh satt an seiner Frucht:
Ihr Saft ist lauter Liebe und Güte.

Die Liebe erläutere mir, Prediger!
Was Satan oder Engel sei, ficht mich nicht an.
Der Heiligen geheimste Seelenkräfte lege dar:
Wer der Liebende und wer der Geliebte und was die Liebe sei!

Locke mich nicht mit dem Versprechen des Paradieses:
Das Paradies ist mein Herz, denn es ist das Land der Liebe!
Und schrecke mich nicht mit der Hölle Qual:
Mein Herz kennt keine Furcht, es ist verzückt!

Bekenntnis der Einheit Gottes (Nach der Auffassung der sozialen Mystik)
Unser Gott ist ein Gott,
Einen andern Hort haben wir nicht,
Zwei anzubeten ist Sünde,
La ilaha illa-llah!

Es kann im Heimatlande nicht mehrere Seelen,
Es kann nickt mehr als ein Gewissen geben,
Eine Geliebte neben andern ist ein Unding,
La ilaha illa-llah!

Der Leiber sind viele,
Der Herzen ist nur eins;
Einzelne gibt es nicht, nur die Gesellschaft gibt es!
La ilaha illa-llah!

Es erhebt sieh, wenn die Geister eins sind,
Vor dem Herzen der Vorhang;
Ein Auge erscheint, darin!
La ilaha illa-llah!

Ein Auge, das Gott ist,
Das die Nation und das Vaterland ist,
Das Sitte, Gemeinwille und Koran ist!
La ilaha illa-llah!
Muhammedun resulu-lah!

Zwei mystische Hymnen auf Gott (Ilahis)
Mein Herz leidet Not
Wie eine an einem Wintertage verhungernde Nachtigall.
Meine Seele ist krank: Du bist ihre Arznei,
Rette mich von meinen Leiden , mein Gott!

Ich bin (Dir) weder fern noch nah.
Verschüchtert und verwirrt bin ich.
Ich kann mich nicht (von Dir) trennen, zu sehr bin ich (an Dich) gewöhnt.
Laß uns einander wieder liebhaben, mein Gott!

Ich sah (Dich) nicht. Du blickst her,
Wirst ein Licht und ergießt Dich in mein Herz.
Wenn ich brenne, dann bist Du es, der mich in Flammen setzt.
Aber das Teuer, das in Flammen setzt, brennt auch selbst, mein Gott!

Der Asket fühlt Deine (schreckenvolle) Majestät,
Der Heilige erfaßt Deine (huldvolle) Schönheit.
Mich verlangt nach der Vereinigung mit Dir:
Ich kam zu Dir, mein geliebter Gott!

Überliefere mich nicht dem Nichts!
Wirf mich, wenn Du willst, in die Hölle!
Denn in Deiner Hölle fehlt es nicht ganz an Licht:
Mich verlangt nach Deinem Anblicke mein Gott!

Ich bin ein Pfeil, dem der Bogen fehlt.
Ich bin auf der Erde, mein Mond ist am Himmel.
Gib mir Fittiche, daß ich mich emporschwinge!
Fittich bist Du, großer Gott!

Mein Herz ist die Nacht, Du bist eine Sonne,
Von Dir empfängt es Feuer im Winter;
In der Einsamkeit bist Du ihm Genosse,
Freude bist Du (ihm), großer Gott!

Der Liebende weint um der Geliebten willen,
Der Soldat stirbt um des Vaterlandes willen,
Man studiert um der Bildung willen,
Gemeint bist Du, großer Gott!

Du bist der Schatz der Armen,
Du bist die Mutter der Waisen,
Du bist ein Busen der Güte,
Hilfe bist Du, großer Gott!

Zu meinen Seiten gähnt ein Abgrund:
Dein Pfad ist mein Weg.
Halte mich an der Hand, ich falle!
Der Pfad bist Du, großer Gott!

Aus meiner Liebe (zu Dir) stammt meine Pein,
Bestraft hast Du mich nicht.
Meine Seele (mit ihren sündigen Trieben) hat den Kampf gegen mich eröffnet.
Waffe bist Du, großer Gott!

Du hast meinem Herzen Augen
Und dem Antlitz Sprache verliehen.
Gib auch Leben, da Du das Ich gegeben!
Leben bist Du, großer Gott!

»Flieh und komm!« hast Du gesagt. Bei der Wache
Vermochte ich nicht vorbeizukommen, Posten stehen überall.
Beseitige den Weg, der uns trennt!
Rettung bist Du, großer Gott!

Die Hausfrau.
Mein Haus ist ein Paradies;
Ich bin seine Huri
Meines Herdes Glück-
Bringende Peri bin ich.

Allabendlich veranstalte ich
In meinem Hause ein Festessen.
Mein Mann kommt von seiner Arbeit,
Meine Kinder aus der Schule .

In einem Zimmer mit Brokatmarmorsäulen,
In dem sich aus Hunderten von. Lampen,
Die an seinem Smaragdgewölbe verteilt sind,
Grüne Lichter ergießen,

Einem Zimmer voll von Blumen,
Versammelt uns unser Tisch.
Ein Gotteshaus ist dieses Zimmer,
Und uns‘re Liebe zu einander ist unser Gebet.

Glaube
Mein Glaube ist nicht Hoffnung und nicht Bangen.
Aus Liebe bete ich zu meinem Gott!
Nicht Höllenfurcht, nicht Paradiesverlangen
Fühl‘ ich in mir: nichts als das Pflichtgebot.

Du, Priester, schweig‘ von Höllenfeuers Qual,
Das tausend, tausend Scheiten Holz entsprüht:
Sprich lieber von der Schönheitssonne Strahl,
Die uns‘rer Liebe wundervoll entglüht!

Vom Tubabaum, der seine Wurzeln hat
Im Himmel hoch, im Herzen sein Gezweig.
Ich aß von seiner Frucht und wurde satt:
Von Lieb‘ und Güte ist sie honigreich.

Du, Priester, lege uns die Liebe dar;
Was Satan sei, was Engel — einerlei!
Sprich von den Wonnen der erwählten Schar,
Von Liebenden und was die Liebe. sei!

Verlock‘ mich nicht mit Edens Herrlichkeit:
Mein Sinn ist heilig, der Begier entrückt!
Schreck‘ mich nicht mit der Hölle Furchtbarkeit.
Mein Herz weiß nichts von Angst: es ist verzückt!
S.377ff.
Aus: Textbuch zur Religionsgeschichte. Herausgegeben von D. Edv. Lehmann und D. Hans Haas, A. Deichertsche Verlagsbuchhandlung