Friedrich der Große (1712 – 1786)

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Jesus predigte eine gute Sittenlehre

Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß unsere heutigen Religionen ebensowenig der Christi wie der Irokesischen gleichen. Jesus war ein Jude, und wir verbrennen die Juden. Jesus predigte Duldung, und wir verfolgen. Jesus predigte eine gute Sittenlehre, und wir üben sie nicht aus. Jesus hat keine Lehrsätze aufgestellt, und die Konzile haben reichlich dafür gesorgt. Kurz, ein Christ des dritten Jahrhunderts ist einem Christen des ersten gar nicht mehr ähnlich. Jesus war eigentlich ein Essäer, er nahm die Moral der Essäer an, die viel von Zenos Moral enthält. Seine Religion war reiner Deismus und nun sehen Sie, wie wir sie aufgeputzt haben. Da dem so ist, verteidige ich, wenn ich die Sittenlehre Christi verteidige, eigentlich diejenige aller Philosophen. Aber alle Lehrsätze, die nicht von ihm herrühren, gebe ich Ihnen preis.

Als die Priester merkten, wie viel Macht ihnen ihr idealischer Kredit über die Gemüter der Völker gab, so gebrauchten sie die Religion zum Werkzeuge ihres Ehrgeizes. Hat aber ihre Politik eine Sache entstellt, die bei ihrer Einrichtung nicht schlecht war, so beweist das nichts anderes, als daß die christliche Religion das Schicksal aller menschlichen Dinge gehabt hat, die durch Mißbrauch entarten. Will man demnach sich über diese Religion ereifern, so muß man angeben, von welchen Zeiten man redet, und den Mißbrauch von der ursprünglichen Einrichtung unterscheiden. Aber ihre Lehrsätze mögen sein, wie sie wollen, das Volk hängt einmal an ihnen durch Gewohnheit, ebenso an gewissen äußerlichen Gebräuchen; wer diese mit Heftigkeit angreift, empört es.

Was muß man also tun? Die Moral erhalten und auch, was nötig ist, daran verbessern, die Männer in Staatsämtern, die Einfluß auf die Regierungen haben, aufklären, mit vollen Händen Hohn und Lächerlichkeit über den Aberglauben ausschütten, die Glaubenslehren verspotten, den falschen Eifer vertilgen und so die Gemüter zu einer allgemeinen Duldung hinführen. Was liegt dann noch daran, welchem Kultus das Volk anhängt? [...]
Aus: Friedrich der Große und die Philosophie, Texte und Dokumente
Mit einem einleitenden Essay herausgegeben von Bernhard Taureck Reclams Universalbibliothek Nr. 3772 (S. 75 aus einem Brief Friedrichs an d’Alembert 18.10.1770)
© 1986 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages