Samuel
Formstecher (1808 – 1889)
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Deutschjüdischer Philosoph und Rabbiner, der das Judentum in seinem Werk »Die Religion des Geistes« philosophisch zu begründen suchte. Formstecher ist von Schelling beeinflusst: Gottes schöpferische Kraft manifestiert sich (als Weltseele) einerseits in der Natur und andererseits im Geist. Demgemäß gibt es zwei Religionen: Die Religion der Natur (Heidentum) und die Religion des Geistes (Judentum), wobei letzteres identisch mit der höchsten Wahrheit ist. Siehe auch Wikipedia |
Die Religion des Geistes: Heidentum und Judentum
Der Geist gelangt vermöge der Vernunft zur Erkenntnis seines eigenen Inhalts;
er findet in sich ein Ideal für sein Universalleben, wodurch er sich als
das Selbstbewusstsein des Erdorganismus, somit auch der Natur, weiß,
und ein Ideal für sein Individualleben, durch welches er, der Natur sich
entgegensetzend, nur seine eigene Bestimmung erfasst. Das Wissen um das
Ideal und die Überzeugung, dass die Realität ihm nicht entspricht,
erzeugt im Geiste das Gefühl der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und
das Streben, dieses Ideal zu verwirklichen. Wenn dieses Wissen und dieses Streben,
das nur im Menschen, als dem Träger des Geistes, stattfinden kann, bei
einer ganzen Gesellschaft ein und dasselbe ist, so daß sie nur durch diese
zwei Manifestationen des Geistes erst eigentlich zur Gesellschaft herangebildet
und als solche geschaffen wird, und dieses demnach das einende Band bilden,
das die einzelnen Glieder derselben umschließt, so werden sie —
dieses Wissen und dieses Streben nämlich — Religion genannt.
Religion ist somit das einer ganzen Gesellschaft gemeinschaftliche Wissen um
ein Ideal und das Streben nach der Realisierung desselben. Die Religion darf
darum nicht zu einer zufälligen, vom Eudämonismus erfundenen Institution
des Geistes herabgewürdigt werden, vielmehr ist sie eine notwendige, mit
dem Geiste selbst gesetzte Erscheinung, weil ohne sie der Geist weder um seinen
Inhalt weiß noch zur Realisierung seines Ideals gelangen kann. Eine jede
Religion muss als solche auf einer historischen, relativ wahren Offenbarung
basieren, weil sie ohne diese Basis kein Ideal kennt und somit nicht Religion
genannt werden kann. Ist Religion das Wissen einer Menschengesellschaft, um
das Ideal und das Streben derselben zu realisieren, und ist der Inhalt des Geistes
ein zweifaches Ideal, so muss es auch, kann es aber
auch nicht mehr als zwei Religionen geben, nämlich eine Religion für
das Ideal des Universal- und eine für das des Individuallebens.
Erstere nennen wir Heidentum, letztere Judentum. Der Zeitpunkt, an welchem die
vorhistorische, absolut wahre Offenbarung als historische relativ wahre ins
Bewusstsein einer Menschengesellschaft eintritt, ist die Geburtsstunde
der Religion. Diese ist deshalb so alt, wie das Wissen um das Ideal und das
Streben, es zu realisieren, ist. Demnach war sie weit früher da, als der
Römer seinen Paganismus, der Deutsche sein Heidentum und der Hebräer
sein Judentum mit Namen belegte, da es aber vermöge des Inhalts des Geistes
objektiv nur zwei Religionen geben kann und da die Weltgeschichte als die eigentlichen
Repräsentanten derselben Judentum und Heidentum nennt, so können füglich
beide Namen auch für jene Periode gebraucht werden, in welcher sie zwar
noch nicht selbst existierten, aber doch das ihnen entsprechende Wesen schon
da war...
Das Heidentum hat einen Gott der Natur, das Judentum einen Gott des Geistes,
denn das Ideal des geistigen Individuallebens ist der Geist selbst in seiner
höchsten Vollkommenheit. Der Gott des Judentums hat es nicht nötig,
mühsam eine Hyle zum Kosmos zu bilden, vielmehr schafft er, als über
der Natur stehender Geist, die ganze Welt durch sein einfaches Wort aus einem
Nichts, und ohne Widerstand einer trägen Materie stellt er sie hin als
die höchste Vollkommenheit.
Der Gott des Judentums ist ein rein ethisches Wesen, er hat zwar die Natur sowie
den Geist erschaffen, er ist in beiden wesenhaft befindlich. Der Himmel
ist sein Thron, die Erde sein Fußschemel, kein Haus kann ihm erbaut werden,
weil seine Herrlichkeit die ganze Welt erfüllt. Sein Odem belebt das ganze
All, und ohne ihn muss es wieder in ein Nichts versinken. Dennoch ist er
zugleich ein extramundaner Geist, welcher nicht als bloße Weltseele der
Welt bedarf, um dazusein.
Ist die Natur ein Gegensatz vom Geiste, aber nicht ein Gegensatz von Gott, muss
vielmehr anerkannt werden, daß auch die Natur in
und durch Gott ist, so wird auch der Naturdienst nur als Gegensatz vom Geistesdienste,
aber dennoch als in und durch Gott seiend betrachtet werden müssen. Das Judentum musste dem Heidentum den blutigsten Krieg erklären, es
durfte mit demselben nach dem Willen seines Gottes kein Bündnis schließen,
weil es dann nicht rein in seinem Element geblieben wäre. Ließ es
aber dennoch von einer missverstandenen Liebe sich bewegen, mit demselben
sich auszusöhnen, so verfiel es selbst in den Naturdienst und ward sich
selbst feind. Judentum und Heidentum sind feindliche Pole
und können als solche sich niemals indifferenzieren, aber beide sind absolut
notwendige Erscheinungen in der Selbstentwicklung des menschlichen Geistes. S.340ff.
Aus: Jüdischer Glaube, Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden. Herausgegeben
von Wilhelm Jerusalem, Verlag Schibli-Doppler, Birsfelden-Basel