Auguste Forel (1848 – 1931)

   Schweizer Psychiater und Insektenforscher, der während seiner Erforschung der Hirnanatomie u. a. den Ursprung der Hörnerven entdeckte. Forel wird als »Vater der Schweizer Psychiatrie« bezeichnet, nicht zuletzt deshalb, weil er erreichte, dass die Psychiatrie als Pflichtfach ins Medizinstudium aufgenommen wurde. Er befasste sich mit Hypnose und verfasste 1889 ein wegweisendes Handbuch über den Hypnotismus. Er war ein Vorkämpfer der Abstinenzbewegung und gründete in den Jahren 1888/9 die Trinkerheilstätte Ellikon an der Thur. Forel forderte u. a. die völlige Gleichberechtigung der Geschlechter und die Anerkennung der weiblichen Hausarbeit als gleichwertig mit männlicher Berufsarbeit. Er forderte die Abschaffung der Todesstrafe und eine grundlegende Reform des Strafrechts, wobei er das Recht auf Strafe, in Frage stellte. Zudem lieferte er auf über 7272 Druckseiten wertvolle Beiträge zur Erforschung der Ameisen in der Schweiz, über die sich Charles Darwin anerkennend äußerte. Forel wurde Mitglied bei der Bahai-Religion, bei der er am ehesten seine eigene Religionsauffassung vertreten sah und gründete im Jahre 1922 eine Gruppe der Bahai in Lausanne.

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Zur Ethik der Zukunft.
Von Dr. med. phil. (h. c.) et jur. (h. c.) August Forel, vormaligem ordentlichen Professor an der Universität Zürich (zurzeit Yvorne).
Die Ethik der Zukunft muss eine Ethik des Diesseits werden im Gegensatz zur bisherigen sterilen konfessionellen Ethik des jenseitigen Lebens. Zwar hatten die Begründer der Hauptreligionen, Buddha, Brahma, Moses, Jesus Christus, Mohammed usw., sowie ihre Propheten hohe menschliche Ideale angestrebt und vielfach die höchste Ethik der Selbstaufopferung im Dienst der Nächstenliebe gepredigt. Dennoch ließen ihre Nachfolger und Priester stets ihre Lehren in eine starre dogmatische und autokratische konfessionelle Metaphysik ausarten, welche die Menschen durch Angst vor ewigen Strafen Gottes in einem konfabulierten [erfundenen] jenseitigen Leben in Fesseln hielten und heute noch halten. Somit wurde stets die Menschenliebe, d. h. das soziale Wohl der Menschen während des allein erkennbaren diesseitigen Lebens, in aufgezwungenen Dogmen über ein erhofftes jenseitiges Paradies im Gegensatz zur Hölle erdrosselt und dadurch unser irdisches Leben in eine wirkliche Hölle umgewandelt.

In der Tat schüren die konfessionellen Gegensätze überall den Hass und die Zwietracht, die schon fest genug in der erblichen Raubtiernatur des Menschen verankert sind (Antisemitismus, Verachtung der Giaurs von Seiten des Islams, Kreuzzüge usw.) Die kollektive Habgier der Staaten und die Selbstüberhebung aller Nationen (Panjapanismus, Alldeutschtum, Panamerikanismus, Panrussismus, Paulatinismus, Panbritismus) besorgen das Weitere. So entstehen aus gegenseitiger Angst Rüstungen und Kriege; so entstand auch der Weltkrieg mit seinen heuchlerischen Vorwänden auf allen Seiten.

Ohne von den Bahais etwas zu wissen, hatte ich vor etwa zwei Jahren einen Aufsatz über die »Wissenschaftliche Religion des sozialen Wohls« (Religion scientifique du Bien social) geschrieben, worin ich für die Ethik des Diesseits einer Einigung aller beherzten Menschen aufforderte, gleich welcher Konfession sie angehören möchten. Aber dazu brauchen wir die begeisterte Gemütsbewegung eines Glaubens, der »Berge zu versetzen« imstande ist. Dazu gehören auch begeisterte Wanderprediger (keine Priester), die mit zündender Rede in warmem Tone überall das Volk zugunsten des Weltfriedens und der diesseitigen Menschenliebe mindestens ebenso gut in Bewegung zu setzen vermögen, wie es die Prediger des Jenseits für Paradies und Hölle stets taten und noch tun. Der Internationale Orden für Ethik und Kultur (Lutz Hammerschlag, Freiburg i. Br., Bayernstr. 8; Otto Volkart, Jean Wagner 26 Avenue Montagibert, Lausanne), die ethischen Vereine überhaupt und die freireligiösen Gemeinden verfolgen solche Zwecke. Aber überall hat hier die affektive Wärme bisher gefehlt. Nicht die kalte Vernunft, sondern das warme Gemüt leitet den Menschen; es muss ihn aber zur Liebe und nicht zum Hass und zur Zwietracht leiten.

Nun erfuhr ich erst kürzlich, dass vor 70 Jahren Perser Baha‘ O‘ Ilah im Orient dasjenige mit großem Erfolg gepredigt und verwirklicht hat, was ich im Auge hatte: eine Vereinigung aller heutigen Religionen zur Tat für das soziale Wohl in diesseitiger Menschenliebe auf dem ganzen Erdball. Ich stehe nicht an, mich den Bahais anzuschließen, die eine kleine Gruppe in Karlsruhe besitzen, und freute mich, ihn einen Besuch abstatten zu können. Sie predigen keine Askese, dagegen betonen sie den Weltfrieden, die Frauenrechte und die Monogamie und stellen weder Priester noch Dogmen auf.

In den Jahren 1914/15 hatte ich eine kleine Schrift unter dem Titel »Die vereinigten Staaten der Erde« (Lausanne Peytrequin, rue Haklimand 18,) veröffentlicht, in der ich kurz die allgemeinen sozialen Umgestaltungen schilderte, die mir zur universellen Ethik notwendig erschienen. Noch heute stehe ich auf gleichem Boden.

1. Zur Ethik der Zukunft gehört in erster Linie die die finitive Abschaffung der Kriege zwischen den menschlichen Kollektivitäten durch Herstellung eines wirklichen Völkerbundes (Vereinigte Staaten der Erde) und nicht nur durch dessen Versailler Karikatur. Dazu gehört eine fest geordnete supranationale, von den Völkern direkt gewählte Körperschaft (Weltrat), die permanent sitzt, und der alle heutigen Staaten so untergeordnet werden, wie die Staaten der »United States« Amerikas ihrer gemeinsamen Kammer oder wie die schweizerischen Kantone dem Bunde. Nur so werden allmählich Kanonen, Kriegsschiffe, Unterseeboote in Altertumsmuseen zur Abschreckung unserer Nachkommen gesammelt werden können. Im Beginn müsste ein friedensfreundlicher General, wie z. B. General Pershing, das Kommando der supranationalen Armee führen. Die Einzelstaaten hätten sich mit einer Polizei zu begnügen, die, nur mit kurztragenden Waffen ausgerüstet, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten hätte.

Die modernen Kriege haben sich im Weltkriege selbst ad absurdum geführt, sie zerstören des Beste, wirtschaftlich und sozial, sie töten die besten Menschen und führen direkt zur Barbarei zurück; Sieger und Besiegte werden beide besiegt und zur »Katogenik« (Zuchtwahl der Schlechten) geführt. Die Menschheit braucht unbedingt einen Dauerfrieden.

2. Als weitere Grundlage der internationalen Ethik der Zukunft muss das Verbot der Erzeugung, des Importes und des Exportes aller alkoholischen Getränke gelten, wie es schon in den U. S. Amerikas, in Kanada; Finnland usw. gesetzlich besteht. Der Mensch wird durch solche Getränke zum Verbrecher, er wird träge, und die Rasse entartet. Die wissenschaftlichen Beweise hierfür stehen fest. Ich verweise auf v. Bunge, »Die Alkoholfrage«, und auf meine Broschüre »Die Trinksitten«. Das interessierte Alkoholkapital hält leider bei uns alle Tageszeitungen durch die Wirtschaften in seinen Klauen fest, so dass die Nachrichten über die vorzüglichen Erfolge des Verbotes in den Prohibitionsstaaten nur ganz entstellt durch die Presse zu uns gelangen.

3. Wirtschaftlich ist ein weiteres Gebot die Ausgleichung der Existenzmittel für alle Völker. Dazu ist Abschaffung der Zollgrenzen und der Truste, d. h. Gestattung des Freihandels, überall erforderlich.

4. Die Kolonien müssen nach und nach von der Vormundschaft und von der Ausbeutung befreit werden, die sie heute erleiden. Ihre Einwohner müssen gebildet und erzogen werden, soweit sie bildungsfähig sind. Deshalb sollten die Kolonien und ihre Produkte dem supranationalen Weltrat direkt unterstellt werden.

5. Zur menschlichen Ethik der Zukunft gehört ebenfalls die Ausbreitung des Frauenstimmrechtes in allen Staaten des Völkerbundes.

6. Schaffung einer internationalen Hilfssprache. Im Babelturm der zahllosen heutigen Sprachen und Dialekte kann sich niemand mehr helfen. Zum Glück haben soeben die in Brüssel tagenden Internationalen Assoziationen das Esperanto als internationale Hilfssprache dem Völkerbund vorgeschlagen. Diese Sprache bedarf nur noch einer kleiner Reform: der völligen Anpassung ihrer Buchstaben an das lateinische Alphabet; sonst ist sie vorzüglich und sehr rasch zu erlernen.

7.
Die Eugenik, d. h. die allmähliche Züchtung unserer Menschenrassen zu einer besseren Qualität, ist in einigen der U. S. Amerikas bereits in negativer Form durch Sterilisierung der geborenen Geisteskranken und Verbrecher durchgeführt worden. Aber sie muss noch in positiver Weise durch Vermehrung der Besten, erfolgen, wie ich es in meinen »Vereinigten Staaten der Erde« und in meiner »Sexuellen Frage« angedeutet habe.

8. Der heutige Militärdienst sollte durch einen obligatorischen Zivildienst aller Männer und Frauen, je nach ihren Fähigkeiten und Umständen, ersetzt werden. Also Friedensheer statt Kriegsheer. An sozialen Arbeiten aller Art wird es hier nicht fehlen, und ein solcher Zivildienst wird mächtig zur ethischen Erziehung der Jugend helfen.

9.
Gleiche Rechte aller Menschen beider Geschlechter auf eine Erziehung von Kindheit an je nach ihren individuellen Fähigkeiten und nicht nach Klassen und Vermögen der Eltern sind ein elementares Gebot der zukünftigen Ethik. Hier dürften uns die Schulreform der Landeserziehungsheime und der Ersatz von Gedächtnisprüfungen durch unpersönliche Prüfung der Fähigkeiten der Kinder (nach dem neuerdings vom Unterrichtsminister Glöckl in Österreich eingeführten System) als Muster dienen. Aber nicht nur die Volksschule, sondern auch die Gymnasien und Hochschulen bedürfen dringend einer totalen Reform im gleichen Sinne. Fort mit dem Kastengeist und mit dem alten Zopf; Freiheit für alle Schüler!

10. Zur menschlichen Ethik der Zukunft gehört auch der Sozialismus. Ethisch ist synonym mit sozial. Somit ist ein unethischer Sozialismus, der Alkohol trinkt, Krieg führt, Diktatur ausübt und mordet, nur eine klägliche Karikatur des Sozialismus, ein Aftersozialismus. Zur Sozialisierung des Besitzes können wir nicht plötzlich durch Blut und Eisen, sondern nur allmählich und im Bunde mit den obigen ethischen Reformen gelangen. Zuerst müssen überall sowohl die Konsum- wie die Produktionsgemeinschaften kräftig gefördert und entwickelt werden. Also zuerst Syndikalismus [zusammenfassende Bezeichnung für sozialrevolutionäre Bestrebungen mit dem Ziel der Übernahme der Produktionsmittel durch autonome Gewerkschaften].

11. In einem ethisch-sozial gewordenen, von der Geldherrschaft befreiten Staat muss systematisch das Familienerbrecht durch Staatserbrecht ersetzt werden.

12. Der sozialisierte Staat muss zu guter Alters-, Waisen-, Kranken-, u. dgl. Versicherung und –Versorgung verpflichtet sein.

13. Luxus, Tand, Geldspiele sind zu verbieten. Tier- und Menschenquälereien ohne wissenschaftliche Berechtigung müssen geahndet werden.

14. Die Weltreligion des sozialen Wohls muss mit der Wissenschaft in Einklang gebracht werden. Sie will alles menschlich Gute in den anderen Religionen in sich vereinigen und dennoch allen Andersgläubigen ihren Glauben unangetastet lassen, so dass in ihrer Mitte ein Christ (Katholik oder Protestant), ein Buddhist, ein Brahmane, ein Mohammedaner, ein Jude, ein Freidenker oder ein Monist sich alle heimisch fühlen in gemeinsamer Menschenliebe. Mit Hilfe der Weltreligion müssen alle Vorurteile bekämpft werden; sie bilden die Hauptquellen des Hasses zwischen den menschlichen Kollektivitäten. S. 17-21
Aus: Ethik der Zukunft, herausgegeben von Dr. Fritz Dehnow, Verlag von O. R. Reisland Leipzig 1922