Marsilio Ficino (1433 – 1499)

Italienischer Arzt, Humanist und Philosoph, der eine Harmonisierung der christlichen Offenbarung mit der Philosophie Platons anstrebte. Für Ficino ist Platon Vertreter und Vollender einer uralten theologischen Tradition, die von Moses über Zarathustra bis zu Orpheus und Pythagoras reicht. Nach Ansicht Ficinos hat Christus nur das offenbart, was schon Platon und Plotin geschaut haben. Plotin ist für ihn ein ausgezeichneter Platon-Interpret. Mit seinen Kommentaren und Übersetzungen will Ficino in der platonische Philosophie eine alte göttliche Wahrheit zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückführen. Mit seinem Werk und der Gründung einer Platonischen Akademie in der Nähe von Florenz wertet er den Neuplatonismus auf.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis
Was ist Gott?
Die Seele ist die mittlere Stufe der Dinge . . . (Theologia Platonica Buch III, Kap. 2)
Über die Vereinigung des Geistes mit . . . (Theologia platonica Buch XI, Kap 2)
Keine körperliche Form hat eine unendliche Kraft (Theologia Platonica Buch VIII, Kap. 16)

Was ist Gott?
Mit Sicherheit ist Gott die klarste und gewisseste Wahrheit, die Quelle alles Wahren, wie es aus ihm im Geist, seinem Spiegel, zurückstrahlt. Auch ist er wahrste Klarheit der Klarheiten; wiederum ist er unendliche Güte, die, indem sie sich an sich selbst freut, sich an unzähligen Gütern freut; auch unermeßliche Freude, für sich selbst gut, die durch sich selbst bewirkt, daß anderes gut ist, an dem man sich freuen kann. S.129 [...]

Wo ... die Reinheit und Wirksamkeit der Form nicht im Geringsten begrenzt wird, dort strömt
das unendliche Licht, von dort breitet sich ein unermeßliches Licht aus.

Was in den Körpern Sichtbarkeit ist, das ist Klarsicht in den Geistern. Was wiederum in den Körpern sichtbares Licht ist, ist in den Geistern Schauen. Deshalb strahlen die Körper, die näher an den Geist herankommen, leichter und reichlicher zurück, und umgekehrt, was alleine strahlt, verbreitet geistige Qualität aus sich. Also wohnt im höchsten Geist höchstes Licht und Schauen. In ihm sind Klarheit und Schauen dasselbe. Ich sage nicht, daß Gott eine Fähigkeit zu Schauen ist, die des Aktes des Schauens bedürfte, auch nenne ich ihn wiederum nicht das, was Schauen genannt wird, damit er nicht als Aufstieg zu etwas anderem oder als Zusammengesetztes erscheint, sondern mit dem
Wort für den Akt nenne ich Gott die Schau, die aus sich existiert und durch keine andere Klarheit schaut als durch sich selbst. S137, 139 [...]

Daß das immense Licht der göttlichen Sonne unauslöschlich ist, bezweifelt niemand, der wahrnimmt, daß dessen schattenhaftes Abbild, das in der himmlischen Sonne leuchtet, niemals ausgelöscht ,, wird. Wenn aber im höchsten und reinsten Akt jedes Aktes keinerlei Leiden oder Privation ausgedacht werden kann, so auch in der niedrigsten Potenz kein Akt oder in der bloßen Privation keine Eigenschaft. Jenes überhimmlische Licht verteilt sich weithin entsprechend der jeweiligen Natur über alle Geister, die Überhimmlisches denken, wie über Sterne. Es bietet seine unauslöschliche Eigenschaft so weit an, wie man dadurch mit einem Licht der Vernunft unterscheiden kann, was nicht ausgelöscht werden kann, von dem, was ausgelöscht werden kann, und beweisen kann, warum das eine löschbar ist oder das andere unauslöschbar. Denn unter dem Begriff der unverlöschlichen Eigenschaft ist dieses Licht ausgeteilt worden, wo immer der Begriff einer unauslöschlichen Natur wahrgenommen wird. Und die oberste Quelle der Natur und jedes Lichtes wird mit einem natürlichen Durst eigentlich gesucht, geliebt und verehrt. S.153, 155
Aus: Collegia Philosophische Texte, Marsilio Ficino, Traktate zur Platonischen Philosophie (S. 129, 137, 139, 153, 155)
Übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Elisabeth Blum, Paul Richard Blum und Thomas Leinkauf
© 1993 by Akademie Verlag, Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Akademie Verlages, Berlin

Theologia Platonica Buch III, Kap. 2
Die Seele ist die mittlere Stufe der Dinge; sie verbindet alle Stufen, sowohl die höheren als auch die niederen, zu einem Ganzen, während sie selbst zu den höheren hinauf- und zu den niederen hinabsteigt
»Im übrigen - um zu unserem angestrebten Ziel zu kommen — wollen wir alles wiederum in fünf Stufen zusammenfassen, indem wir Gott und die Engel auf die höchste Stufe der Natur stellen, den Körper und die Qualität auf die unterste, die Seele aber in die Mitte zwischen die höchsten und die untersten; nach Art der Platoniker nennen wir sie verdientermaßen die dritte und mittlere Wesenheit, da sie ja zu allem die mittlere und beiderseits die dritte ist: Wenn du von Gott herabsteigst, wirst du sie auf der dritten Stufe finden, und ebenso wirst du sie auf der dritten Stufe antreffen, wenn du über den Körper hinaufsteigst.

Eine Wesenheit von solcher Art ist nach unserem Urteil in der Natur von größter Notwendigkeit. Da der Engel, wie die Platoniker sagen, wahres Sein besitzt — das heißt: er hat beständiges Sein —, die Quantität aber im Werden begriffen ist — das meint: sie befindet sich in Bewegung—, deshalb unterscheidet sich die Qualität gänzlich vom Engel: Sie ist bewegt, jener ist bleibend, sie ist werdend, jener ist stetig. Folglich bedarf es eines Mittleren, das zum Teil mit dem Engel, zum Teil mit der Qualität übereinkommt. Welches könnte dieses Mittlere sein? Ist es etwas, das innerlich beharrt? Nein. So etwas liegt außerhalb unserer Erfahrung. Denn was für eine geraume Zeit innerlich beharrt, was also aus sich selber oder aufgrund seines Zustandes nahezu beharrlich ist, das beharrt auch immer. Deshalb wird das Mittlere jenes sein, das immer und ständig sich in Bewegung befindet. Insofern es immer ist, kommt es mit dem Engel überein; insofern es sich bewegt, mit der Qualität. Daraus folgt, daß die dritte Wesenheit die Mitte von diesen sein muß,
eine Wesenheit, die ständig in Bewegung ist, lebt, und durch ihre Bewegung die Körper belebt. Zutreffend lehren die Platoniker, daß über dem, was zeitlich existiert, es etwas gibt, das durch alle Zeit hindurch Sein hat, und daß es über diesem wiederum etwas gibt, das ewig ist — und schließlich etwas, das über die Ewigkeit hinaus ist. Aber zwischen dem, was allein ewig ist, und jenem, was bloß zeitlich ist, liegt die Seele: sozusagen das Band, das beide verbindet: Ihr sind diesbezüglich die wichtigsten Regionen des Weltkörpers gewissermaßen ähnlich. Es gibt auch Denker, die den empyräischen Himmel — weil nahezu unbeweglich — ewig nennen, die übrigen Sphären ewig und zeitlich zugleich, alles Zusammengesetzte schließlich nur zeitlich; dementsprechend versetzen sie die reinen Intelligenzen auf die erste Stufe, die animalischen auf die zweite, die körperlichen Seelen endlich auf die dritte.

Um aber zu unserem Thema zurückzukommen: Jedes Werk, das aus mehreren Teilen besteht, ist dann in höchstem Maß vollkommen, wenn es aus seinen Gliedern so zusammengefügt ist, daß es in jeder Hinsicht zu einem Ganzen wird, das aus sich besteht, mit sich in Einklang steht und so leicht nicht aufgelöst werden kann. Das beweist die körperliche Natur im flüssigen Zusammenspiel der vier Elemente: Wo Erde und Feuer weit auseinanderliegen, werden sie durch Luft und Wasser miteinander verbunden. Erst recht ist im Universum als dem Werk Gottes eine Verknüpfung der Teile anzunehmen, weil nur auf diese Weise das Werk des einen Gottes auch ein Ganzes sein kann. In der Natur sind Gott und der einzelne Körper Gegensätze, voneinander höchst verschieden. Der Engel verbindet sie nicht: Er richtet sich ganz auf Gott, ohne sich um die Körper zu kümmern. Die vollkommenste und Gott am nächsten stehende Kreatur lebt rechtens ganz aus dem Überstieg zu Gott. Die Qualität verbindet die beiden Extreme auch nicht: Sie neigt sich zum Körperlichen hin, verläßt die höheren, unkörperlichen Regionen und wird selber zum Körper. So weit ist alles gegensätzlich: Das Obere und das Untere flieht sich gegenseitig, da es der verknüpfenden Verbindung entbehrt. Aber diese dritte Wesenheit, die in die Mitte gestellt ist, zeigt sich von der Art, Höheres festzuhalten, Unteres nicht verlassen sowie Höheres und Unteres vermitteln zu können. Sie ist nämlich unbeweglich und doch in Bewegung: Durch das eine kommt sie mit den höheren Wesen überein, durch das andere mit den niederen. Indem sie mit beiden übereinkommt, strebt sie auf beide zu: Aus einem gleichsam natürlichen Instinkt steigt sie zu den höheren Regionen auf und zu den niederen hinab. Aber während sie aufsteigt, verläßt sie die unteren Regionen nicht, und während sie hinabsteigt, verläßt sie keineswegs die oberen. Täte sie dies, dann neigte sie zu einem der Gegensätze hin und bliebe nicht länger die wahre Verknüpfung der Welt. In der Tat tut die Seele das gleiche wie die Luft als Mittleres zwischen Feuer und Wasser: sie kommt mit dem Feuer in der Wärme, mit dem Wasser in der Feuchtigkeit überein; einerseits wird sie mit dem Feuer warm, andererseits wird sie mit dem Wasser feucht. In einem Fall verdünnt sie sich und wird klar wie das Feuer, im anderen wird sie schwer wie Wasser. Sie tut überhaupt das gleiche wie das Sonnenlicht: Dieses steigt nämlich von der Sonne herab in das Feuer und erfüllt es, ohne dabei die Sonne zu verlassen: Es bleibt immer mit der Sonne verbunden und erfüllt dabei immer auch den Feuerschein. Das Licht erfüllt zwar die Luft, wird aber von schlechter Luft nicht verdorben. In ähnlicher Weise muß die dritte Wesenheit zugleich am Göttlichen hängen und das Sterbliche erfüllen. Während sie am Göttlichen hängt, weil sie mit diesem auf geistige Weise geeint ist, erkennt sie das Göttliche, denn die geistige Vereinung mit dem Göttlichen erzeugt dessen Kenntnis; während sie die Körperwelt ausfüllt, sie von innen heraus bewegend, belebt sie diese. Sie ist also ein Spiegel des Göttlichen, das Leben des Sterblichen und die Verknüpfung von beidem.

Aber auf welche Weise verbindet sich die Seele mit den Körpern? Berührt sie vielleicht einen einzelnen Punkt des Körpers und heißt sie auf diese Art >mit dem Körper vereint<? Keinesfalls. Sie würde sich nämlich nur mit diesem Punkt vereinen, nicht aber mit dem ganzen Körper, und sie könnte nicht den ganzen Körper mit Leben erfüllen, sondern es würde nur der eine Punkt leben — der ganze Körper würde des Lebens entbehren. Besser noch: Wenn sie in einem einzigen Punkt zusammengedrängt wäre, bliebe sie lediglich mit sich selber vereint — sie wäre dasselbe wie ein Engel, der doch von allem Körperlichen weit entfernt ist, und sie würde auf diese Weise zwar am Göttlichen hängen, die Körperwelt aber verlassen. Also vereinigt sie sich natürlich nicht mir einem einzelnen Körperpunkt, sondern mit vielen: So kann sie alle Teile des Körpers erfüllen. Indes: Erfüllt sie diese so wie das Weiße den weißen Körper und wie ganz allgemein eine Qualität die ihr zugeordnete Materie? Durchaus nicht. Sonst wäre sie nämlich dasselbe wie die Qualität und würde, nachdem sie das Göttliche verlassen hat, sich ganz und gar zum Körper hinabwenden. Das Weiße ist derart ganz im weißen Fleisch, daß es sich mit ihm in viele Teile ausdehnt und auch mit ihm teilbar wird. Die Physiker sagen: ein Teil des Weißen ist in einem Teil des weißen Fleisches, ein größerer in einem größeren, ein kleinerer in einem kleineren. Auf diese Weise wird das Weiße körperlich. Dasselbe müßte augenscheinlich für jene Wesenheit gelten, die wir für die dritte halten, wenn sie ebenso wie eine Qualität in den Körper ausgegossen wäre und so zum anderen Gegensatz in der Natur hingezogen würde: Auch so würde sie aufhören, Verknüpfung der Welt zu sein. Wenn sie in den Körper eingeht, wird sie deshalb als ganze in den einzelnen Teilen des Körpers anwesend sein; weder trennt sie sich von ihm, noch teilt sie sich in irgendwelche Teile, um in den auseinanderliegenden Teilen des Körpers zu existieren. Sie tritt nämlich mit dem Körper in Berührung nicht durch eine Ausdehnung ihrer Quantität, sondern durch ihre unteilbare Kraft. Folglich bleibt sie ganz und einfach, folglich wird sie den Körperteilen ganz und ungeteilt gegenwärtig — gleichsam wie das Wort >Haus< ganz und vermöge seiner Bedeutungskraft auch die einzelnen Teile eines Hauses meint, wenn es als ganzes gehört wird und man weiß, daß es sich auf die einzelnen Teile des Hauses bezieht. So ist es keineswegs unmöglich, daß diese Wesenheit — unteilbar und in sich selber seiend — als ganze gegenwärtig wird in der Masse des Körpers. Sogar im Gegenteil: Weil sie unteilbar ist und nicht in einem Ort lokalisiert, deshalb vermag sie als ganze alles örtlich Bestimmte ganz zu durchdringen und zu umfassen. Quantitative Ausdehnung, wo immer sie anzutreffen ist, steht solcher Kraft und solchem Gegenwärtigsein derart entgegen, daß ein ausgedehntes Ding, gerade wegen seiner Ausdehnung, gar nicht ganz und gleichzeitig in mehrerem sein kann. Ja, sogar ein Ding, das zwar unteilbar, aber dennoch an körperliche Quantität geheftet ist, kann in seiner Gänze nicht gleichzeitig in den Teilen eines Körpers sein - wie der Punkt, der auf einer Linie deren Grenzen markiert.
Der Punkt, der irgendwo auf einer Kreislinie eingetragen ist und der sich nicht auf allen möglichen anderen Linien wiederfindet, erstreckt sich nicht durch alles Lineare und Kreislinige. Jener Punkt indes, der Kreismittelpunkt ist und deshalb sich in keiner linearen Erstreckung wiederfindet, befindet sich sozusagen in allen Linien, die von der Mitte zur Peripherie führen. Und während kein Punkt, der auf der Peripherie markiert ist, sich in gleicher Weise auf den ganzen Kreis bezieht, steht hingegen der Kreismittelpunkt, der nicht Zentrum einer besonderen Kreislinie ist, in bezug zum »Kreis überhaupt« — auf ihn >blickt er herum<. Eine Sache also, die teilbar ist, kann folglich nicht gleichzeitig ganz in mehrerem sein; nicht einmal eine Sache vermag das, die — obwohl selber unteilbar — in einer anderen teilbaren Sache ihren festen Ort hat. Jene dritte Wesenheit jedoch ist weder ausgedehnt — sonst wäre sie Qualität —, noch liegt sie irgendwo in der Ausdehnung — sonst könnte sie sich nicht frei und aus sich selber bewegen, weil sie eben nicht durch sich selbst bestünde. Deshalb ist sie einem Punkt vergleichbar, der sein Leben in sich selber hat: von jeder Quantität und Lage gänzlich abgelöst. Sie umgibt daher gleichmäßig jede körperliche Lage, und wenn sie in den Körper eindringt, wird sie nicht auf irgendeinen körperlichen Quantitätspunkt eingeschränkt — eben weil sie nicht der bestimmte Ausgangspunkt einer quantitativen Erstreckung ist. Da sie außerhalb der Gattung der Quantität angesiedelt ist, wird sie nicht nach Maßgabe eines zu berührenden Quantitätspunktes abgegrenzt; sie ist vielmehr wie ein Mittelpunkt in allen Linien und im ganzen Kreis. Daraus ergibt sich, daß sie teilbar und unteilbar ist, und zwar gleichzeitig. Teilbar ist sie, insofern sie auch bei der quantitativen Teilung eines Körpers ihren lebensbewahrenden Schatten mitausbreitet, indem sie sich den verschiedenen Teilen des Körpers mitteilt; unteilbar ist sie, insofern sie gleichzeitig ihre Gänze und Einfachheit bewahrt. Teilbar ist sie, so möchte ich sagen, weil ihr Schatten auf dem ganzen teilbaren Körper ruht; unteilbar, weil sie auf unteilbare Weise ganz in jedem Teil des Körpers ist. Wiederum unteilbar, weil sie von unzerstörbarer und geeinter Substanz ist; teilbar, weil sie sich wirkend vielfach teilt, insofern sie in Zeit und Bewegung tätig ist. Zum dritten ist sie unteilbar, weil sie zu Höherem emporblickt, das völlig geeint ist — teilbar aber, weil sie zum Niederen sich hinneigt, das auf vielfache Weise zerteilt wird.

Eine solche Natur ist in der Weltordnung augenscheinlich von größter Notwendigkeit, um nach Gott und dem Engel — die weder zeitlich noch dimensional teilbar sind — und über den Körpern und Qualitäten — die nach Zeit und Dimension sich in Teilbarkeit verlieren — jene vermittelnde Mitte abzugeben, die zwar in gewisser Weise sich in zeitlicher Teilung erstreckt, nicht aber der Dimension nach geteilt ist. Zudem: Weder bleibt sie in ihrer Natur gesammelt — wie jene , noch wird sie in Teile zerstückelt — wie diese —, sondern sie ist in gleicher Weise teilbar und unteilbar. Das ist eben jene Wesenheit, die — wie Platon und Timaeus Locrus (im Buch über die Welt) gesagt haben — aus einer unteilbar—teilbaren Natur besteht. Sie mischt sich mit den Sterblichen, ohne selber sterblich zu werden; und wie sie sich derart unversehrt mischt, ohne sich zu zerstreuen, so zieht sie sich unversehrt zurück, ohne Zerstreuung zu erleiden. Weil sie am Göttlichen hängt, während sie über die Körper herrscht, ist sie die Herrin der Körper, nicht ihre Begleiterin. Das ist das größte Wunder in der Natur. Alles übrige unter Gott ist jeweils ein einzelnes für sich: Sie ist alles zugleich. Sie trägt in sich die Abbilder des Göttlichen, von dem sie selber abhängig ist, aber auch die gedanklichen Gründe und die Urbilder der niederen Wesen, die sie in gewisser Weise auch selber hervorbringt. Und weil sie die Mitte von allem ist, besitzt sie auch die Kräfte von allem. So beschaffen, geht sie über in alles. Und weil sie selbst die wahre Verknüpfung von allem ist, verläßt sie nicht das eine, während sie in anderes übergeht; vielmehr tritt sie in einzelnes über und bewahrt dabei immer das Gesamte — so daß sie mit Recht der Mittelpunkt der Natur genannt werden mag, die Mitte von allem, die Kette, die die Welt zusammenhält, das Antlitz von allem, der Verknüpfungspunkt und das verknüpfende Band der Welt.

Wie ich meine, haben wir damit genügend klargemacht, wie die Natur dieser dritten Wesenheit beschaffen ist. Daß aber sie selber recht eigentlich der Sitz der vernünftigen Seele ist, das erkennt man am leichtesten an der Definition der vernünftigen Seele: >Leben, sowohl im diskursiven Gedanken erkennend als auch zeitlich den Körper belebend.< Eben das ist die Struktur, die diese Wesenheit bedingt. Sie lebt nämlich, erkennt, und gewährt dem Körper Leben. Daß sie lebt, ist offensichtlich, da wir sagen, jene Wesen auf der Erde haben Leben, die sich aufgrund ihrer inneren Kraft in jede Richtung bewegen können: nach oben und nach unten, vorwärts und rückwärts, nach rechts und nach links. So bewegen sich Pflanzen und Tiere. Wo folglich eine innere und allgemeine Bewegungskraft ist, da ist Leben. Ich möchte das so ausdrücken: Leben gibt es da, wo es eine innere Bewegungskraft gibt. Eine solche Lebenskraft ist insbesondere dort zu finden, wo die Quelle alles Tätigseins liegt, und der erste Ursprung der Bewegung. Bewegung ist dort in höchstem Grade innerlich und allgemein, wo sie erste Bewegung ist. Erste Bewegung ist aber in unserer dritten Wesenheit gelegen. Hier also ist auch Leben, ein Leben, möchte ich sagen, aus dessen Teilhabe die Körper leben und sich bewegen. Es ist nämlich ein Leben, das den Körpern naturgemäß ganz nahe ist. Deshalb ist die dritte Wesenheit ein Leben, das die Körper belebt. Sie hat aber auch Vernunftcharakter. Denn wenn irgendwo eine Bewegung vollkommen ist, dann sicherlich dort, wo sie erste Bewegung ist. Keine Vollkommenheit geht auf nachfolgende Bewegungen über, wenn sie nicht von einer ersten Bewegung ausgeht. Aus diesem Grund ist die Bewegung in der dritten Wesenheit die vollkommenste aller Bewegungen. Die vollkommenste Bewegung aber entfernt sich von ihrer Quelle so wenig wie möglich, sie bleibt ihrem Grund so sehr wie nur möglich verbunden; sie ist einheitlich, gleichförmig und höchstrangig, sie genügt sich selber, sie bildet eine unüberbietbare Figur nach. Eine solche unüberbietbare Figur ist die Kreisbewegung, die - wie jeder weiß - auch als einzige aller Bewegungen immerwährend ist. Andere Bewegungen erreichen nämlich eine Grenze, über die hinweg sie nicht fortschreiten können, insofern kein Raum unbegrenzt ist. Aber wie die Kreisbewegung sich als solche einmal wiederholen kann, so zweimal und dreimal und auch viermal, immer im gleichein Sinn; Anfang und Ende sind in ihr dasselbe. Wo sie also zu enden scheint, da beginnt sie. Dieser immerwährende Kreis ist die Bewegungsfigur der dritten Wesenheit: Durch ihre Bewegung kehrt sie, sich kreisförmig reflektierend, zu sich selber zurück. Wenn sie sich aus sich heraus bewegt, dann — so darf man mit Recht sagen — bewegt sie sich aber auch in sich selber, so daß ihre Bewegung gewissermaßen endet, wo sie überhaupt erst beginnt, da ja die Ursache der Bewegung um ihrer selbst willen die Bewegung erzeugt. Aus sich selbst die Bewegung setzend, kehrt als jene Wesenheit kraft immerwährender Bewegung zu sich selber zurück, dabei entfaltet sie ihre Kräfte vom Höchsten über das Mittlere bis zum Niedersten, um sodann wiederum das Niederste über das Mittlere an das Höchste zurückzubinden. Wenn das aber so ist, dann nimmt sie sich auch selber wahr – sich und das, was sie in Besitz nimmt. Wenn sie sich aber wahrnimmt, dann erkennt sie sich mit Sicherheit sich selber. Sie erkennt sich jedoch in einem Akt vernünftige Begreifens – indem sie sich nämlich ihr geistiges Wesen zu Bewußtsein bringt und damit ihr völliges Lostgelöstsein von den Schranken der Materie. Solche Erkenntnis nämlich heißt vernünftiges Begreifen. An uns selber sehen wir in der Tat, daß Erkenntnis nichts anderes ist als der Akt einer geistigen Vereinigung mit einer geistigen Form. Der Gesichtssinn sieht, wenn er durch seinen Geist mit dem geistigen der Farben verbunden wird. Verbunden aber mit der Materie, erkennt er nichts — was ganz handgreiflich wird, wenn jemand einen massiven Körper vor seine Augen rückt. Auch unser Geist begreift aus geistiger Kraft die Dinge, aus einer Kraft, die sich mit Vernunftgründen und mit den unkörperlichen Versichtbarungsgestalten der sichtbaren Dinge vereint. Diese Erkenntnis ist ähnlich jener der dritten Wesenheit, die geistig ist, die entdeckt, daß sie sich mit sich selber eint, und die sieh erkennt und begreift, indem sie auf geistige Weise sich selber wahrnimmt. Sie begreift sogar das Göttliche, dem sie auf geistige Weise so eng wie möglich anhängen möchte, und darüber hinaus das Körperliche, zu dem sie sich hinneigt von Natur aus. Ich sage: Sie erkennt in diskursiver Weise zeitlich, da sie in ihrer Handlungsweise beweglich ist.

Aus all dem ergibt sich folgende Definition der dritten Wesenheit:
>Leben, das kraft seiner Natur die Körper belebt.< Die dritte Wesenheit erkennt sowohl sich selbst als auch Göttliches und Natürliches diskursiv. Wer aber nicht sieht, daß dies auch die Definition der vernünftigen Seele ist, der entbehrt selber der vernünftigen Seele. Darum hat die vernünftige Seele ihren Sitz in der dritten Wesenheit, nimmt sie den mittleren Platz in der Natur ein und verknüpft sie alles zu einem«.

Theologia platonica Buch XI, Kap 2
Über die Vereinigung des Geistes mit von den Dingen abgelösten Sichtgestalten und mit ewigen Verstandesbegriffen
»Kein Epikuräer möge uns hier mit dem Einwand kommen, das Licht der Sonne werde vom Auge aufgenommen, das Auge gehe zugrunde, das Sonnenlicht aber bleibe unversehrt, und ähnlich sei es mit jener universalen, das heißt auf allgemein gültige Weise bezeichnenden Repräsentationsgestalt und mit dem ewigen Verstandesbegriff: Sie würden vom Intellekt empfangen, der Intellekt aber gehe irgendwann einmal zugrunde, während die Repräsentationsgestalt und der Verstandesbegriff dauere.

Wir antworten darauf: Das Sonnenlicht wird keineswegs vom Auge aufgenommen, es wird von ihm nicht einmal einen Augenblick lang festgehalten; wenn die Sonne untergegangen ist, geht der Gesichtssinn augenblicklich des Lichts verlustig. Wenn der Gesichtssinn auch nur einen kleinen Lichtstrahl aufgenommen hätte, würde er gewiß etwas von ihm über eine kleine Weile hinweg aufbewahren, so wie das Wasser eine Zeitlang die Wärme zurückhält, auch wenn das wärmende Feuer erloschen ist. Darum können wir bekräftigen: Das Licht ist den Augen gegenwärtig, aber weder ist es in den Augen noch wird es von ihnen aufgenommen. Man sagt zwar, der Geist nehme jene Repräsentationsgestalt und einen allgemeinen Verstandesbegriff vom Menschen und von anderen Dingen auf, und dies deshalb, weil er sie auch dann in seinem Gedächtnis festhält, wenn gar kein Mensch anwesend ist. Hinzu kommt, daß das Licht nicht von den Augen empfängt, Licht und sichtbar zu sein. Es ist vielmehr kraft eigener Natur Licht und sichtbar; hieraus rührt die Helle der Augen und die Tatsache, daß sie zu sehen vermögen. Jene allgemeine Versichtbarungsgestalt »Mensch« aber bezieht ihre Allgemeinheit nicht aus den einzelnen Menschen, in denen alles in der Weise der Einzelheit ist. Im Geist ist sie jedoch in der Weise der Allgemeinheit. Gerade daß sie in der Weise der Allgemeinheit ist, hat sie kraft des Geistes. Aber wie? In erster Linie so, wie Aristoteles es lehrt: Unser Geist ist im Besitz von zwei Kräften, einer tätigen und einer empfangenden. Die tätige Kraft ist jene, die die allgemeinen Repräsentationsfiguren hervorbringt, die empfangende jene andere, die die von der tätigen Kraft konzipierten Repräsentationsgestalten entgegennimmt. Wenn also die Phantasie das Bild eines bestimmten Menschen, beispielsweise des Sokrates, in sich selber als solches anschaut, dann trifft sofort das Licht der tätigen Geisteskraft auf dieses Bild — nicht anders als der Strahl der Sonne auf das Wasser. Und wie dieser Sonnenstrahl vom Wasser auf eine gegenüberliegende Wand zurückgeworfen wird, wo er einen glänzenden und zitternden Kreis hervorbringt, so erzeugt das Licht der tätigen Geisteskraft — auf das in der Phantasie geformte und in die empfangende Geisteskraft hineinreflektierte Bild eines einzelnen Menschen stoßend — in sich selber sozusagen eine Sichtgestalt, die nicht mehr diesen nach Ort und Zeit bestimmten Sokrates darstellt, sondern die den einzelnen Personen in gleicher Weise zukommende menschliche Natur, die aus den Grenzen von Ort und Zeit herausgelöst ist — wobei auch diese Sichtgestalt selber von allgemeinem Charakter ist, ebenso wie die durch sie dargestellte allgemeine Natur. Hier zeigt sich die bewundernswerte Kraft des Geistes.

Wenn dieser Geist also eine Darstellungsgestalt erzeugt, die von aller Stofflichkeit, Örtlichkeit und Zeitlichkeit losgelöst und somit in gewisser Weise ewig ist, und wenn er diese eigene Schöpfung, durch die hindurch er eine ähnliche Natur begreift, wiederum in sein eigenes Denken aufnimmt — warum sollte er dann nicht selber von Stoff, Ort und Zeit losgelöst und ewig dauernd sein? Schließlich sind die vereinzelten Dinge, die der Geist berührt, von Natur aus vereinzelt; indem der Geist sie berührt, vereinzelt er sich selber: Wenn er sie erkennt, ist er dort, wo sie selber sind: in der trennenden Vereinzelung; folglich ist auch er vereinzelt. Wenn aber die Dinge naturgemäß von den Fesseln des Stoffes, des Ortes und der Zeit festgehalten werden, der Geist sie jedoch aus eigener Kraft von diesen Banden befreit, dann wird er, um alles übrige befreien zu können, selber um so eher und um so mehr frei sein. Man beantworte mir also die Frage: Warum kann die Gestalt eines beliebigen Dinges mit dem sie erkennenden Intellekt nicht eins werden, bevor sie völlig von aller Stofflichkeit gelöst ist? Ist das nicht deshalb so, weil der Intellekt in vorrangiger Weise stofflos ist?

Wie aber aus dem Intellekt und jener Versichtbarungsgestalt eine Einheit entsteht, das lehrt uns der obige Vergleich mit dem Lichtstrahl und dem Wasser. Der vom Wasser reflektierte helle, zittrige Kreis kann mit der Wand, auf die er reflektiert wird, keine wirkliche Einheit bilden, denn die Natur des Lichtreflexes ist von jener der Wand höchst verschieden. Aber wenn der Lichtstrahl in einen Spiegel einfallen würde, würde er mit diesem auf engere Weise geeint. Wenn er schließlich in das Licht der Sonne zurückkehrte, dem er entstammt und das den glänzenden Kreis auch hervorgebracht hat, dann wird er sich mit dem Sonnenlicht zu einer Einheit zusammenschließen. Was ist jene geisterzeugte >species< der Peripatetiker anderes als gleichsam ein Lichtfunke, einerseits an dem Bild entfacht, das die Phantasie aus den einzelnen Dingen zusammengestellt hat, andererseits durch die tätige Kraft erzeugt, mit welcher der Geist jene Sichtgestalt hervorbringt? Was ist schließlich unser Geist anderes als der Lichtfunke eines höheren Geistes? Weil er das ist, darum wird jene Sichtgestalt unserem Geist ebenso eingegossen wie der an den Dingen entfachte Lichtfunke dem Lichtfunken des höheren Geistes geeint wird und wie jener reflektierte Kreis mit dem Sonnenlicht, durch dessen Strahl er erzeugt worden ist, eine Einheit eingeht. Aus diesem Grunde wird aus dem Geist und aus der Versichtbarungsgestalt eine Einheit, und zwar so wie aus zwei zusammenschlagenden Funken eine einzige Flamme oder wie aus den Strahlen zweier Kerzen ein einziges Licht oder wie aus jenem reflektierten Kreis und dem Sonnenlicht ein einziger Lichtglanz. Was aber durch die Versichtbarungsgestalt auf diese Weise dem ewig Dauernden geeint wird, wird ohne jeden Zweifel selber ewig; dies jedoch vor allem deshalb, weil der Intellekt im Akt seines Begreifens sich wohl nicht nur mit dem Ewigen vereinigt, das er begreift, sondern weil auch er selber ein derart ewig Dauerndes ist, das begriffen wird. Es ist nämlich derselbe Lichtstrahl, der von oben kommend auf das Wasser trifft, der im Wasser widerscheint und in die Luft zurückreflektiert wird, wo er — in sich selber aufleuchtend und Sichtkraft erlangend — sofort seinen eigenen Glanz erblicken wird, der vom Wasser abgestrahlt ist. Genauso mag er sich verhalten, wenn er von Gold oder Silber widergespiegelt wird. Er wird immer seinen eigenen Glanz erblicken, obgleich dieser auf jeweils verschiedene Weise gefärbt sein wird gemäß der Verschiedenheit der Gegenstände, die ihn zurückstrahlen.

Wenn wir ein möglichst eingängiges Bild für diese zwei Geisteskräfte und ihre Vereinigung suchen wollen, können wir das Auge der nach Mäusen jagenden Katze betrachten, in dem fast ebenso wie in unserem Geist — ebenfalls zwei Kräfte sind, nämlich eine kristallklare Helligkeit und der Funke des Blicks. Die erste ist empfangende Kraft, der zweite tätige Kraft. Der Blickfunke strahlt in die Nacht, er entzieht den von ihm getroffenen Körpern ein Bild von dieser oder jener Farbe und prägt dieses der aufnehmenden Helligkeit des Katzenauges ein, die mittels des Blickes den gesehenen Körper erspäht. Vielleicht nimmt er sogar weniger den erblickten Körper wahr als seinen eigenen Sichtstrahl, der ausgesandt und zurückgesendet wird und, zurückgeschickt, wieder in das Auge springt, jetzt aber gefärbt durch das Bild des gesehenen Körpers. Mag es auch so aussehen, als erblicke er bald diese, bald jene Farbe, so erspäht er gewissermaßen doch immer sich selber, wenngleich auf jeweils verschiedene Weise von jeweils verschiedenen Farben reflektiert. Was könnte daran hindern, zu sagen, daß jene tätige Geisteskraft, die der Sehstrahl unseres Geistes ist, in jeweils anderen Phantasiebildern jeweils anders gebrochen und nun auf sich selber zurückgewendet wird? Was hindert, zu sagen, daß er sich selbst sieht, auf jeweils verschiedene Weise bedingt durch die Verschiedenheit der Phantasiebilder? Die Versichtbarungsgestalt oder der Verstandesgrund, die wir als vom Stoff abgelöst und somit als ewig dauernd erkannt haben, ist eben nichts anderes als der Strahl des Intellekts in seiner Reflexion auf sich selbst, der jetzt mühelos sich selbst wahrnimmt, wenn er sich auf Bilder richtet — so wie ein Antlitz sich selbst nur dann erblickt, wenn es in einen Spiegel schaut, von dem es auf verschiedene Weise reflektiert wird, je nach der Verschiedenheit der Spiegel. Auf eben dieselbe Art und Weise wird auch der Erkenntnisstrahl des Geistes von den gesehenen Bildern — entsprechend deren Verschiedenheit jeweils verschieden — in den Geist zurückgelenkt.«

Theologia platonica Buch VIII, Kap. 16
Keine körperliche Form hat eine unendliche Kraft, wohl aber der Geist
Aus: Theologia platonica. In: Opera omnia. 2 Bde. Basel 1576. Thélologie platonicienne de l‘immortalité des âmes. Texte
»Unter den Physikern steht fest, daß eine Körperform — ganz besonders gilt das für die elementarische — so sehr begrenzt ist, daß sie auf keine Weise irgendeine unbegrenzte und nie ermüdende Kraft haben kann. Der Geist aber schweift ohne Grenze umher und ermüdet niemals. Er ist gleichsam prinzipiell in sich selber ohne Grenze: Er begreift nämlich sich selbst. Deshalb wird sein Denken, von der Substanz des Geistes ausgegangen, in dieselbe zurückgetragen. Rückkehr ist unendliche Bewegung. Zu keinem außenliegenden und äußerlich anzustrebenden Ziel nämlich bricht sie auf, nach dessen Erreichung sie ruht, sondern sie wandert um ihre eigene Substanz herum, in Sehnsucht nach sich selbst. Diese Sehnsucht nach sich selbst kommt aber niemals zum Erlöschen. Die Geistsubstanz also, die aufgrund ihrer Sehnsucht nach sich selbst einmal damit begonnen hat, sich selber gegenständlich zu werden und sich selber in ihrer Kreisbewegung von allen Seiten anzuschauen, umfaßt sich in ähnlicher Weise selbst kraft dieser sie stetig antreibenden Sehnsucht, beständig in ihrem Willen. Da kreisförmig, ist die Bewegung des Geistes reflexiv; insofern sie geistig ist, ist sie auch ewig. Denn wer entweder sich selbst oder etwas anderes begreift, kann auch sein Begreifen begreifen, ebenso eine neue Sache und ein neues Begreifen; denn während er eine Sache begreift, gewinnt er auch Einsicht in das Begreifen der Sache. Und: Was er so erkennt, steht seinem Denken offen und ist in ähnlicher Weise ohne Grenze.

Diesen Weg des Begreifens begleitet jenes Vernunftstreben, welches man Willen nennt. Dieser will gewiß sich selbst oder anderes; er will, daß er will, und er will, was er will - und er will das in ähnlicher Weise immer von neuem. Dieses Vernunftstreben teilt die Körper in viele Teile und in die Unterteilungen der Teile. Zahlen über Zahlen mehrt es ohne Grenze. Es findet unzählige Wechselbezüge zwischen Figuren, es findet ihre Proportionen und auch unzählige Relationen zwischen den Zahlen. Es kann von allen Seiten her eine Linie über den Himmel ziehen, über jegliche Grenzen hinaus. Es läßt die Zeit sich erstrecken in eine Vergangenheit ohne Anfang und in eine Zukunft ohne Ende. Es bedenkt nicht nur, jenseits aller zeitlichen Grenzen, noch Älteres und Entfernteres, sondern es erdenkt sich auch, jenseits aller örtlichen Begrenzung, immer noch größeren Raum. Es stellt sich auch in den einzelnen Qualitäten unzählige Abstufungen vor. Hinzukommt, daß der Geist sich nicht mit der Erkenntnis einer bestimmten Gattung von Dingen zufrieden gibt wie die bloße Wahrnehmung: nicht allein mit Farben wie der Gesichtssinn, nicht allein mit Geräuschen wie das Gehör. Vielmehr durchläuft der Geist alles — alles, sage ich, nicht nur was ist, sondern auch was war und was sein wird. Und nicht einmal nur dies: er durchläuft auch das,

was nicht ist, niemals war oder niemals sein wird. Vieles nämlich ersinnt er, was vielleicht sein könnte und dennoch niemals sein wird; ja, er erdenkt vieles, was vielleicht niemals sein kann. Gleichwohl scheint es in der Natur der Dinge nicht weniger zu geben, als der Geist sich — durch sich und in sich selber — ausmalt oder als er durch das Wort oder die schriftliche Kennzeichnung beschreibt. Der Geist erschafft sogar das Antlitz der Dinge immer wieder neu aus eigener Kraft und in bestimmter Ordnung, und wieder andere erfindet er aufs neue. Wenn er Schritt für Schritt aufsteigt durch die Sphären der Welt, betrachtet er dann nicht auch Schritt für Schritt die Engel, und zwar so, daß er sieht, wie ein jeder höher steht als ein anderer, aber niemals einen findet, der so hoch steht, daß er nicht einen anderen entdecken könnte, der wenigstens eine Stufe, oder einen nächsten, der nicht wiederum eine weitere Stufe höher steht? Und das tut er so lange, wie er vermeint, ein jeder Engel sei endlichen Wesens; aus solchem endlichen Vermeinen findet er immer wieder einen höherstehenden Engel. Und er würde solchermaßen unbegrenzt fortschreiten, wenn er nicht selber sich ein Maß auferlegte und auf einen unendlichen Geist schlösse, der jeden Engel, der ist und gedacht werden kann, nach zahllosen Graden übertrifft. Wer schreitet unbegrenzt voran? Wer erreicht das grenzenlose Ziel dieses Voranschreitens? Mit Sicherheit: Der Geist tut dies. Geist ist also unendliche Kraft, die auch darin zutage tritt, daß er nicht nur die unendliche Wirklichkeit findet, die Gott ist, sondern auch die unendliche Möglichkeit, die als Materie Gott unterworfen und bereit ist, unzählige Gestaltungen zu empfangen. Hier stoßen wir auf jene unendliche Wechselseitigkeit des Erzeugens, die sich durch unendliche Zeiten hindurch von der unendlichen Wirklichkeit bis in die unendliche Möglichkeit hinein erstrecken kann.

Daraus wird wiederum verständlich, daß der Geist die allgemeinen Verstandesgründe der Dinge erfaßt. In jedem beliebigen Allgemeinen, in jeder Art und in jeder Gattung ist Unzähliges enthalten. Der Geist versammelt zahllose Menschen in ihrer stetigen Aufeinanderfolge in dem Artbegriff >Mensch<, desgleichen unendlich viel einzelnes unter verschiedenen Rücksichten in einer einzigen Art, er sammelt viele Arten in eine Gattung, viele Gattungen in eine Wesenheit, die
eine Wesenheit schließlich in die göttliche Einheit, Wahrheit und Gutheit. Umgekehrt steigt er von dieser Schritt für Schritt in die unendliche Vielheit hinab. In der Tat eine wunderbare Kraft! Sie gibt unendlich Vieles an ein Eines zurück und dieses Eine wiederum an das unendlich Viele. Ganz sicherlich kommt dieser Kraft keine bestimmte Ordnungsstufe in der Natur zu, insofern sie selber alle Ordnungsstufen hinauf und hinunter durchpulst. Sie hat keine bestimmte Lage, insofern sie nirgendwo stehenbleibt. Ihre Vermöglichkeit ist keine bestimmte, sozusagen: keine begrenzte, insofern sie gleichmäßig auf alles einwirkt. Auch dies scheint mir, wenn ich es so sagen darf, die unbegrenzte Kraft des Geistes vor allem anderen zu beweisen: Sie entdeckt, daß es die Unendlichkeit selbst gibt, sie definiert, was und wie die Unendlichkeit ist. Da aber Erkenntnis zustande kommt durch eine Art Angleichung des Geistes an die erkannten Dinge, wird der Geist gewissermaßen der von ihm erkannten Unendlichkeit angeglichen. Unendlich muß sein, was sich dem Unendlichen angleicht. Wenn Zeit, in der Abfolge gemessen, eine unendliche Bewegung sein muß (sofern der Bewegungsablauf unendlich ist), um wieviel mehr muß der Geist unendlich sein, der nicht nur Zeit und Bewegung mit einem festen Begriff mißt, sondern sogar die Unendlichkeit selbst — weil notwendig zwischen Maß und Gemessenem eine Proportion besteht, ein Endliches aber zum Unendlichen in keinerlei Proportion stehen kann? Dasselbe wird auch daraus evident, daß der Geist von der Betrachtung des Nichtseins zum Sein übergeht und umgekehrt. Sein aber und Nichtsein klaffen in unermeßlichem Abstand auseinander. Was nun einen unermeßlichen Abstand durchläuft, muß selber von unermeßlicher Kraft sein. Wer aber wollte leugnen, daß der Geist einen solchen Abstand durchmißt, wenn wir Schöpfung — das Zum-Sein-Kommen aus dem Nichtsein — und Untergang — die Umkehrung dessen — mit ganz sicheren Gründen begreifen, die Natur beider Gegensätze beschreiben und so begreifen, daß dieser Natur die Macht eines gemeinsamen Seins innewohnt, eine Macht, die in zahllosen Weisen des Seins sich den Dingen mitteilt, die fortschreitend entstehen?

Um es also zusammenzufassen. Daß im Geist eine unendliche Kraft liegt, dafür kann uns zum Zeugnis dienen, daß Hunger, Durst und Schlafbedürfnis schnell und durch geringe Dinge befriedigt werden, während geistige Sehnsucht nie zu Sättigen ist, erstrecke sie sich nun auf Menschliches oder auf Göttliches. Wenn sie Menschliches begehrt — was bedeuteten Reichtümer in Fülle, was bedeutete Machtfülle? Könnten sie das Begehren stillen? Wenn sie Göttliches ersehnt — kein Wissen von Erschaffenem und Endlichem kann Erfüllung bringen! Folglich kommt der Geist niemals zur Ruhe, bevor er nicht den unendlichen Gott erfaßt, der die unendliche Vermöglichkeit des Geistes erfüllt, die von Gott selbst stammt. Wäre diese Vermöglichkeit endlich, dann könnte sie durch Endliches erfüllt werden — wenigstens wäre ihr Hunger gestillt. Beides erführe Linderung. Die Sehnsucht des Geistes wird aber durch das Erreichen irgendwelcher endlicher Dinge nicht nur nicht gesättigt, sondern nur um so heftiger entflammt, weil der Geist, je mehr er begreift, wie durch eine Art Vorbereitung dem unendlichen Gott immer näher kommt — und je näher, desto mehr entbrennt er in seiner Glut; er läuft um so ungestümer, desto näher er an das unendliche Ziel seines Laufes gelangt. So macht es auch das feurige Element, wenn es sich in seine eigene Sphäre zurückzieht. Genauso macht es, nur noch deutlicher, der Stein, wenn er aus der Höhe herabfällt: Je näher er der Erde kommt, desto stürmischer wird er zu ihr hingetragen.

Wer würde aber nun den Geist einen elementaren Körper nennen oder überhaupt etwas Körperliches, wo er doch ein unendliches Vermögen besitzt? Ein Vermögen, so möchte ich sagen, des Beharrens und Erfassens, des Umkreisens und Durchlaufens — sei es nun, daß er es aus sich selber schöpft, sei es, um es richtiger zu formulieren, daß es ihm kraft göttlicher Bereicherung zuströmt. Insofern sie nämlich absolut ist, flößt die Unendlichkeit Gottes den von ihr ganz innig abhängigen Geistern und Seelen eine geist-lebendige Unendlichkeit ein: Sie erhält sie ständig und ruft sie vom unendlichen Anfang an das unendliche Ziel zurück. Wenn nämlich überall von einer absoluten Qualität ähnliche und mitgeteilte Qualitäten auszuströmen pflegen, was nimmt es dann wunder, daß von der absoluten Unendlichkeit diese oder jene Unendlichkeit ausgeht? Die absolute Unendlichkeit ergießt sich aber vor allem in die Geister und Seelen, von denen die Platoniker glauben, daß durch ihre Vermittlung sich eine unendliche Abfolge der Zeit und der Erzeugung in der Welt vollzieht. Wer also wird so unverständig sein, anzunehmen, dem Geist sei in seiner Dauer eine Grenze gesetzt, da er eine solche Grenze doch weder in seinem so sehr erweiterten Vermögen noch im Vollzug seines Denkens hat — als könnte er außerhalb seiner selbst auf eine Grenze stoßen, die er nicht einmal in sich selber findet! Wenn das Leben, seinem Ursprung nach, der Vernunfteinsicht vorausgeht und die Vernunfteinsicht, ihrer Wenigkeit nach, das Leben übertrifft, und wenn die menschliche Seele mit so großer Würde gekrönt ist, daß ihr eine unendliche Kraft der Vernunft und des Willens zugestanden wurde — um so eher und um so mehr wird ihr eine unendliche Lebenskraft zugestanden sein müssen!«
critique établi et traduit par Raymond Marcel. 3 Bde. Paris: Société d’Edition »Les belles Lettres«, 1964-70. Buch III, Kap. 2: Bd. 1, S. 137—143; Buch XI, Kap. 2: Bd. 2, 5. 93—96; Buch VIII, Kap. 16: Bd. 1, 5. 328—332. Übers. von Stephan Otto.
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Herausgeber: Rüdiger Bubner Band 3, Renaissance und frühe Neuzeit. Herausgegeben von Stephan Otto
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9913, S.262-285
© 1984 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages