Pawel Alexandrowitsch Florenskij (1882 – 1937)
Russischer Theologe, Philosoph und Mathematiker, der auch der »russische Pascal« genannt wird. Florenskij verstand sich als Wegbereiter einer ganzheitlichen Weltanschauung, die auf dem Gesetz der Entropie fußt. Die zeitlich beschränkte menschliche Individuation ist in seiner vom Idealismus geprägten Sichtweise im Grunde nur Illusion. Das Problem der Theodizee versuchte er in verschiedenen Schriften aus orthodoxer Sicht zu erhellen. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Der verlorene
Mensch
Die Sünde
ist das Moment der Disharmonie im des Zerfalles des geistigen
Lebens. Die Seele
verliert ihre substanzielle Einheit,
verliert das Bewusstsein ihrer schöpferischen Natur, verliert sich in dem chaotischen Wirbel ihrer eigenen Zustände, hört auf, deren Substanz
zu sein. Das Ich erstickt
in der »gedanklichen Sintflut« der
Leidenschaften.
Nicht umsonst ist das rätselhafte und verführerische Lächeln
aller Personen auf den Gemälden des Leonardo da Vinci,
welches den Skeptizismus,
den Abfall von Gott
und den Starrsinn des menschlichen »ich weiß« zum Ausdruck bringt, in Wahrheit ein Lächeln der Verlorenheit: sich selber
haben sie verloren, und das ist besonders anschaulich bei der »Gioconda«.
Eigentlich ist es ein Lächeln der Sünde, der Versuchung und der Verführung
— ein buhlerisches und verderbtes Lächeln, welches nichts
Positives ausdrückt (eben darin liegt seine Rätselhaftigkeit!),
es sei denn eine innere Bestürzung, einen innern Aufruhr des Geistes, aber
— auch eine Verstocktheit.
Ja, in der Sünde entgleitet die Seele sich selber, verliert sich selbst:
nicht umsonst charakterisiert die Sprache die letzte Stufe des Falles einer Frau als »Verlorensein«.
Es ist aber unzweifelhaft, dass es nicht nur »verlorene
Frauen«, d. h. solche, die in sich selbst, ihr gottähnliches
Schaffen des Lebens verloren haben, sondern auch »verlorene
Männer« gibt: überhaupt ist die sündhafte Seele — die verlorene
Seele, und zwar nicht nur für andere verloren, sondern auch für sich selbst, weil sie sich
nicht bewahrt hat. Und wenn die zeitgenössische Psychologie
immerfort wiederholt, dass sie keine Seele
kenne als Substanz,
so lässt das nur den sittlichen Zustand der Psychologen selbst in einem
sehr üblen Licht erscheinen, welche in ihrer Mehrzahl offenbar »verlorene
Männer« sind. Dann ist es allerdings so, dass nicht »ich
tue«, sondern »mit mir wird getan«,
nicht »ich lebe«, sondern »mit
mir geschieht«. S.219f.
Aus: Jakob Studer,
Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG.
Zürich
Der Sinn des Sakramentes
Die Sakramente der Religion
sind keine Geheimnisse, die man nicht ausposaunen
soll, keine konventionellen Parolen von Verschwörern, sondern unausdrückbare,
unaussagbare, unbeschreibbare Erlebnisse, welche in das Wort nicht anders eingehen
können als in Gestalt eines Widerspruches,
welche zugleich »Ja« und »Nein« sind. Daher kleidet sich die Verzückung der Seele,
wenn sie zum Kirchengesang wird, in die Hülle eines eigenartigen Spieles
mit Begriffen. Der ganze Kirchen-Gottesdienst, insbesondere die kirchlichen
Lobgesänge, sind erfüllt vom überschäumenden Scharfsinn antithetischer
Nebeneinanderstellungen und antinomischer
Behauptungen. Der Widerspruch! Er ist immer ein
Geheimnis der Seele — ein Geheimnis
des Gebetes und der Liebe.
Je mehr wir uns Gott nähern, umso deutlicher werden die Widersprüche. Dort, in dem himmlischen Jerusalem sind sie nicht. Hier aber — sind Widersprüche in allem, und sie werden weder durch soziale Einrichtungen, noch durch philosophische
Argumente beseitigt. Etwas Großes, längst Ersehntes und dennoch völlig
Unerwartetes — die große ungeahnte Freude — wird plötzlich
erscheinen, den ganzen Kreis des irdischen Daseins erfassen, ihn aufrütteln,
den Himmel wie eine Bücherrolle zusammendrehen, die Erde reinwaschen, neue
Kräfte geben, alles erneuern, alles verwandeln, das Einfachste und Alltäglichste
im blendenden Sonnenglanz der Schönheit zeigen. Dann wird es keine
Widersprüche geben und auch keinen
Verstand, der
sich mit ihnen abplagt. Aber jetzt: je heller die Wahrheit
des dreistrahlenden Lichtes leuchtet, welches von Christus offenbar wurde und sich in den Heiligen widerspiegelt — des Lichtes, in dem der Widerspruch
dieser Welt durch Liebe und Glorie überwunden
ist — um so schroffer treten die dunklen Spalten im Weltbau hervor, überall
sind Risse. S. 375f.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches
Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich