Gertrud die Große von Helfta (1256 – 1302)

  Deutsche Nonne, Mystikerin und asketische Schriftstellerin, die bereits im Alter von fünf Jahren ins Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben kam, wo sie von der Äbtissin Gertrud von Hackeborn ausgebildet wurde. Als Sechsundzwanzigjährige widerfuhr ihr eine Vision, in der sie Jesus zur Nachfolge berief. In der Folgezeit vertiefte sich ihre mystische Christusbeziehung durch weitere visionäre Erlebnisse. Gertrud war hochgebildet und künstlerisch talentiert. Den Beinamen »die Große« erhielt sie, weil sie als eine der größten deutschen Mystikerinnen angesehen wird.
Seit 1678 Heilige (Tag: 16.11.)

Siehe Wikipedia und Heiligenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Berufungsvision
Die wunderbare Wirkung des göttlichen Lichtes
Von der Lieblichkeit der Einwohnung des Herrn
Von der göttlichen Einströmung

Berufungsvision
Der Abgrund der unerschöpflichen Weisheit ruft den Abgrund der bewundernswürdigen Allmacht [nach Ps. 42,8], sie rühmen die wunderbare Güte, aus der seine überströmende Barmherzigkeit in das tiefe Tal meines Elends geflossen ist.

Es war am 27. Januar, dem Montag vor dem Fest der Reinigung deiner allerreinsten Mutter Maria, in meinem 26. Lebensjahr. Die Dämmerung brach herein, denn es war die begehrte Stunde nach der Komplet.

Du Wahrheit, du Gott, der du leuchtender bist als jedes Licht, tiefer als jedes Geheimnis, du hattest beschlossen, die Nacht meiner Finsternis zu erhellen. Du begannst einschmeichelnd und sanft. Du hast den Sturm gestillt, den du im Monat vorher — es war zu Beginn der Adventszeit — in meinem Herzen erregt hattest. Heute glaube ich, du wolltest mit dieser Verwirrung meine bisherige Beschäftigung — ich hatte mit dem Einsatz aller Kräfte studiert, war mehr als wißbegierig, und meine geistige Überheblichkeit glich fast einem Turm zu Babel —, du wolltest sie zu dem führen, was sie in Wahrheit war: nichts. Ich habe also nutzlos das Ordensgewand getragen, mich sinnlos Nonne genannt. Du hast den Weg gefunden, mir dein Heil zu zeigen [Ps. 50,23].

Ich stand in jener Stunde im Schlafsaal und erhob gerade den Kopf wieder — gemäß der Ordensregel hatte ich eine ältere Schwester gegrüßt —, da sah ich an meiner Seite einen liebenswürdigen zartgliedrigen, etwa 16jährigen jungen Mann stehen von schöner Gestalt, wie er damals für meine äußeren Augen wünschenswert gewesen wäre und ihnen gefallen hätte. Mit strahlendem Gesicht und milden Worten sprach er zu mir: »Bald wird dein Heil kommen [Jes. 56,1]. Warum verzehrst du dich in Trauer? Hast du nicht einen Ratgeber, da der Schmerz dich verändert hat?« [Mich. 4,9; Responsorium des 2. Adventssonntages.] Während er so zu mir sprach, da war es mir, als sei ich im Chor, in jener Ecke, in der ich mehr mechanisch mein Gebet zu verrichten pflegte, und ich hörte die Worte: »Ich erlöse dich und ich werde dich retten, fürchte dich nicht [nach Ps. 7,2]«.

Während ich dies hörte, sah ich, wie seine zarte rechte Hand die meine nahm, wie um das Versprechen zu bekräftigen, und er fügte hinzu: »Mit meinen Feinden hast du die Erde geleckt [Ps. 72,2] und Honig unter Dornen geleckt. Kehre endlich zu mir zurück, und ich werde dich trunken machen durch den Strom meiner göttlichen Wonne«. [Ps. 36,9.]

Als er dies zu mir sagte, sah ich mich um. Ich bemerkte zwischen ihm und mir — ihm zur Rechten und mir zur Linken — einen unendlich langen Zaun. Auf den Spitzen dieses Zaunes war eine so dichte Masse von Dornen aufgehäuft, daß sich für mich nirgends ein Durchgang öffnete, durch den ich hätte zu dem jungen Mann zurückkehren können. Da stand ich zögernd, vor Sehnsucht brennend und fast vergehend. Plötzlich ergriff er mich ohne jede Schwierigkeit, erhob mich in die Höhe und stellte mich neben sich. In der Hand, aus der ich das Versprechen empfing, erkannte ich die heiligen Male der Wunden, wodurch die Handschriften aller ausgetilgt wurden [Kol. 2,14]. Ich lobe und preise deine weise Barmherzigkeit, und ich sage Dank, und ich bete an deine barmherzige Weisheit: Du, mein Schöpfer und Erlöser, hast so meinen widerspenstigen Nacken unter dein sanftes Joch [Mt. 11,30] gebeugt und du hast meiner Schwäche entsprechend einen angemessenen Trank des Heils bereitet.
S.134f.
Aus: Mystische Texte des Mittelalters. Ausgewählt und herausgegeben von Johanna Lanczkowski
Reclams Universalbibliothek Nr. 8456 . © 1988 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Die wunderbare Wirkung des göttlichen Lichtes
17 Eines Tages stand ich inmitten des Konvents [. . .]. Die Sonne schien hell, und ihre strahlende Kraft [Offb. 1,16] zog meine Gedanken an.

Da sagte ich mir in meiner Seele: »Wenn der Herr, der die Sonne geschaffen hat und dessen Herrlichkeit Sonne und Mond preisen [Offizium der heiligen Agnes], der ein verzehrendes Feuer ist [Hebr. 12,29; Dtn. 4,24], so wahrhaftig mit mir wäre, wie er mir häufig erschienen ist, wie ist es dann möglich, daß ich so kaltherzig, gefühllos und falsch mit den Menschen umgehe?«

Plötzlich sprachst du zu mir, und deine Worte erschienen mir milder und hilfreicher als je zuvor, denn mein schwankendes, unruhiges Herz hatte deinen Zuspruch dringend nötig:

»Wie könnte meine Allmacht mehr hervorgehoben werden und wie könnte sie klarer erkannt werden, wenn ich nicht den Menschen so entgegenträte, wie es nach Ort, Zeit und Person und nach der Fassungskraft ihres Herzens am geeignetsten und besten ist?
Denn seit der Erschaffung des Himmels und der Erde und bei dem gesamten Werke der Erlösung habe ich immer mehr die Weisheit der Güte als die Macht der Majestät walten lassen. Ich ertrage die Unvollkommenheit so lange, bis ich sie durch ihren eigenen freien Willen zur Vollendung führe; und durch dieses Ertragen erstrahlt die Güte meiner Weisheit am hellsten.«
[...]

21 In der Fastenzeit hast du mir abermals das Geschenk deiner erbarmenden Liebe gemacht, und es wäre zu unrecht, wenn ich das vergäße zu nennen. Es war am zweiten Fastensonntag; vor der Messe zur Prozession wurde das Responsorium gesungen: »Ich habe den Herrn gesehen von Angesicht zu Angesicht«, da wurde meine Seele durch das Licht deiner göttlichen Offenbarung mit einem wunderbaren, überirdischen Schimmer erhellt. Mir schien, als schmiege sich meinem Gesicht ein anderes an, so wie der heilige Bernhard es ausdrückt: »Nicht gestaltet sondern gestaltend, nicht die Augen des Körpers berührend, sondern das Antlitz der Seele erfreuend, gewinnend durch das Geschenk der Liebe, nicht durch äußere Schönheit.« [Bernhard von Clairvaux, Sermo XXXI, De cant. cant.]

In dieser beglückenden Schau schienen mir die Sonnen deiner Augen meinen Augen direkt gegenüber zu sein, und du, mein gütiger Gott, ergriffst nicht nur meine Seele, sondern auch mein Herz und alle meine Glieder.

Solange ich lebe, will ich dafür dir in Ergebenheit dienen. Die Rose grünt und blüht und duftet im Frühling, und sie erfreut viel mehr als im Winter, wenn sie längst verwelkt ist und man nur noch sagt, daß sie süß geduftet habe. Aber auch diese Erinnerung erweckt noch ein wenig Freude. Daher drängt es mich, zu deiner Verherrlichung, in Gleichnissen, so gut ich es vermag, aufzuzeigen, was meine Niedrigkeit in deiner beglückenden Schau empfand.

So soll der Leser, auch wenn er ähnliche oder größere Gnaden empfangen hat, durch die Erinnerung angeregt werden zu danken. Ich selbst will beim Wiedererinnern die Finsternis meiner Nachlässigkeit durch Danksagen erhellen wie durch einen von der Sonne blinkenden Spiegel.

Du schmiegtest dein geliebtes Antlitz, aus dem die Fülle aller Seligkeit strahlt, an mich Unwürdige, und ich fühlte, wie aus deinen göttlichen Augen unaussprechlich beseligendes Licht in meine Augen drang. Die wunderbare Wirkung dieses Lichtes ergriff alle meine Glieder, es drang bis ins innerste Mark; es schien mir Fleisch und Bein aufzulösen, und ich hatte die Empfindung, als sei mein Körper und meine Seele nichts als Licht, göttliches Licht. Dein göttliches Licht war das Glück meiner Seele.

[. . .] Hätte ich die Beredsamkeit aller Redner für alle Tage meines Lebens, so könnte ich dennoch niemals dieses beglückende Dich-Schauen wiedergeben, wenn nicht deine Gnade, mein Gott, du Heil meiner Seele, mich durch Erfahrung dazu befähigt hätte.

Denn die Kraft deines Auges übersteigt jene Schau, und hielte nicht deine göttliche Macht den Menschen zusammen, dem diese beseligende Schau gewährt wird, wahrlich, seine Seele könnte nicht länger in seinem Körper verweilen. Und ich weiß es sehr wohl, wie oft deine unerforschliche Allmacht und unendliche Liebe mir diese Schau und Umarmung und Kuß und andere Beweise der Liebe zuteil werden ließ. Ort und Zeit hast du, wie immer, der Schwachheit meiner Person angepaßt
. S. 160, 168f.
Aus: Mystische Texte des Mittelalters. Ausgewählt und herausgegeben von Johanna Lanczkowski
Reclams Universalbibliothek Nr. 8456 . © 1988 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Von der Lieblichkeit der Einwohnung des Herrn
Da du also an mir tatest und also meine Seele aufriefest, trat ich eines Tages, zwischen Ostern und Himmelfahrt, vor der Prime in den Hof, setzte mich an den Weiher und betrachtete die Lieblichkeit dieses Ortes, der mir wohlgefiel durch die Klarheit des vorüberfließenden Wassers, durch das Grünen der umstehenden Bäume, durch die Freiheit der umherfliegenden Vögel und sonderlich der Tauben, aber über allem durch die heimliche Ruhe des verborgenen Sitzes. Ich begann in der Seele zu bewegen, was ich diesen Dingen beifügen wollte, daß mir das Ergötzen dieses Sitzes vollkommen erscheine: dieses verlangte ich, daß der vertraute, liebende, schmiegsame und gesellige Freund gegenwärtig sei und meine Einsamkeit lindre. Da, o Urheber unschätzbarer Wonnen, mein Gott, der du, wie ich hoffe, den Anfang dieser Betrachtung gelenkt hast, da zogest du auch ihr Ende auf dich hin und flößtest mir dieses ein: Wenn ich in unversieglicher Dankbarkeit aus der Einströmung deiner Gnaden mich in dich zurückgieße gleich dem Wasser; wenn ich in der Übung der Tugenden wachse und im Grün der guten Werke blühe gleich den Bäumen; wenn ich von oben das Irdische überschauend dem Himmlischen in freiem Fluge zustrebe gleich der Taube, und mit diesen körperlichen Sinnen dem Getümmel der äußeren Dinge entfremdet, mit dem ganzen Geiste dir obliege — dann wird mein Herz dir eine Stätte geben, die köstlicher ist als alle Lieblichkeit.

Da ich an jenem Tage mein Gedenken in diese Dinge versenkt trug und am Abend vor dem Schlafe mit gebogenen Knien mich zum Gebete neigte, kam mir plötzlich diese Stelle in den Sinn: »Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen, und Wohnung bei ihm machen«. Da fühlte in mir mein erdhaftes Herz, daß du gegenwärtiglich angekommen warst.
S.144f.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt von Martin Buber, Diederichs DG 100

Von der göttlichen Einströmung
Da ich so Unzusammenhängendes zu schreiben meinte, daß ich meinem Gewissen darin nicht beizustimmen vermochte und daher diese Niederschrift bis zum Tage der Kreuzerhöhung verschoben, an eben diesem Tage aber unter der Messe mich anderen Dingen zuzuwenden beschlossen hatte, führte Gott meinen Geist durch diese Worte zurück: »Wisse fürwahr, du wirst niemals aus dem Kerker des Fleisches ausgehen, bis du auch diesen Heller, den du jetzt zurückhältst, bezahlt hast«. Und als ich in der Seele bewegte, daß ich alle Zuteilungen Gottes, wenn auch nicht durch die Schrift, so doch durch die Rede zum Heile der Nächsten bewahrt hatte, warf mir der Herr das Wort entgegen, das ich in der gleichen Nacht bei der Mette hatte vorlesen hören: »Hätte der Herr seine Lehre nur den Anwesenden gekündet, wäre nur Rede, nicht Schrift. Nun aber ist auch Schrift zum Heile der Vielen«. Und der Herr gab hinzu: »Ohne Widerspruch will ich ein gewisses Zeugnis meiner göttlichen Liebe haben in deiner Schrift für diese letzten Zeiten, in denen ich Vielen wohlzutun bestimme«.

Hierdurch belastet, begann ich in mir zu überdenken, wie schwer, ja unmöglich es für mich wäre, solchen Sinn oder solche Worte zu finden, mit denen das oft Gesagte ohne Anstoß dem menschlichen Geiste übergeben werden könnte. Der Herr, der wider solchen Kleinmut Hilfe spendet, schien einen überreichen Regen über meine Seele zu ergießen, unter dessen ungestümem Sturze ich geringes Menschlein, eine so junge und zarte Pflanze, gebeugt niedersank und nichts zu einem Nutzen einsaugen konnte, als einige gar schwere Worte, zu denen ich mit dem Verständnis der Sinne durchaus nicht hinanzureichen vermochte. Dadurch noch mehr beschwert, überlegte ich, was aus solchem kommen könne. Diese Last enthob mir deine gütige Liebe, mein Gott, mit der gewohnten Liebkosung und belebte meine Seele mit diesen Worten: »Weil die Überschwemmung dieser Fluten dir nicht frommt, werde ich dich nun an mein göttliches Herz lehnen und sanft und mild, allmählich, nach dem Maße deines Fassens das Wort in dich ergießen«. Dies allerwahrste Versprechen hast du gewißlich erfüllt, Herr mein Gott. Du hast vier Tage lang in der Frühe zur geeignetsten Stunde stets einen Teil der Rede mir so hell und hold eingeflößt, daß ich ohne alle Mühe, wie etwas, das ich viele Zeit im Gedächtnis gehalten hätte, das vordem nicht Gedachte schreiben konnte. Du tatest es aber mit dieser Mäßigung, daß ich, wenn ich einen zusammenhängenden Teil niedergeschrieben hatte, mit der Anstrengung aller meiner Sinne nicht ein Wort von dem zu finden vermochte, was mir am nächsten Tage so zuströmend und ohne alle Schwierigkeit bei der Hand war. So belehrtest und zügeltest du mein Ungestüm, wie die Schrift lehrt: niemand dürfe der Tätigkeit so sehr anhängen, daß er nicht der Betrachtung ergeben wäre. Du eifertest mein Heil an und gewährtest den Aufschub, auf daß ich mich Rahels süßer Umarmungen erfreue, aber auch Leas ruhmreiche Fruchtbarkeit nicht entbehre. Möge deine weise Liebe mir verleihen, beides zu deinem Wohlgefallen zu vollziehen.
S.145ff.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt von Martin Buber, Diederichs DG 100