Francois
Fénelon (1651 – 1715)
>>>Gott
Von dem wahrhaftigen
Licht
Jesus Christus (Joh. 1,9)
ist das Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese
Welt kommen. Wie nur Eine Sonne ist, die alle Körper in der Welt
erleuchtet; so ist auch nur Ein Licht, das alle Geister erleuchtet.
Dieses Licht ist Jesus Christus, das ewige Wort Gottes. Er ist gekommen, mitten in uns zu leuchten, und wir sind nur insoweit wahrhaftig
aufgeklärt, als wir durch ihn aufgeklärt sind.
Alles andere Licht ist falsch; es ist ein blendender Schein,
und kein wahrhaftiges Licht.
Alle also, die sich weise dünken und es nicht durch die Weisheit Jesu
Christi sind, die sind blind und Blinde.
Sie laufen im Dunkeln eiteln Schatten nach. Sie fühlen, daß sie nicht
glücklich sind, und hoffen, es zu werden durch die Dinge, die sie gerade
elend machen.
Was sie nicht haben, das quält sie; was sie haben, kann sie nicht befriedigen. Ihre Leiden sind wahr; ihre Freuden sind kurz, eitel und
verderblich.
Sie kosten sie mehr, als sie ihnen einbringen; ihr ganzes Leben ist eine handgreifliche
und fortgehende Bewährung und Beweisung ihrer Verirrungen, aber sie lassen
sich nicht weisen.
Sie wissen und entscheiden, ihre falschen Maximen sind
ihnen Göttersprüche; und sie behandeln die Kinder Gottes, die
ihnen nicht folgen, als Toren.
Der Glaube scheint ihnen wie ein Traum, auch hierin Schlafenden gleich, die
sich einbilden, daß die da wachen und im Angesichte der Sonne leben und
weben, Leute sind, die träumen.
Die Sonne breitet ihr Strahlen über den ganzen Erdboden aus: Jesus
Christus breitet die großen Wahrheiten seines Evangelii aus über
die Dunkelheit und Nacht der Welt.
Das Evangelium wird überall gelesen und gepredigt. selbst am Hofe; aber
man begreift nichts davon. Die Weisheit wird Torheit genannt. Man schläft, man schläfert, man bringt sein ganzes Leben in einem
unruhigen Traum zu und will doch für wachend gehalten werden. Man glaubt
zu hören, man glaubt zu sehen, man glaubt in der Hand zu haben; aber alles
ist falsch; alles wird verschwinden an dem großen
Morgen der Ewigkeit, da das Licht Jesu Christi, das so lange verkannt
worden, plötzlich hervorbrechen und den erschrockenen Menschen, die sich
des nicht versehen hatten, in die Augen strahlen wird. Die ganze Welt wird wie
ein Rauch zerrinnen; alle Größen und ihr Gepränge werden dahin
sein wie ein Morgentraum: Alle Höhe wird geebnet, alle Gewalt vernichtet
und aller Stolz gebeuget werden unter der Gewalt der ewigen Majestät. An
dem Tage wird Gott allein groß sein; Gott wird alles, was in der gegenwärtigen
Nacht glänzet, mit einem einzigen Blick auslöschen, wie die Sonne,
wenn sie aufgehet, die Sterne auslöschet.
Man wird nichts sehen als Gott, so über alles wird
er groß sein; man wird umsonst suchen und nichts finden als ihn,
so sehr wird Jesus Christus alles erfüllen.
Was sind sie geworden, wird man sagen, jene Gegenstände, die unser Herz
bezaubert hatten? Ist noch etwas übrig von ihnen? Wo war ihre Stätte?
Ach, es ist auch keine Spur der Stätte mehr zu finden, wo sie gewesen sind.
Sie sind vergangen, wie ein Schatten, den die Sonne zerstreuet: man kann kaum
mit Wahrheit sagen, daß sie gewesen sind; so wahr ist es, daß sie
nur ein Schein gewesen und nicht mehr sind.
O Welt, die du so zerbrechlich und so blödsinnig bist, kannst du etwas
sein und uns des bereden wollen? Mit welcher Stirne hoffest du, uns deine nichtige
und hohle Gestalt, die vorübergehend ist und bald nicht mehr sein wird,
für etwas auszugeben?
Du bist nur ein Traum, und du willst, daß man dir glaube und vertraue?
Man fühlt, selbst wenn man dich besitzt, daß du nichts Wahres bist,
das unser Herz füllen könnte.
Schämst du dich nicht, den glänzenden Nichtswürdigkeiten,
dadurch du blendest, prächtige Namen beizulegen? Selbst indem du
uns lächelst, machst du uns Weh und Schmerz. Noch ein Augenblick und alles
ist verschwunden; und du versprichst, uns glücklich zu machen? Der
allein ist glücklich, der in dem Lichte Jesu Christi sein Nichts erkennet.
S.92ff.
Aus: Francois Fénelon. Allgemeine Anleitung um den innerlichen Frieden
zu bewahren. Eine Auswahl aus Fénelons Werken religiösen Inhalts.
Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius.
R. Brockhaus Verlag Wuppertal